[Eine Geschichte…] Elke Heidenreich – LESEN

Ich steige ins Taxi, der Fahrer liest in einem Buch. Ich sage ihm, wohin ich möchte, er seufzt, fährt los, das Buch offen auf dem Schoß. Die Ampel ist rot, er liest weiter. Die Ampel wird grün, er liest, bis es hinter ihm hupt, dann fährt er los, in aller Ruhe. Das wiederholt sich an jeder Ampel.

Ich finde das sehr komisch, irgendwie auch sehr schön, und als ich ausgestiegen bin, ärgere ich mich, das ich ihn nicht gefragt habe, was er da liest.

Elke Heidenreich

[Eine Geschichte…] Iris Macke – GRUSS AN BORD

Es ist kalt und dunkel. Der Hamburger Hafen ist unwirtlich an diesem frühen Adventsnachmittag. Aus den großen Fenstern der Seemannsmission scheint es hell. Ihr großer Saal ist voller Menschen. Sie sind zur Aufzeichnung der Radiosendung „Gruß an Bord“ gekommen. Einer von ihnen ist Konrad Nee. Sorgsam hat er sich die Worte zurechtgelegt, mit denen er seinen Sohn Christoph grüßen will. Christoph ist Offiziersassistent auf einem Tanker und gerade irgendwo vor Finnland auf der Ostsee. Als Konrad Nee sich vor dem Mikrofon kurz räuspert, werden alle still. „Lieber Christoph! Wir vermissen dich. Deine Brüder genauso wie Mama und ich. Komm uns bloß heile wieder!“ Hören wird Christoph diesen Gruß erst am Heiligabend. Denn dann sendet der Norddeutsche Rundfunk den „Gruß an Bord“ per Radio, Kurzwelle und Internet auf die Weltmeere.

Seit 68 Jahren gibt es diese Sendung. Denn auch in Zeiten moderner Kommunikation ist Radio nicht nur technisch zuverlässiger als ein Kontakt per Handy oder Tablet. Viele hören den „Gruß an Bord“ auch, weil Liebe dort spürbar wird. Annette und Klaus Kuhn sind extra aus Bayern angereist. Sie haben Päckchen gepackt für ausländische Seeleute, die Weihnachten ohne Familie im Hamburger Hafen verbringen müssen. Und sie grüßen per Mikrofon schon jetzt ihren Sohn David, der Heiligabend kurz vor Australien sein wird.

Troy kommt von einer kleinen Insel aus dem Südpazifik. Eigentlich wollte er an diesem Nachmittag nur die gastliche Seemannsmission besuchen. Aber so nutzt er die Gelegenheit und wünscht ganz spontan allen Hörern in seiner Heimatsprache frohe Weihnachten. Tatjana Domin hingegen ist vorbereitet: „Darf ich meinen Spickzettel benutzen?“, fragt sie den Moderator. Der lächelt ihr aufmunternd zu: „Klar!“ Tatjana will ihren Freund Philipp grüßen. Der 2. Offizier ist seit Wochen auf der „Glasgow Express“ unterwegs, zu Weihnachten wird er auf dem Atlantischen Ozean sein. „Hallo, mein Heizbärmann. Hier ist Taddi. Ich freue mich so sehr, dich Mitte Januar wieder in die Arme zu nehmen. Und hier kommt unser Insider: Liebe ist stärker als der Ozean.“

Iris Macke

[Eine Geschichte…] Unbekannt – ERSTE HILFE

Ein kleiner Junge kam später nach Hause, als die Mutter erwartet hatte. Als sie nach dem Grund der Verspätung fragte, antwortete das Kind:

„Ich habe Julia geholfen. Ihre Puppe ist kaputt gegangen.“

„Hast du geholfen sie zu reparieren?“, fragte die Mutter.

„Nein“, antwortete das Kind, „Ich habe ihr geholfen zu weinen.“

Unbekannt

aus: Hoppla! Neue Geschichten für andere Zeiten/ herausgegeben von Andere Zeiten e.V./ mit Illustrationen von Elsa Klever

[Eine Geschichte…] Luise Rinser – VORSORGE

Einer meiner Bekannten malt sich alle schlimmen Ereignisse, die ihm vielleicht zustoßen könnten, im Voraus genauestens aus, dann legt er sich zurecht, wie er sich in jeder Situation zu verhalten habe: bei einem Überfall, einer Feuersbrunst im Zug, einer Pleite im Geschäft, einer Verleumdung. Dadurch hat er tatsächlich eine Art Krisenfestigkeit erlangt. Er fühlt sich als ein Mann, der gegen alle möglichen Krankheiten geimpft und gegen alles Unglück versichert ist. Aber ist er deshalb glücklich und ruhig? Keineswegs! Denn er ist nur immerzu darauf bedacht, mögliche Bedrohungen sofort als solche zu erkennen.

Ich kenne ein weit besseres Hilfsmittel. Es ist im Grunde dasselbe, das ein Kind anwendet, wenn man es in den dunklen Keller schickt: Es singt laut. Damit zeigt es dem Unbekannten, dass es ihm etwas entgegenzusetzten hat: den Mut. Und Mut ist eine Form des Vertrauens. Nicht in die eigene Kraft, sondern in etwas, das uns beschützt.

Luise Rinser

[Eine Geschichte…] Doris Bewernitz – POST FÜR HERRN ULLRICH

„Post für mich?“, fragt er durch die Luke. Nur wer ihn besser kennt, sieht die Anspannung in seinem Gesicht, die zusammengekniffenen Augen, das leichte Zittern der Lippen. Sein weißes Haar ist noch ungekämmt. Er geht immer nach dem Aufstehen gleich fragen. Aus dem abgetragenen Bademantel mit den verblichenen blauen Streifen schauen dünne Beine heraus, die Haut wie Pergament.
„Warten Sie“, ruft Susanne. „Ich sehe gleich nach, Herr Ullrich!“ Sie geht zu den Postfächern und schaut. „Heute nicht, Herr Ullrich.“ Würdest du danebenstehen und dieses „Heute nicht“ hören, du dächtest sofort, Herr Ullrich bekommt sonst jeden Tag Post. Aber dem ist nicht so. Herr Ullrich bekommt nie Post. Seit vierzehn Jahren wohnt er hier im Pflegeheim und seitdem hatte er noch keine Post.

Aber jeden Tag geht er zur Luke und fragt. Und dafür, wie Susanne das „Heute“ von „Heute nicht“ ausspricht, dafür hat er sie so gern.

Doris Bewernitz

[Eine Geschichte…] Unbekannt – DURCHBLICK

Ein junges Ehepaar zieht in eine neue Nachbarschaft. Beim Frühstück am nächsten Morgen sieht die junge Frau ihre Nachbarin draußen beim Aufhängen der Wäsche. „Diese Wäsche ist nicht besonders sauber“, sagt sie. „Sie weiß nicht, wie man richtig wäscht. Vielleicht braucht sie auch ein besseres Waschmittel.“ Ihr Mann sieht hin, bleibt aber still.

Jedes Mal, wenn ihre Nachbarin die Wäsche zum Trocknen aufhängt, macht die junge Frau die gleiche Bemerkung.

Ungefähr einen Monat später sieht sie plötzlich im Nachbargarten schöne saubere Wäsche an der Leine hängen. Freudig überrascht sagt sie zu ihrem Mann: „Guck mal, endlich hat sie gelernt, wie man richtig wäscht! Ich frage mich, wer ihr das beigebracht hat.“ Darauf entgegnet ihr Mann trocken: „Heute Morgen bin ich früh aufgestanden und habe unsere Fenster geputzt.“

Unbekannt

[Eine Geschichte…] Unbekannt – LEGENDÄRE WORTE

Eines Tages spazierte das Ehepaar Churchill durch Londons vornehmste Wohngegend. Die vorbeischlendernden Passanten grüßten und wechselten ein paar Worte mit dem Premierminister. Ein Straßenfeger hingegen grüßte vornehmlich Mrs. Churchill, die stehenblieb und sich für eine Weile mit ihm sehr vertraulich unterhielt.

Als sie weitergingen fragte Mr. Churchill seine Gattin, was sie so lange mit diesem ihm unbekannten Straßenfeger zu besprechen gehabt hätte. Mrs. Churchill lächelte verschmitzt und sagte „Ach, ich kenne ihn von früher. Er war vor langer Zeit einmal in mich verliebt.“ Mr. Churchill schmunzelte und meinte „Siehst du, hättest du ihn geheiratet, dann wärst du heute die Frau eines Straßenfegers“.

Mrs. Churchill warf ihrem Mann einen verwunderten Blick zu und sagte die legendären Worte: „Aber nicht doch, Darling, wenn ich ihn geheiratet hätte, dann wäre ich heute trotzdem die Frau eines Premierministers!“.

Unbekannt

[Eine Geschichte…] Frank Hofmann – ES LEUCHTET NOCH IMMER

Wir haben ein Ritual, meine Tochter und ich. Wenn wir im Winter an die Nordsee fahren, stellen wir uns abends auf den Deich und bewundern den Sternenhimmel, den wir im üppig beleuchteten Hamburg so selten sehen. Das letzte Mal überraschte sie mich mit einer nahe liegenden, aber schweren Frage: „Papa, was ist der am weitesten entfernte Stern, den wir hier mit bloßem Auge sehen können?“ Ich musste passen, schlug nach – und erfuhr: Mit menschlichem Auge gerade noch zu erkennen ist die Sonne „Chi Aurigae“. Sie ist über 2000 Lichtjahre von uns entfernt. Wenn wir Chi Aurigae sehen, schauen wir also auf ein Licht, das vor über 2000 Jahren ausgesandt wurde. Und würde man von diesem Stern auf unsere Erde blicken, konnte man sie zur Zeit Jesu sehen.

Oft scheint der Himmel in der Nacht einfach nur dunkel zu sein. Aber all die Lichtinformationen, die damals ausgesandt wurden, sind im Weltraum unterwegs. Das Licht von Bethlehem, es leuchtet noch immer.

Frank Hofmann

[Eine Geschichte…] Iris Macke – HINGEHÖRT

Advent ist nicht wie Rückenschwimmen: eintauchen und die Geräusche des Alltags ausblenden. Natürlich werde ich in den kommenden Wochen dieselben Klänge hören wie auch sonst im Jahr.

Wochentags klappt um viertel nach sechs die Autotür unseres Nachbarn. Das Rasseln sich reibender Legosteine verrät: Unser Großer hat die Kiste ausgekippt, wir müssen zusammen aufräumen. Mein Mann hämmert auf seiner Computertastatur. Die Summe der Klänge macht mein Leben unverwechselbar. Gegen Geräusche kann ich mich nicht wehren, ich kann die Ohren nicht wie die Augen schließen.

Aber ich kann auf die Klänge hören, die mein Leben im Advent anders machen. Walnussknacken gehört für mich dazu. Der Stern aus Glas, den ich jetzt wieder vor das Fenster hänge und der im Luftzug leise klirrt. Nur in diesen Wochen entzünde ich so viele Kerzen – und genieße das satte Reißen des Streichholzes an seiner Schachtel. Advent klingt anders. Und wenn ich hinhöre, hat er seine ganz eigene Symphonie.

Iris Macke

[Eine Geschichte…] Franz Kafka – KLEINE FABEL

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte. Ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah. Aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

Franz Kafka