[Noch ein Gedicht…] Joachim Ringelnatz – PFINGSTBESTELLUNG
Ein Pfingstgedichtchen will heraus
Ins Freie, ins Kühne.
So treibt es mich aus meinem Haus
Ins Neue, ins Grüne.
Wenn sich der Himmel grau bezieht,
Mich stört’s nicht im geringsten.
Wer meine weiße Hose sieht,
Der merkt doch: Es ist Pfingsten.
Nun hab ich ein Gedicht gedrückt,
Wie Hühner Eier legen,
Und gehe festlich und geschmückt –
Pfingstochse meinetwegen –
Dem Honorar entgegen.
Joachim Ringelnatz
🌿 Ich wünsche Euch von Herzen frohe PFINGSTEN! 🌿
[Rezension] Fulvio Tomizza – Die Flöhe in der Oper/ mit Illustrationen von Axel Scheffler
Mit dem Besuch einer Oper in meinem Stamm-Theater war am vergangenen Sonntag die Abo-Saison 2022/2023 für mich beendet. Nur wenige Vorstellungen stehen noch auf dem Spielplan, bei vielen Inszenierungen taucht der Hinweis „zum letzten Mal“ auf, und bei mir macht sich ein wenig der Trennungsschmerz bemerkbar. Natürlich leide ich da auf sehr hohem Niveau: Schließlich startet mein Stamm-Theater im September mit der Oper „Tosca“ von Giacomo Puccini fulminant in die neue Spielzeit, und ich wünsche ihm bzw. jedem Theater viele, viele ausverkaufte Vorstellungen. In der noch aktuellen Spielzeit blieben leider so manche Plätze leer (An der Qualität der Inszenierungen kann es nicht gelegen haben, wie ich mich persönlich überzeugen durfte.).
Natürlich stellte ich mir die Frage, woran es liegen könnte. Stirbt da etwa so langsam eine Publikumsgeneration weg, wobei die nächste Generation noch nicht nachgewachsen ist? Scheuen die jungen Menschen den Besuch eines Theaters, weil sie der irrigen Meinung sind, dass die Oper eine veraltete Kunstform ist? Oder gibt es da Berührungs- bzw. Schwellenängste aus Unsicherheit, sich im holden Musentempel evt. daneben zu benehmen? Je früher der Nachwuchs an das Theater herangeführt wird, umso besser: Eine Berührungs- bzw. Schwellenangst entsteht dann erst gar nicht. Zudem gibt es da einige ganz wunderbare Kinder- und Jugendbücher, die dabei unterstützen können, Unsicherheiten zu vermeiden.
Im Hotel „Zur Oper“ lebt der Familien-Clan der Floh-Familie von Hupf auf dem Dachboden. Unter der Führung des weisen Familienoberhaupts Opa Hinkefuß lässt es sich die gesamte Sippe nicht nehmen, Abend für Abend die Vorstellungen im großen Opernhaus zu besuchen, das direkt gegenüber dem Hotel liegt. Opa Hinkefuß hat seinen Clan instruiert: In der Oper wird kein Quatsch gemacht, und die Zuschauer nicht angesprungen. Es wird nur geschaut, gegessen wird woanders! So werden die Vorstellungen von den Flöhen mit fachkundigem Blick beäugt. Besonders das kleine Flohmädchen Saltellina ist von der bunten Bühnenwelt so fasziniert, dass sie so nah wie möglich am Geschehen sein muss, am liebsten direkt auf dem Souffleurkasten. Ihre Cousins und Cousinen wollen da natürlich nicht zurückstehen und wagen sich noch weiter auf die Bühne. Einige springen sogar der Primmadonna direkt ins Dekolleté, und als der Tenor die Phrase schmettert „Einen Floh hat man mir ins Ohr gesetzt.“, kratzt er sich vehement genau am besungenen Körperteil. Die Sänger*innen können einfach nicht anders, müssen sich dauernd kratzen und lösen damit beim Publikum einen wahren Gelächter-Orkan aus. Opa Hinkefuß ist darüber „not amused“…!
Fulvio Tomizza hat mit „Die Flöhe in der Oper“ eine charmante, niedliche und gänzlich unaufgeregte Geschichte für die Kleinen geschrieben. Dabei lässt er die eine oder andere Verhaltensregel (wenn ich dies so nennen darf) äußerst dezent in die Handlung einfließen. Im Vordergrund steht bei ihm aber, das Interesse der Kids an der Oper zu wecken und deren Neugierde so stark zu schüren, dass sie bestenfalls das Gelesene auch gerne „live“ auf der Bühne erleben möchten. Als Anhang präsentiert er ebenso kindgerecht viele, viele Fakten u.a. zum Opernhaus, zum Orchester sowie zu den Werken und ihren Schöpfern.
Axel Scheffler ist als Illustrator – dank „Der Grüffelo“ – sicherlich vielen ein Begriff. Auch hier zauberte er wieder humorvolle Bilder, in denen er die Kunstform „Oper“ liebevoll auf den Arm nimmt, indem er ironisch mit gängigen Klischees spielt.
Ich freue mich immer, wenn ich Bücher entdecke, die schon den Kids die Magie des Theaters näher bringen und zeigen, dass die Oper eine Kunstform für jede und jedem ist, und seien sie noch so klein…! 😉
erschienen bei Jacoby & Stuart / ISBN: 978-3946593720 / in der Übersetzung von Edmund Jacoby
[Oper] Missi Mazzoli – BREAKING THE WAVES (DEA) / Stadttheater Bremerhaven
Oper von Missy Mazzoli / Libretto von Royce Vavrek / nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier / Deutsche Erstaufführung / in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus
Ich saß im Theater, schaute auf die Bühne, und Tränen rannen über meine Wangen…!
Die naive und psychisch labile Bess verliebt sich in den Offshore-Ölrigger Jan und heiratet ihn entgegen der Zweifel der Ältesten ihrer tiefreligiösen calvinistischen Gemeinde. Als Jan nach einer kurzen doch glücklichen gemeinsamen Zeit wieder zur Bohrinsel zurückkehren muss, betrauert Bess die Trennung so sehr, dass sich ihre psychischen Probleme wieder manifestieren, die sie bisher mit Medikamenten gut kontrollieren konnte. In dieser Situation ist ihr ihre strenge Mutter keine Unterstützung, die der Meinung ist, dass jeder noch so harte Schicksalsschlag stoisch ertragen werden muss. Hilfe erfährt sie von ihrer Schwägerin Dodo, der Frau ihres verstorbenen Bruders, die sich immer wieder schützend zu ihr stellt. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass Bess zunehmend schizophrene Züge zeigt: So ist sie immer wieder im Zwiegespräch mit Gott und bittet diesen, ihren Mann wieder zu ihr nach Hause zu bringen. Kurz darauf erleidet Jan auf der Bohrinsel einen fast tödlichen Unfall und wird ins Krankenhaus auf dem Festland gebracht. Als Bess erfährt, dass der Unfall Jan fast vollständig gelähmt hat, glaubt sie, dass es ihre Schuld sei. Schließlich hat sie Gott inständig gebeten, Jan zu ihr nach Hause zu bringen. Jan weiß, dass Bess niemals ihr Ehegelübde brechen würde, glaubt aber, dass er sie daraus befreien muss, damit sie ein erfülltes Leben führen kann. Er ermutigt sie, Liebhaber zu finden und ihm davon zu erzählen, damit er sich einreden kann, sie beide würden Liebe machen. Doch Bess weigert sich, dem ungeheuerlichen Wunsch ihres Mannes Folge zu leisten. Als Jan versucht, sich durch eine Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, ist sie sich sicher, dass sie ihm gehorchen muss. Scheiternde Versuche, Dr. Richardson, den behandelnden Arzt ihres Mannes zu verführen, und halbherzige sexuelle Begegnungen mit Fremden gehen mit einer Verschlechterung von Jans Gesundheit einher. Als Bess einen Mann findet und Sex mit ihm hat, stabilisiert sich überraschend Jans Gesundheit, worauf Bess weitere Sex-Bekanntschaften sucht. Doch ihr Ruf holt sie ein: Ihre Mutter verachtet sie, und die Kirchenältesten verstoßen sie aus der Gemeinschaft. Bess versteht nicht warum, da sie doch dem Willen ihres Mannes folgt und seine Genesung direkt proportional zu ihren außerehelichen Aktivitäten voranschreitet. Dodo versucht ihr begreiflich zu machen, dass Jan diesen Wunsch im Fieberwahn geäußert hat. Doch Bess lässt sich nicht aufhalten: Eines Nachts wird sie von Matrosen brutal vergewaltigt und sadistisch misshandelt. Mit letzter Kraft schleppt sie sich zu Dodo und stirbt, als Jan von seiner Operation aufwacht, und sich sein Gesundheitszustand dramatisch verbessert. Die Kirchenältesten stimmen zu, dass Bess zwar ein calvinistisches Begräbnis erhält, bestehen aber darauf, dass sie als Sünderin begraben und ihre Seele der Hölle übergeben wird. Jan, der sich vollständig erholt hat, stiehlt mit Hilfe seines besten Freundes Terry die Leiche, bevor sie beigesetzt wird. Als er ihre Überreste dem Ozean übergibt, erklingen die Glocken Gottes…!
Regisseur Toni Burkhardt kreierte eine schlüssige Inszenierung, bei der die Dramatik sich Szene für Szene logisch zwingend steigerte. Dabei fühlte er sich – trotz aller Symbolik – dem Realismus verpflichtet: So standen die Beweggründe der Protagonist*innen mit all ihren vielfältigen Emotionen im Vordergrund. Er forderte von den Sänger*innen viel und ließ sie in drastischen Bilder agieren, die manchmal für das Publikum kaum zu ertragen waren. Die erdrückende Stimmung innerhalb einer Gemeinschaft, die dogmatisch an ihren Normen festhält, sorgte auf der Bühne für eine (An-)Spannung, die bis in den Zuschauersaal spürbar war.
Bühnenbildner Wolfgang kurima Rauschning schuf eine durchlässige Metallkonstruktion, die je nach Stellung der Drehbühne unterschiedliche Perspektiven bzw. Spielräume offenbarte. Zusammen mit den stimmigen Projektionen wandelte sich so das Bühnenbild von der Ölplattform über das Krankenhaus zur Kirche, bei der drei überdimensionale Kreuze dominierten. Ein großer, anfangs noch schneeweißer Kuschelbär, dessen Fell mit fortschreitender Handlung dunkler und dunkler wurde, als wäre er dem Feuer zu nah gekommen, stand sinnbildlich für die ursprünglich reine Seele von Bess, die nach und nach zu Asche verbrannte. Auch die Kostüme von Adriana Mortelliti verweigerten sich in ihrem miefigen 70er Jahre-Look jeglichem Glamour und unterstützten vielmehr den Realismus-Gedanken des Regisseurs.
Davide Perniceni webte mit dem kammermusikalisch besetzten Philharmonischen Orchester Bremerhaven einen emotionalen Klangteppich zwischen aufbrausenden Instrumental-Sound, musikalischem Minimalismus und Industrieklänge. Mizzy Mazollis Komposition passen nicht in das gewohnte Opern-Schema: Es gibt keine klassische Ouvertüre, Arien oder Duette. Wie beim Underscoring eines Films unterstützt die Musik das auf der Bühne Gezeigte und spiegelt so äußerst individuell die Gefühlswelten der Protagonist*innen wieder. Dazu kamen große Bleche ebenso zum Einsatz, wie Metallspiralen zum Klingen gebracht wurden.
Auf dem ersten Blick scheinen die Männer die Bühne zu dominieren. Da gab es den vom Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández exzellent disponierten Männerchor, aus dem einige Herren auch solistisch überzeugten, sei es James Bobby als verbissener Kirchenoberhaupt über Patrick Ruyters als sadistischer Matrosen bis zu MacKenzie Gallinger, der die ersten beiden „Freier“ von Bess mimte. Andrew Irwin zeichnete Dr. Richardson als einen mitfühlenden Charakter mit einer noblen, beinah schüchternen Zurückhaltung. Ulrich Burdack sorgte als Terry für die wenigen humorigen Momente des Abends, wenn er als Jans loyaler Freund positive Stimmung verbreitete und diesen am Krankenbett mit Bier versorgte. Marcin Hutek als Jan gelang die überzeugende Wandlung vom kraftstrotzenden jungen Kerl über den siechenden Kranken bis zum trauernden aber gereiften Mann.
Obwohl die Männer auf der Bühne in der Überzahl waren, bedurfte es nur drei herausragende Künstlerinnen, um die „Herren der Schöpfung“ in den Schatten zu stellen:
Signe Heiberg gab die Mutter mit einer beängstigenden Intensität. Diese Frau hatte alle Empfindungen tief in sich verschlossene, und doch zeigte Heiberg nur mit einem Blick oder mit einem Zucken im Gesicht, dass mächtige Emotionen unter der verhärteten Fassade tobten. Ihre Annäherungsversuche am Schluss an Tochter und Schwiegertochter wirkten beinah unbeholfen linkisch, da sie verlernt hatte, Empathie auszudrücken und weckten darum umso mehr mein Mitgefühl. Auch gesanglich variierte Heiberg ihren Sopran zwischen einem unterdrückten „piano“ und einem ausbrechenden „fortissimo forte“.
Brava,…
Boshana Milkov porträtierte Dodo als eine warmherzige und mitfühlende Frau. Zart ließ sie anklingen, dass ihre Gefühle zu Bess durchaus über denen einer Schwägerin hinausgingen. Doch niemals würde sie diese feine Grenze überschreiten, um das gemeinsame emotionale Band nicht zu zerreißen. Dabei war sie die unterstützende, haltgebende Schulter, die weder die Mutter noch Jan für Bess sein konnten, und bot sogar den Kirchenältesten mutig die Stirn. Milkovs reicher Mezzo erklang hierbei weniger protzend als vielmehr warm-umfangend.
…brava,…
Victoria Kunze schlüpfte nicht in diese Rolle, sie stürzte sich regelrecht hinein – gesanglich, darstellerisch, emotional,…! Ihre Bess taumelte zwischen Freude und Verzweiflung, zwischen Resignation und Hoffnung, war präsent und verlor sich selbst zunehmend und war dabei beängstigend nah am Wahnsinn. Gesanglich changierte sie zwischen kehlig-rauen Tönen bei den Gesprächen mit Gott bis zu den klirrenden Höhen voller Emotionalität. Hätte Victoria Kunze nicht schon im letzten Jahr den Herzlieb-Kohut-Preis erhalten, nach dieser fulminanten Leitung wäre er ihr sicher gewesen.
…bravissima!
Ich schaute auf die Bühne – eine verzweifelte Dodo schließt die sterbende Bess in ihre Arme, neben ihnen die hilflose Mutter – und Tränen rannen über meine Wangen…!
Es war wahrlich kein lustiger Opernabend: Ich verließ emotional aufgewühlt und tief bewegt das Theater. Doch ich war froh, dass ich dieser äußerst gelungenen deutschen Erstaufführung beiwohnen durfte. Das Stadttheater Bremerhaven hat abermals seinen Ruf als eine Bühne gefestigt, die abseits der großen Metropolen künstlerisch hochrangiges Theater auf die Bretter bringt. Vielen Dank!
Es gibt leider nur noch eine Vorstellung von BREAKING THE WAVES, und dann verabschiedet sich diese außergewöhnliche Oper schon wieder vom Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven.
[Rezension] Nicholas Blake – Tod im Wunderland
Strahlender Sonnenschein, blaues Meer, nette Zerstreuungen mit sympathischen Menschen: Die Ferienkolonie „Wunderland“ verspricht ihren Gästen die perfekte Urlaubsidylle. Doch leider wird der Friede jäh gestört als ein Unbekannter, der sich selbst als „Der verrückte Hutmacher“ bezeichnet, seinen Schabernack mit den Gästen treibt. Was anfangs mit kleineren, eher harmlosen Sabotageakten beginnt, gipfelt in der Vergiftung eines Hundes. Der Manager Captain Wise fürchtet um den guten Ruf der Kolonie und bittet den jungen Forscher Paul Perry um diskrete Mithilfe: Perry soll im Rahmen einer Feldforschung für seine Studien die Gäste befragen, um aus deren Antworten auf die Identität des Übeltäters schließen zu können. Dumm nur, dass Perry zunehmend Zweifel an seinen eigenen Geisteszustand hegt und so befürchten muss, dass er selbst der Übeltäter ist. Als die „Streiche“ des verrückten Hutmachers zunehmend aggressiver werden, mischt sich James Thistlethwaite, der mit Gattin und Tochter ebenfalls als Gast im Wunderland weilt, in die Untersuchungen ein und fordert von Captain Wise, dass dieser, wenn schon nicht die Polizei, zumindest professionellere Hilfe in Anspruch nimmt, als Paul Perry zu leisten imstande ist. Als renommierter Herrenschneider kennt er die halbe Welt. Zufällig zählt zu seinen treuen Kunden auch der brillante Privatermittler Nigel Strangeways, der, sofern er nicht anderweitig beschäftigt wäre, sicherlich anreisen und eine unermessliche Hilfe bei der Enttarnung des verrückten Hutmachers sein würde. Doch als Nigel Strangeways im Wunderland eintrifft und die Ermittlungen aufnimmt, spitzen sich die Ereignisse unaufhaltsam zu…!
Mit „Tod im Wunderland“ erweitert der Klett-Cotta-Verlag seine Reihe an Wiederveröffentlichungen klassisch-britischer Kriminalromane um den dritten Fall rund um den gewieften Privatermittler Nigel Strangeways aus der Feder von Nicholas Blake (Pseudonym für Cecil Day-Lewis). Und wie schon bei den beiden Vorgängern Das Geheimnis von Dower House und Das Geheimnis des Schneemanns erfreute mich dieses Werk mit einer Fülle an prallen Charakteren, flüssigen Dialogen und einer scheinbar verworrenen Handlung mit überraschenden Wendungen.
Zudem scheut der Autor sich nicht, seinen Helden eher verspätet in die Handlung einzuführen. Vielmehr gönnt er sich die nötige Zeit, um die Atmosphäre in der besagten Ferienkolonie und die Stimmungsschwankungen unter den Gästen bei zunehmender Panik sehr detailliert zu schildern. Er schafft mit dem Setting der Ferienkolonie die Grundlage, um recht unterschiedliche Personen glaubhaft aufeinanderprallen zu lassen. Diese Personen, die aus verschiedenen Milieus stammen, reisen aus unterschiedlichen Richtungen an, verbringen ihre Urlaubswochen gemeinsam, reisen danach in unterschiedlichen Richtungen wieder ab und sehen sich womöglich nie wieder. Nur hier in der Ferienkolonie „Wunderland“ entsteht dieses Konglomerat aus vielfältigen Charakteren innerhalb eines ihnen unüblichen Rahmens. Zwischenmenschliche Reibungspunkte sind da unvermeidbar und sorgen für zusätzliche Spannung in der Handlung.
Apropos: Der Autor gliedert die Handlung in drei (ungleiche) Teile: Im 1. Teil überlässt er Paul Perry das Ruder und lässt uns an seinen Gedanken teilhaben. Im 2. Teil greift nun James Thistlethwaite ins Geschehen ein und rollt sozusagen den roten Teppich für den Ermittler aus. Erst in Teil 3 sind wir gänzlich bei unserem Helden. Dieser Teil ist verständlicherweise der kürzeste Teil dieser Trilogie, da alle nötigen Informationen zur Lösung des Falles in den ersten beiden Teilen zu finden sind.
Auch bei Nicholas Blake darf der Detektiv die Lösung des Falls vor großem Publikum kundtun: Privatermittler Nigel Strangeways lässt es sich am Ende nicht nehmen, die möglichen Verdächtigen zu versammeln, um die wahren Täter dann bei einer außergewöhnlichen Teeparty zu entlarven.
Doch mit dieser effektvollen Art, den Fall aufzulösen und somit zu beenden, ist er durchaus in bester literarischer Gesellschaft. 🧐
erschienen bei Klett-Cotta / ISBN: 978-3608986945 / in der Übersetzung von Elina Baumbach
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!
Apho·ri·si·a·kum…
Was ist Liebe?
Das ist doch ganz einfach!
Liebe ist alles, was unser Leben
steigert, erweitert, bereichert.
Nach allen Höhen und Tiefen.
Die Liebe ist so
unproblematisch wie ein Fahrzeug.
Problematisch sind nur Lenker,
die Fahrgäste und die Straße.
Franz Kafka
💞
🌈 Heute ist der INTERNATIONALE TAG gegen HOMOPHOBIE! 🌈
[Rezension] Peter Swanson – Neun Leben
Da gibt es neun Menschen von unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Berufen und in unterschiedlichen Staaten der USA lebend. Scheinbar sind sie sich noch nie begegnet und haben nichts miteinander gemein, außer dass ihre Namen auf einer Liste stehen. Neun Namen zu neun Leben: Jede*r dieser neun Menschen erhält die besagte Liste zugeschickt und reagiert darauf sehr unterschiedlich: ratlos, amüsiert, gleichgültig, verängstigt. Doch dann wird Frank Hopkins, ein harmloser älterer Herr, der ein Urlaubsresort in Maine betreibt, ermordet aufgefunden. Sein Name war ebenso auf der mysteriösen Liste vermerkt, wie der von FBI-Agentin Jessica Winslow, die nun verzweifelt versucht, die Personen hinter den Namen ausfindig zu machen, in der Hoffnung, so Rückschlüsse auf den Täter ziehen zu können. Es wird ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der Mörder bleibt nicht untätig. Schließlich weiß er als Einziger sehr genau, wo seine Opfer zu finden sind…!
Autor Peter Swanson greift in das Füllhorn der Kriminalliteratur, wählt die gewohnten Ingredienzien aus den Klassikern dieser Zunft und klöppelt aus ihnen einen kurzweiligen, gut zu lesenden Krimi. Dabei zitiert er hemmungslos eines der bekanntesten Werke aus der Feder von Agatha Christie Und dann gab’s keines mehr. Diesen offensichtlichen „Plagiat“ verzeihe ich ihm nur allzu gerne, denn es wird im Text offen auf diesen Roman angespielt.
In kurzen Episoden gibt Swanson seiner Leserschaft einen schlaglichtartigen Einblick in die Charaktere der Personen, die sich hinter den Namen auf der Liste verbergen. Er springt in kurzen Episoden von einem Leben zu einem anderen Leben, die alle recht unaufgeregt vergehen. Alles wirkt irgendwie banal alltäglich und darum nur allzu menschlich. Spannung schöpft der Autor aus der ständig präsenten und über alle schwebende Gefahr, da niemand weiß, wann der Mörder wieder zuschlagen wird. Umso überraschter reagierte ich, wenn plötzlich für mich absolut unvermittelt und somit nicht vorhersehbar ein Mord geschah. Dann starrte ich völlig ungläubig auf die gerade zuvor gelesenen Sätze und musste diese durchaus ein zweites Mal lesen, um das Unfassbare begreifen zu können. Ich erwartete es und war dann doch verblüfft, wenn es passierte. Großartig!
Dank dieser überschaubaren Episoden bzw. Kapitel liest sich der Roman flott „weg“. Zudem werden die Figuren äußerst abwechslungsreich geschildert und überzeugen durch eine durchaus ambivalente Charakterisierung. Auch scheut Swanson sich nicht, (Achtung: SPOILER!) seine Heldin zu opfern, somit meine bisherige Sichtweise auf die Handlung völlig durcheinanderzubringen und mich bis kurz vorm Schluss völlig im Unklaren zu lassen, in welche Richtung sich der Plot entwickelt.
Leider schlichen sich auch einige kleine Logikfehler in die Handlung ein. So konnte ich nicht immer schlüssig die Vorgehensweisen des Täters nachvollziehen, wobei die Auflösung ein wenig konstruiert auf mich wirkte, und somit einige Fragen unbeantwortet blieben.
Den kleinen überraschenden Twist am Ende des Romans empfand ich als Zugeständnis des Autors an die eher konventionellen Leser*innen, die am Ende eines Krimis ein wie auch immer geartetes Happy End für das persönliche Seelenheil benötigen. Für mein Empfinden war dieser Twist bei diesem ansonsten solide geschriebenen Roman absolut entbehrlich.
Mit diesem gut erzählten „Whodunit“ schenkt uns Autor Peter Swanson seine respektvolle Verbeugung vor dem klassischen Kriminalroman und seinen Schöpfer*innen.
erschienen bei Oktopus (bei Kampa) / ISBN: 978-3311300458 / in der Übersetzung von Fred Kinzel
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!
Apho·ri·si·a·kum…
😆 Heute ist WELTLACHTAG! 😆
Apho·ri·si·a·kum…
[Oper] Jules Massenet – WERTHER / Stadttheater Bremerhaven
Lyrisches Drama in vier Akten von Jules Massenet / Libretto von Édouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann / nach dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe / in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus
Musikalische Leitung: Marc Niemann
Inszenierung: Sam Brown
Bühne & Kostüme: Alex Lowde
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández
Wer von uns kennt ihn nicht? Ganze Schülergenerationen durften sich im Unterricht durch dieses Werk „quälen“. Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers war ein (un)gerngesehener Gast in den Klassenzimmern der Republik. Ich kann mich nicht mehr an allzu viel von der damaligen Schullektüre erinnern. Mein Verdrängungsmechanismus scheint im Laufe der Jahre zufriedenstellend gearbeitet zu haben. Doch an einer Empfindung aus dieser Zeit kann ich mich deutlich erinnern: Ich fand damals, dass der Werther eine ziemlich nervige Heulsuse war.
Ich persönlich hätte als Sujet für eine Oper wahrscheinlich eine andere Vorlage gewählt, aber ich bin da ja auch nicht der Profi. Und der weltweite Erfolg gab dem Komponisten Jules Massenet ja auch Recht. So war ich sehr neugierig auf die musikalische Umsetzung: Würde der singende Werther mich mit dem sprechenden Werther wieder versöhnen können?
Es ist mitten im Sommer, doch im Hause des Amtmanns Le Bailli übt dieser mit seinen Kindern schon Weihnachtslieder ein. Seinen anwesenden Freunden Schmidt und Johann erzählt er stolz von seiner ältesten Tochter Charlotte, die nach dem Tod der Frau die Mutterrolle für ihre sieben jüngeren Geschwister übernommen hat. Da ihr Verlobter Albert nicht anwesend ist, soll Werther sie auf dem abendlichen Ball begleiten. Werther ist überglücklich, da er Charlotte schon seit geraumer Zeit insgeheim liebt. Kaum haben die Beiden das Haus verlassen, taucht überraschend Albert auf, findet aber nur Charlottes jüngere Schwester Sophie vor. Mit dem Hinweis, in den nächsten Tagen Charlotte zu besuchen, verabschiedet er sich. Zu später Stunde bringt Werther Charlotte vom Ball nach Hause und gesteht ihr endlich seine Liebe. Er muss aber von ihr erfahren, dass sie am Sterbebett ihrer Mutter versprochen hat, Albert zu heiraten. Einige Monate später sind Charlotte und Albert verheiratet, das allerdings nichts an Werthers Gefühlen ändert. Auf dem Fest zum 50. Hochzeitstag des Pastors und seiner Frau treffen alle wieder aufeinander. Sophie hat ein Auge auf Werther geworfen, der ihre Avancen allerdings abschmettert. Er hat nur Augen für Charlotte, die natürlich am Arm ihres Gatten Albert erscheint, und kann seine Eifersucht kaum verbergen. Charlotte ist mit dieser Situation überfordert und bittet ihn, sie bis zum Weihnachtsfest nicht aufzusuchen. Werther ist verzweifelt: Erste Selbstmord-Phantasien spuken in seinem Kopf herum. Eilig verlässt er die Gesellschaft. Zurück bleiben eine enttäuschte Sophie, eine aufgewühlte Charlotte und ein ernüchternder Albert, dem nun bewusst wurde, welche tiefen Gefühle Werther für seine Ehefrau hegt. Weitere Monate später am Heiligabend: Charlotte hat zahlreiche Briefe von Werther erhalten, in denen er ihr seine Liebe beteuert. Sie selbst muss sich nun auch eingestehen, dass auch sie ihn liebt. Sie versucht, sich durch Gebete zu festigen. Als plötzlich Werther auftaucht, ist dieser von Charlottes Distanz aufgewühlt und wirft sich ihr zu Füßen. Charlotte flüchtet und schließt sich ein. Sie schwört, Werther niemals wiederzusehen. Werther entschließt sich zum Suizid und bittet Albert per Brief, ihm seine Pistole für eine Reise zu überlassen. Dieser schickt Charlotte, ihm die Pistole zu bringen. Später am Heiligabend quälen Charlotte schlimme Ahnungen, und sie eilt durch das Schneegestöber, um Werther zu finden und ihn von einem Selbstmord abzubringen. Sie findet ihn sterbend auf dem Boden liegend. Er hindert sie daran, Hilfe zu holen. Charlotte gesteht ihm in seinen letzten Atemzügen ihre Liebe und küsst ihn zum Abschied. In der Ferne singen die Kinder Weihnachtslieder.
Regisseur Sam Brown versetzt die Handlung aus dem Jahre 1780 in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Dies gelingt ihm ohne spürbare Brüche. Er beweist so nachdrücklich, dass sich im Laufe von beinah 200 Jahren an der Stellung der Frau im sozialen Gefüge innerhalb des nach wie vor vorherrschenden Patriarchats wenig verändert hat. Vielmehr zeigt er beinah abstoßende Männer-Figuren, wie sie es damals durchaus gab (und heute leider immer noch gibt), und deren Handlungen gesellschaftlich toleriert wurden. Wir sehen den in Selbstmitleid zerfließenden Vater, der mit beängstigender Selbstverständlichkeit die eigene Verantwortung an der Familie und die Bürden der verstorbenen Ehefrau auf die älteste Tochter überträgt. Da gibt es seine beiden Freunde, die im angetrunkenen Zustand auch gerne die halbwüchsige Tochter betatschen. Auch der scheinbar charmante und rücksichtsvolle Verlobte zeigt nach der Hochzeit sein wahres Gesicht zeigt und entpuppt sich als manipulativer Kotzbrocken. Der Regisseur „zaubert“ gemeinsam mit Ausstatter Alex Lowde eine beinah dystopie-artige Endzeitstimmung auf die Bretter. Der blütenweiße Vorhang des Panorama-Fensters öffnet sich und gibt den Blick frei in eines dieser adretten Reihen-Bungalows, wie er in so manchen spießigen Vorstädten zu finden ist. Die Räume wandern am Panorama-Fenster vorbei und bilden in ihrer lähmenden Trostlosigkeit einen Kontrast zur menschlichen Tragödie, die sich in ihnen abspielt. Brown setzt in seiner kammerspielartigen Inszenierung den Fokus deutlich auf die Motivationen der handelnden Personen.
WERTHER ist durchaus kein gefälliges Werk. Da gibt es keinen voluminösen Chor und kein fröhlich tanzendes Ballett. Auch auf einen Tenor-Evergreen, wie ihn andere Opern durchaus zu bieten haben, wartet man hier vergebens. Es stehen Personen im Mittelpunkt, zu deren glaubhafter Charakterisierung der pure Schöngesang nicht ausreicht. Vielmehr fordert die Handlung den Sängerinnen und Sängern einiges ab: Hier ist nicht nur stimmliche Brillanz gefordert sondern auch ein hohes Maß an schauspielerischen Talent. In Bremerhaven war beides vorhanden!
Gast Mirko Roschkowski gab die Titelpartie als einen in seinen Empfindungen überschäumenden Jungspund. Sein Werther liebt mit jeder Faser seines Körpers und stürzt sich in diese Liebe mit all seinen Sinnen. Dabei ist er in seiner hemmungslosen Kompromisslosigkeit absolut selbstzerstörerisch. Roschkowskis gelungene Darstellung ermöglichte es mir, dass ich mich mit dem Werther meiner Schulzeit ein wenig aussöhnen konnte. Werther liebt und leidet und scheint damit völlig ausgelastet zu sein, während Charlotte einen wahren Gefühlsmarathon mit unzähligen Höhen und Tiefen durchlebt. Aufgrund der Erkrankung von Boshana Milkov sprang Mezzosopranistin Anna Werle kurzfristig ein und meisterte dies mit einer bewundernswerten Souveränität. Auch bei einer bekannten und evtl. schon auf der Bühne gesungenen Partie ist es immer eine Herausforderung, sich einem unbekannten Regie-Konzept zu stellen. Wirkte ihre Charlotte anfangs neben den Gefühlsausbrüchen eines Werthers eher zurückhaltend-beherrscht (und schrieb ich dies irrtümlich dem Umstand des Einspringens zu) so entwickelte sie sich im Laufe der Vorstellung mehr und mehr zur gefühlvollen jungen Frau. Es schien, als würde sie ein sie einschnürendes Korsett aus Erwartungen und Konventionen abstreifen und sich erlauben, Emotionen zuzulassen, die nun den nötigen Raum in ihrem Leben einnehmen.
Eingebunden waren diese beiden Gäste in dem wunderbaren Ensemble des Stadttheaters Bremerhaven, bestehend aus Victoria Kunze (Sophie), Marcin Hutek (Albert), Ulrich Burdack (Le Bailli), Andrew Irwin (Schmidt) und Patrick Ruyters (Johann), das wieder einmal nicht nur durch exzellentem Gesang überzeugte, sondern auch absolut homogen agierte. Welch ein Glück, dass dieses tolle Ensemble dem Publikum auch in der Saison 2023/2024 erhalten bleibt!
Besonders hervorheben möchte ich die sechs jungen Sänger*innen vom Kinderchor des Stadttheaters Bremerhaven, die die jüngeren Geschwister von Sophie und Charlotte darstellten und dies ganz und gar großartig machten. Schon vor einiger Zeit hat Chorleiter Mario Orlando El Fakih Hernández gemeinsam mit Katharina Diegritz den Kinderchor wiederbelebt, der mich schon zuvor im Musical HAIRSPRAY überzeugte. Ich freue mich sehr auf die kommende Spielzeit, wo die Kids sicherlich bei der Märchenoper HÄNSEL UND GRETEL wieder dabei sein werden.
GMD Marc Niemann brachte mit dem Philharmonischen Orchester die Musik Massenets sehr nuancenreich zu Gehör, sei es bei den stürmischen Arien Werthers über das zarte „Claire de lune“ im ersten Aufzug bis zu den beiden emotionalen Arien der Charlotte im 3. Akt, und verfeinerte so eine gelungene Opern-Aufführung.
Nun überlege ich ernsthaft, ob ich dem guten alten Goethe und seinem Werther nochmals eine Chance geben soll. Was meint Ihr?
…und – Schwupps! – schon ist sie leider wieder vorbei, die Aufführungsserie von WERTHER am Stadttheater Bremerhaven. Schön war´s!!!