[Ballett] Alfonso Palencia – DIE VIER JAHRESZEITEN / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Alfonso Palencia / mit Musik von Antonio Vivaldi (recomposed by Max Richter) und Arvo Pärt

Premiere: 2. März 2024 / besuchte Vorstellung: 18. April 2024
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


CHOREOGRAFIE & INSZENIERUNG Alfonso Palencia
MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
BÜHNE & VIDEO Yoko Seyama
KOSTÜME Rosa Ana Chanzá
LICHT Thomas Güldenberg, Daniel Lang

CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Bobby M. Briscoe
DRAMATURGIE Alfonso Palencia, Torben Selk
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Florian von Zameck-Glyscinski


Ich wage mich hier mal an die These, dass DIE VIER JAHRESZEITEN von Antonio Vivaldi zu den bekanntesten Werken der Barock-Musik zählt. Selbst jemand, der eher wenig Klassik-affin ist, hat die eine oder andere Passage aus eines dieser Violinkonzerte schon gehört – und sei es nur als musikalische Untermalung zu irgendeinem Werbe-Spot.

Wie unschwer zu erkennen, hat Vivaldi sich bei seinen Kompositionen von den Klängen der Natur inspirieren lassen und so jeder Jahreszeit einen eigenen Klang, eine eigene Dynamik verliehen. Dabei imitieren die Instrumente die jeweiligen Töne aus der Natur, wie Wind und Sturm, aber auch Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten sind zu erlauschen.

Kaum ein Werk in der zeitgenössischen Musik wurde so wachen Ohres erwartet wie Max Richters Bearbeitung der Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi. Das 2012 erschienene Album war in 22 Ländern in den Klassikcharts, wurde über 3 Milliarden Mal gestreamt und untermalte viele Filme. Mit Respekt vorm Original hat die Lesart Richters nichts von Vivaldis Strahlkraft und Modernität verloren. Alfonso Palencia arbeitet Vivaldis Spiel zwischen Mensch und Natur heraus, kombiniert es mit der modernen Deutung Richters und denkt beides in der Bewegungskraft des Körpers weiter. Mit ausdrucksvoller Tanzsprache wird der Versuch unternommen, die Kräfte der Natur zu bezwingen und sich diese zunutze zu machen.

(Inhaltsangabe der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven entnommen.)

Es wirkte auf mich, als hätte Max Richter bei seiner Bearbeitung (bzw. „Re-Komposition“) von Antonio Vivaldis Werk Keile in das formale Konstrukt der bekannten Komposition getrieben. Er schien den Rahmen sehr bewusst aufzubrechen, um so Raum zu schaffen, damit er Neues hinzufügen konnte. Musikalische Brocken, die bei diesem Vorgang zu Boden gefallen waren, wurden teils von ihm aufgehoben und an anderer Stelle ans Werk angedockt, teils verblieben sie unbeachtet am Boden. Natur-Töne, die Vivaldi durch die Instrumente imitierte, wurden bei Richter via Audio-Datei zugespielt, und auch Industrieklänge kamen zum Einsatz.

Max Richter sagte, DIE VIER JAHRESZEITEN seien eines der ersten klassischen Musikstücke gewesen, die er gehört habe. Das Werk hätte jedoch durch häufige Verwendung in der Populärkultur seinen „Zauber verloren“. Deshalb habe er sich schließlich entschlossen, „eine total neue Version“ zu schreiben. (Quelle: Wikipedia)


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Dass ein klassisches Werk Eingang in die Populärkultur findet, spricht nach meiner Meinung eher für die meisterliche Qualität dieser Komposition. Dass eben genau dieses Werk für Trivialitäten „missbraucht“ wird, ist weder dem Werk noch dem Komponisten anzukreiden und nimmt in keiner Weise Einfluss auf die Qualität. Eine „Re-Komposition“ erscheint mir da recht überflüssig und entbehrlich.

So lauschte ich aufmerksam auf die Klänge, die aus dem Orchestergraben zu mir vordrangen. Davide Perniceni gelang es mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven die Versatzstücke bravourös miteinander zu verschmelzen. Und doch hätte ich ihm und den Musiker*innen – vor allem Franz Berlin als exzellenter Solist an der Violine – gewünscht, dass sie das Original-Werk hätten zu Gehör bringen dürfen. Trotz des hohen Alters wirkt Vivaldis Musik nach wie vor deutlich frischer, vitaler und beinah unschuldiger auf mich als die besagte verkopfte „Re-Komposition“.

Wie eine Art Entrée stellt Alfonso Palencia die Komposition Fratres von Arvo Pärts dem eigentlichen Hauptwerk voran. Die einfache Melodienfolge mit Streicher und Schlaginstrumente wirkte auf mich sehr ursprünglich, klar und beinah meditativ. Die Tänzer*innen bewegen sich aus einer Embryonalstellung heraus und recken sich gen Licht. Es entsteht der Eindruck, als wäre dies der Ursprung allen Lebens, das im Verlauf der Jahreszeiten einem stetigen Wandel ausgesetzt ist.

Als präsentes Symbol für das Vergehen der Zeit taucht bei DIE VIER JAHRESZEITEN immer wieder eine Sanduhr auf, die von einem Tänzer in Szene gesetzt wird und so den Fokus auf sich lenkt. Palencia setzt immer wieder konträre Bewegungen einander gegenüber: Da gibt es fließende, beinah schwebende Aktionen, die von rohen, abrupten Bewegungen abgelöst werden. Dann bewegen sich die Tänzer*innen wieder sehr synchron in einer Formation, um im nächsten Augenblick in einem choreografierten Chaos auszubrechen. Auch thematisiert Palencia den negativen Einfluss des Menschen (in der Gruppe, als Paar aber auch als Einzelner) auf die Natur, indem er u.a. einen Eisberg Block für Blog durch die Tänzer*innen auflösen lässt, die die einzelnen Brocken über die gesamte Bühne verteilen. Abermals hat Palencia bei der Kreation seiner Choreografie sehr fein auf die Musik gehört und macht so deutlich, dass sich der Wechsel der Jahreszeiten aus einer Vielzahl an Gegensätze gestaltet: Sanft- und Wildheit, An- und Entspannung, Ruhe und Sturm…

Die Kostüme von Rosa Ana Chanzá unterstreichen diesen Wandel: Da wird das frühlingshafte Aufkeimen der Natur durch farbige Socken symbolisiert. Diese Farbigkeit wird beim fallenden Herbstlaub wiederaufgenommen, während im Winter die hellen Anzüge dominieren. Yoko Seyama schuf für ihre variabel einsetzbaren Stoffbahnen, die immer wieder neue Räume entstehen ließen, wunderschöne und stimmungsvolle Projektionen.

Die Ballett-Compagnie, bestehend aus Helena Bröker, Kuang-Yung Chao, Melissa Festa, Volodymyr Fomenko, Giulia Girardi, Lucia Giarratana, Marco Marongiu, Arturo Lamolda Mir, Melissa Panetta, Zoe Irina Sauer Llano, Clara Silva Gomes und Ming-Hung Wenig, tanzte mit Hingabe und brillierte voller Ästhetik sowohl als Ensemble wie in den Solis. Den tosenden Schlussapplaus hatten sich alle Künstler*innen wahrlich verdient.

ANMERKUNG: „Jedes Tierchen sein Plaisierchen!“ lautet ein geflügeltes Sprichwort. Und wie bei vielen Sprichwörtern versteckt sich im Kern ein Funke Wahrheit. Es gibt Ausdrucksformen in der Kunst, die mich mal mehr, mal weniger ansprechen und emotional berühren. Während eine dramatische Opernarie oder eine gefühlvolle Musical-Ballade tiefe Empfindungen bei mir auslösen, kann ich Rap leider recht wenig abgewinnen. Ähnliches erlebe ich zunehmend beim Ballett: Ein Handlungs-Ballett erreicht da viel schneller mein Herz als eine Choreografie zu einem eher abstrakten Thema, wie es bei DIE VIER JAHRESZEITEN der Fall ist. Wobei ich voller Hochachtung und Respekt die Leistung aller Beteiligten anerkenne und wertschätze.

Und da dachte ich immer, ich wäre für alles offen. Doch nun merke ich, dass sich in mir wohl auch ein Traditionalist versteckt. Ups!!! 😆



Wie schnell doch die Zeit vergeht: Es gibt nur noch einige wenige Termine, um mit der Ballett-Kompagnie am Stadttheater Bremerhaven durch DIE VIER JAHRESZEITEN zu reisen.

[Ballett] Cayetano Soto & Alfonso Palencia – SEELEN / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Cayetano Soto und Alfonso Palencia / mit Musik von Bryce Dessner, Johann Sebastian Bach und Philip Glass

Premiere: 7. Oktober 2023 / besuchte Vorstellung: 29. Oktober 2023
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


TWENTY EIGHT THOUSAND WAVES

CHOREOGRAFIE Cayetano Soto
CHOREOGRAFISCHE EINSTUDIERUNG Mikiko Arai
BÜHNE & KOSTÜME Cayetano Soto

BEHIND THE WINDOW (URAUFFÜHRUNG)

CHOREOGRAFIE Alfonso Palencia
BÜHNE Christian Rinke, Alfonso Palencia
KOSTÜME Alfonso Palencia

ANIMA

CHOREOGRAFIE Alfonso Palencia
BÜHNE Christian Rinke
KOSTÜME Danielle Jost

CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Bobby M. Briscoe
DRAMATURGIE Alfonso Palencia, Markus Tatzig
INSPIZIENZ Mahina Gallinger


„Veröffentlichst du in dieser Woche noch deinen Beitrag?“ fragte mich ein Freund, als wir nach der Vorstellung auf dem Weg zum Auto waren. Geschmeichelt warf ich mich in Position und schmetterte mit dem Brustton der Überzeugung heraus „Aber natürlich!“. Besagter Freund strahlte mich voller Vorfreude an „Toll! Ich freu` mich!“. Dann verabschiedeten wir uns,…!

…und nun sitze ich hier vor der Tastatur des PCs und starre „auf ein leeres Blatt Papier“, will sagen: auf einen leeren Monitor. Denn wie soll ich etwas beschreiben, was unbeschreiblich wirkt? Welche profanen Wörter können die Emotionen ausdrücken, die ich empfunden habe? Wie definiere ich etwas, das nicht greifbar scheint?

Denn im Grunde geht es mir immer so, wenn ich einem Tanzabend im Theater miterleben durfte. Ballett ist die Form in der darstellenden Kunst, für die ich den größten Respekt empfinde, da sie dem Künstler ein Höchstmaß an Disziplin abverlangt. In meinem laienhaften Verständnis unterstelle ich, dass eine Geschichte einfacher durch Gesang oder Sprache vermittelt werden kann, als mit den Ausdrucksmöglichkeiten, die der Körper vorgibt. Im Tanz werden Empfindungen in Bewegungen übersetzt, die ihre wie selbstverständlich anmutende Leichtigkeit erst durch ein hartes Training erhalten. Niemand, der nicht selbst mit der Materie vertraut ist, kann auch nur annähernd erahnen, wie viele Tränen geweint, wie viele Blessuren verarztet und wie viel Schweiß vergossen wurde, bis auf der Bühne diese perfekte Einheit aus Emotionalität, Erotik und Ästhetik präsentiert werden kann.

In dieser Eröffnungsproduktion des Balletts am Stadttheater Bremerhaven gibt uns Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia in drei Tanz-Miniaturen intime Einblicke in die menschliche Seele.


TWENTY EIGHT THOUSAND WAVES

28.000 Wellen im Ozean bilden gemeinsam eine große imposante Welle. Doch sobald diese mit Wucht gegen einen Felsen prallt, löst sie sich wieder auf in 28.000 einzelne Wellen. Beinah scheint es so, als stände jede Welle für ein Menschenleben, das kurzfristig mit anderen Leben eine Verbindung eingeht, sich dann abermals von ihnen loslöst, um sich einsam auf die Suche nach Menschen und Orten zu begeben, bei denen sich heimisch gefühlt werden kann. Die treibenden Violinen in Bryce Dessners Komposition „Aheym“ unterstreichen diese hektische Suche: Die Tanzenden finden zueinander, harmonieren miteinander und werden wieder auseinandergerissen, um sich in neuen Paarungen zu finden…

Mikiko Arai re-kreierte die sowohl kraft- wie auch anspruchsvolle Choreografie von Cayetano Soto zusammen mit den Tänzer*innen des Bremerhavener Ballettensembles, das an diesem Abend aus Helena Bröker, Melissa Festa, Lucia Giarratana, Clara Silva Gomes, Arturo Lamolda Mir, Marco Marongiu, Melissa Panetta, Zoe Irina Sauer Llano, Ming-Hung Wenig und Dawon Yang bestand.

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BEHIND THE WINDOW (URAUFFÜHRUNG)

Hinter einem Fenster kann sich so vieles verbergen: Sehnsüchte, Erwartungen, Ängste oder Ungewissheit. Wir lernen eine Familie bestehend aus Vater, Mutter und Sohn kennen. Das Familienleben könnte so schön sein, doch der Sohn ist unheilbar krank und verstirbt. Die Eltern gehen sehr unterschiedlich mit der Trauer um. Während der Vater den Verlust nicht akzeptieren kann, versucht die Mutter im Alltag zu funktionieren. Plötzlich erscheint hinter dem Fenster eine Erscheinung, die nur der Vater als seinen Sohn wahrnimmt. Die Mutter leidet, da sie am Verstand ihres Mannes zweifelt. Erst als auch sie die Erscheinung hinter dem Fenster wahrnimmt, finden beide wieder zueinander. Die Heilung kann beginnen…!

Zur Musik von Johann Sebastian Bach schuf Alfonso Palencia eine beinah kammerspielartig anmutende und sehr intensive Choreografie bei der „nur“ eine Tänzerin und zwei Tänzer auf der Bühne stehen. Melissa Panetta (Mutter), Ming-Hung Weng (Vater) und Arturo Lamolda Mir (Sohn) bilden eine harmonische Einheit und erzählen äußerst einfühlsam die berührende Geschichte über Verlust, Trauer aber auch Hoffnung.

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ANIMA

Was passiert mit der Seele eines Menschen – im Dies- wie im Jenseits? Wie gestaltet sich der Übergang? Und wie nehmen persönliche Emotionen und Erfahrungen Einfluss auf den Zustand der Seele? Sehr abstrakt nähert sich Alfonso Palencia mit seiner Choreografie der Beantwortung dieser Fragen. Die verschiedenen Zustände der Seelen werden durch die Schattierungen (Weiß, Grau, Schwarz) der Kostüme symbolisiert.

Die Positionen der Tanzenden zueinander bzw. auf den unterschiedlichen Ebenen des Bühnenbildes verdeutlichen, auf welcher Stufe des „Übergangs“ sich die jeweilige Seele befindet. Dabei vermischen sich die Seelen immer wieder im innigen Tanz. Sie führen sich gegenseitig unterstützend von der einer Ebene zur nächsten Ebene, lassen so einst getrennte Seelen sich finden. Das Violinen-Konzert Nr. 2 von Philip Glas bildet bei dieser Choreografie den musikalischen Rahmen.

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Ich bin immer wieder gerührt, mit welcher Begeisterung die Bremerhavener „ihre“ Ballett-Kompanie feiern: Schon während der Vorstellung waren im Publikum bewundernde Rufe zu hören. Nach jeder Sequenz wurde üppig Applaus gespendet. Und trotzdem ließen es sich die Zuschauer*innen nicht nehmen, die Tänzerinnen und Tänzer mit frenetischem Jubel und Standing Ovation von der Bühne zu verabschieden. Großartig!



Informationen und Termine zu weiteren Vorstellungen von SEELEN findet ihr auf der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2023/2024 / Stadttheater Bremerhaven

mit dem Main-Theme aus „The Sea Hawk“ von Erich Wolfgang Korngold sowie Arien und Musiken von Jerry Bock, John Du Prez & Eric Idle, Antonín Dvořák, Franz Lehár und Giacomo Puccini

mit Ausschnitten aus „Der zerbrochne Krug“ von Heinrich von Kleist, „Glanz“ von Christina Kettering, „Der Untergang des Hauses Usher“ von Justine Wiechmann und Elisabeth Kirschbaumer (nach Edgar Allan Poe) und dem Ballett „Seelen“ von Alfonso Palencia

Premiere: 2. September 2023 / besuchte Vorstellung: 2. September 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch, Tonio Shiga
Chor: Mario Orlando El Fakih Hernández
Szenische Einrichtung: Annika Ellen Flindt
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Alfonso Palencia,
Markus Tatzig

Musiktheater: Ulrich Burdack, Signe Heiberg, Marcin Hutec, Andrew Irwin,
Konstantinos Klironomos, Victoria Kunze, Boshana Milkov
Ballett: Helena Bröker, Melissa Festa, Volodymyr Fomenko, Lucia Giarratana,
Arturo Lamolda Mir, Marco Marongiu, Alícia Navas Otero, Zoe Irina Sauer Llano,
Melissa Panetta, Clara Silva Gomes, Ming-Hung Weng, Dawon Yang
Schauspiel: Frank Auerbach, Richard Feist, Justus Henke, Kay Krause, Marc Vinzing,
Marsha Zimmermann
JUB: Janek Biedermann, Ulrich Fassnacht, Coco Plümer
Opernchor am Stadttheater Bremerhaven
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


„The same procedure as every year!“

…könnte man ausrufen, denn – Ja! – der Ablauf einer Eröffnungsgala am Stadttheater Bremerhaven ist Jahr für Jahr recht identisch – nur die Inhalte variieren natürlich. Und gerade dieses Festhalten am Gewohnten schafft für mich als Zuschauer eine wohlbekannte und kuschelige Sicherheit und steigert meine Vorfreude, dass ich nach den enthaltsamen Sommermonaten endlich wieder Theaterluft schnuppern darf.

Gleich zu Beginn der Gala kredenzte uns das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann ein Highlight (von vielen, die noch folgen sollten): Das musikalische Hauptthema einer filmischen Piraten-Schmonzette mit Errol Flynn aus dem Jahre 1940, zu der niemand geringerer als Erich Wolfgang Korngold die Musik beisteuerte und so ganz nebenbei die Filmmusik revolutionierte. Das Motto der diesjährigen Konzert-Saison lautet Fremde Heimat: Korngold war vor den Nazis nach Amerika geflohen und musste sich dort eine neue Existenz aufbauen. War der Film „The Sea Hawk“ auch ein Leichtgewicht, so war es die Musik von Korngold ganz und gar nicht, die Niemann mit dem Philharmonische Orchester symphonisch-voluminös und mit einer enormen Klangfülle zu Gehör brachten. Doch auch Davide Perniceni, Hartmut Brüsch und Tonio Shiga ließen es sich nicht nehmen, bei den Programmpunkten zu den ihnen anvertrauten Produktionen hier bei der Eröffnungsgala den Taktstock zu schwingen.

Intendant Lars Tietje gab auch in diesem Jahr einen launig-entspannten Conférencier und holte sich bei passender Gelegenheit die jeweilige Sparten-Leitung in den Personen von Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia an seine Seite.

Frank Auerbach, Richard Feist, Justus Henke und Marsha Zimmermann sorgten mit einem Ausschnitt aus Heinrich von Kleists Lustspiel-Klassiker DER ZERBROCHNE KRUG, der in einem moderneren Gewand präsentiert wird, für die ersten Lacher im Publikum. Der zum Einsatz kommende Kühlschrank mit „Special Effect“ könnte sich durchaus zum Running-Gag entwickeln.

Die Weihnachtspremiere der Oper RUSALKA von Antonín Dvořák verspricht ein ungewöhnliches Hörerlebnis, da sie in tschechischer Sprache aufgeführt wird. Dies ist bestimmt auch für die Sänger*innen eine Herausforderung, die aber hervorragend gemeistert wird, wie Boshana Milkov sowie Ulrich Burdack gemeinsam mit dem Opernchor, der wieder bestens durch Mario Orlando El Fakih Hernández vorbereitet wurde, nachdrücklich unter Beweis stellten.

Auch in diesem Jahr kam es zur Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr wartete die Jury mit einer Überraschung auf: Nicht eine Person oder Sparte wurde geehrt, diesmal erhielten Toni Burkhardt (Regie), Adriana Mortelliti (Kostüme) und Wolfgang kurima Rauschning (Bühnenbild) gemeinsam diese Auszeichnung für ihre grandiose Umsetzung der Oper BREAKING THE WAVES. Völlig verdient: Auch mich hatte diese Inszenierung nachhaltig beeindruckt.

Die letztjährige Preisträgerin Victoria Kunze behauptete gegenüber ihrem „Partner in Crime“ Andrew Irwin (😉) „Ich bin eine anständ’ge Frau“. Na, ob das wirklich stimmt, da können wir uns in DIE LUSTIGE WITWE, dem Operetten-Klassiker von Franz Lehár überzeugen. Mit einem schmissigen „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“ spülten uns Signe Heiberg, Ulrich Burdack und Konstantinos Klironomos mit Unterstützung des Operchores aus dem Saal hinaus in die Pause.

Erst seit einer Spielzeit ist Alfonso Palencia als Ballettdirektor am Haus, und schon hat er deutliche künstlerische Spuren hinterlassen. So überzeugen seine Choreografien durch Emotionalität und Ästhetik. Dies galt auch für die gezeigten Ausschnitte aus dem drei-geteilten Ballettabend SEELEN, die von der Company grandios umgesetzt wurden. Am Ende erhielten die Tänzer*innen einen frenetischen Applaus als Lohn. Tanz scheint mir die Kunstform zu sein, die dem Künstler am Meisten abverlangt und das höchste Maß an Disziplin fordert.


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In dieser Spielzeit steht mit GLANZ von Christina Kettering eine Uraufführung auf dem Spielplan vom JUB (Junges Theater Bremerhaven). In diesem Stück erfindet sich eine junge Frau via Social Media neu und verstrickt sich immer weiter in Lügen: Coco Plümer, Janek Biedermann und Ulrich Fassnacht zeigten mit einem Ausschnitt, wie nah dieses Thema an der Gefühlswert der heutigen Jugend ist.

Doch nicht nur aktuelle Themen werden in den Spielplänen der einzelnen Sparen aufgegriffen, auch die Freunde der klassischen Grusel- und Schauerliteratur kommen weiterhin auf ihre Kosten: Schon in der vergangenen Spielzeit hatte DER UNTERGANG DES HAUSES USHER von Justine Wiechmann und Elisabeth Kirschbaumer (nach der gleichnamigen Erzählung von Edgar Allan Poe) Premiere. Diese beim Publikum sehr beliebte Inszenierung wird auch in dieser Saison weiterhin als Wiederaufnahme zu sehen sein, aus der Marc Vinzing den großen Eröffnungs-Monolog im beinah dunklem Saal gekonnt-unheilschwanger zum Besten gab.

Mit TOSCA von Giacomo Puccini eröffnet das Musiktheater die neue Saison und bietet nicht nur einen Klassiker und Publikumsliebling des Genres, sondern hier am Stadttheater Bremerhaven mit Signe Heiberg und Konstantinos Klironomos zudem ein fulminantes Leading-Paar. Schon mit „Meno male! Egliè la“, der ersten Szene des Tosca-Blocks, in der Marcin Hutec, Andrew Irwin und Konstantinos Klironomos vor dem Orchester standen und sangen, während stückbedingt Signe Heiberg gemeinsam mit dem Opernchor und dem Extrachor von der Seitenbühne zu hören waren, zeigte eindringlich die hohe sängerische Qualität des Hauses. Cavaradossis Arie „E lucevan le stelle“ gestaltete Konstantinos Klironomos voller Wehmut und Trauer, während Toscas „Vissi d’arte“ bei Signe Heiberg sich vom anfänglichen Klagelied beinah bis zur kämpferischen Hymne steigerte. Grandios!!!

Auch wenn das „große“ Musical in dieser Spielzeit beim Schauspiel zu finden ist, so hat das Musiktheater mit THE APPLE TREE von Jerry Bock und Sheldon Harnick zumindest eine deutschsprachige Erstaufführung am Start. Dem Team Bock/Harnick verdanken wir u.a. das wunderbare Musical „Anatevka (Fiddler on the Roof)“. THE APPLE TREE verspricht, ein musical-isches Schmankerl in bester Broadway-Sound-Tradition (Die Ouvertüre wusste schon zu gefallen!) zu werden. Das Musical beschäftigt sich in drei in sich abgeschlossenen Geschichten um das Thema „Verführung“: So dürfen sich Adam und Eva mit der Schlange kabbeln, oder eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen träumt vom Glitzer der Show-Welt. Apropos: Marcin Hutek war in den vergangenen Spielzeiten ja schon so einiges, u.a. Chef des Olymps. Jetzt durfte er als Schlange den Sündenfall verschulden und versuchte musikalisch seine „Verbot’ne Frucht“ an die Frau zu bringen. Mit „Wahnsinn“ amüsierte Victoria Kunze keck als aufstrebendes aber sich selbst überschätzendes Show-Sternchen. Andrew Irwin gestaltete Adams Klagelied auf „Eva“ so fein akzentuiert, dass es die reine Freude war, ihm zu lauschen.

Das „große“ Musical ist – wie schon erwähnt – in dieser Spielzeit beim Schauspiel verankert: Bei der Musical-Parodie SPAMELOT von Eric Idle und John du Prez nach Monty Phytons „Die Ritter der Kokosnuss“ erwarte ich allerdings auch keinen Schön-Gesang sondern vielmehr ein Feuerwerk an Pointen, die – im wahrsten Sinne des Wortes – auf dem Punkt kommen. Trotzdem dürfen wir uns auf ein komplettes Orchester incl. Opernchor freuen. Bei „Such den Gral“ überzeugte Kay Krause mit gekonntem Sprechgesang als kauziger König Artus. Für die erkrankte Julia Lindhorst-Apfelthaler, die in dieser Inszenierung die Fee aus dem See geben wird, sprang bei der Eröffnungs-Gala kurzfristig Boshana Milkov ein und „soulte“ sich voller Wonne durch den Song.

Mit dem Ohrwurm „Always look on the bright side of life“ wurden wir in die laue Sommernacht Bremerhavens entlassen.


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2023/2024 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Ballett] Alfonso Palencia – DORNRÖSCHEN (UA) / Stadttheater Bremerhaven

Märchenballett von Alfonso Palencia / nach dem Märchen von Charles Perrault / mit Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky / Uraufführung

Premiere: 22. Oktober 2022 / besuchte Vorstellung: 30. Oktober 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Choreografie & Inszenierung: Alfonso Palencia
Bühne & Kostüme: Dorin Gal
Video: Rasmus Freese


Wenn ein Ballettmeister seine bisherige Wirkungsstätte verlässt, um sich an einem anderen Ort neuen Herausforderungen zu stellen, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, dass ihm mehrere Tänzer*innen aus der Kompagnie folgen. Nicht so in Bremerhaven: Hier entschied sich die Kompagnie beinah vollzählig, der Seestadt an der Weser treu zu bleiben und sich in die fähigen Hände eines neuen Ballettdirektors zu begeben. So konnte Alfonso Palencia für seine Einstands-Produktion auf ein eingespieltes Ensembles zurückgreifen, das durch Akademist*innen (junge Tänzer*innen, die noch in der Ausbildung sind) ergänzt wurde.

Mit dem Märchenballett „Dornröschen“ zur bekannten Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky wählte er ein eher traditionelles Sujet, das einem kundigen Theaterpublikum in der einen oder anderen Form durchaus bekannt sein dürfte.

Zur Taufe von Prinzessin Aurora sind drei Feen eingeladen, die das Kind mit getanzten Segenswünschen ehren, darunter Schönheit, Klugheit, Anmut und Kraft. Die böse Fee Carabosse wurde versehentlich nicht eingeladen. Sie verflucht die Prinzessin und prophezeit den Tod an ihrem 16. Geburtstag. Die gute Fliederfee kann das Unheil gerade noch abwenden. Aurora fällt in einen hundertjährigen Schlaf, aus dem nur ein Prinz sie erlösen kann.

(Inhaltsangabe der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven entnommen.)


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Zuschauer und Kritiker, die immer lautstark Reformen fordern, könnten diese Wahl durchaus als wenig innovativ bemäkeln. Aber hat ein Theater nicht auch die Verpflichtung – neben der Präsentation zeitgenössischer Werke – die klassischen Stücke zu pflegen und sie neu zu interpretieren, um so ein junges Publikum für das Theater zu begeistern? Alfonso Palencia gelingt dieser Spagat mit seiner Inszenierung zu „Dornröschen“ aufs Vortrefflichste. Seine Choreografie ist sinnlich und voller Grazie, dann wieder energetisch und dynamisch. Er zitiert den traditionellen Spitzentanz ebenso wie dem Modern Dance und findet doch eigenständige tänzerische Ausdrucksformen. Dabei bricht er durchaus auch mit den Erwartungen des Publikums: So lässt er sein Ensemble zum bekannten Walzer von Tschaikowsky eben nicht Walzer tanzen, sondern choreografiert einen Tanz, der wie eine zeitgemäße Variante des Hoftanzes anmutet.

Hatte ich bei seinem Vorgänger eher den Eindruck, dass dieser die Geschichte über den Tanz bzw. über die sich bewegenden Körper der Tanzenden erzählt, erlaubt Palencia seinen Tänzer*innen auch mit Gestik und Mimik, Emotionen zu zeigen, und schuf so eine individuelle Charakterisierung zur jeweiligen Rolle. Dabei blieb er wohltuend den bekannten Rollenprofilen innerhalb eines Märchens treu: So standen auf der Bühne natürlich u.a. eine böse Fee, ein unschuldiges Dornröschen und ein heldenhafter Prinz, und doch waren diese Rollen nicht plakativ in Schwarz oder Weiß unterteilt. Vielmehr erzeugte Palencia eine Spannung in seiner Rollengestaltung, indem er die Nuancen zwischen diesen Extremen fein herausarbeitete.

Ihm zur Seite stand ein talentiertes Tänzer-Ensembles, aus dem er die Rollen kongenial besetzten konnte. Ting-Yu Tsai war in der Titelpartie entzückend, naiv und kess zugleich. Ihr Zusammenspiel bzw. die gemeinsam getanzten Partien mit Stefano Neri, der den Prinz überzeugend verkörperte, waren sowohl anmutig wie auch kraftvoll. In den Rollen der drei guten Feen debütierten an diesem Haus die Elevinnen Yeojin Kim, Miso Yun und Mariagiovanna Bonavita und verzauberten mit ihrem wunderbaren Spitzentanz, wobei Yeojin Kim den Hauptpart als Fliederfee souverän meisterte.

Volodymyr Fomenko und Lidia Melnikova gefielen mir sehr als liebevolles Königspaar und wurden durch Ming-Hung Weng und Melissa Festa als Dienerpaar vortrefflich unterstützt. Renan Carvalho bot als böse Fee Carabosse bzw. der dunkle Prinz eine sensationelle Performance, nutze exzentrisch-diabolisch die Bühne als eine Art Catwalk und zog bei jedem seiner Auftritte die Blicke des Publikums auf sich.

Die farbenfrohen Kostüme von Dorin Gal unterstreichen die Individualität jeder Rolle. Sein Bühnenbild bietet – in Kombination mit den „lebendigen“ Videoprojektionen von Rasmus Freese – viel fürs Auge und ermöglicht schnelle Szenenwechsel ohne an Atmosphäre einzubüßen.

Davide Perniceni sorgte mit seinem straffen Dirigat dafür, dass das Philharmonische Orchester Bremerhaven die traumhafte Musik von Tschaikowsky sowohl lebendig als auch schwelgerisch zu Gehör brachte.

Ich saß staunend wie ein Kind und völlig verzaubert im Zuschauerraum und kann hier nur das wiederholen, was ich dem Schöpfer dieses Abends schon Gelegenheit hatte, in der Pause zu sagen: Es war wunder-wunderschön!

Lieber Alfonso Palencia, Ihr Einstand als Ballettdirektor am Stadttheater Bremerhaven ist Ihnen bestens gelungen!


Noch bis Anfang des nächsten Jahres gibt es mit DORNRÖSCHEN märchenhaftes am Stadttheater Bremerhaven zu bewundern. Unbedingt sehenswert…!

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2022/2023 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen sowie Arien und Musiken von Bedrich Smetana, Gioachino Rossini, Wolfgang Amadeus Mozart, Antonio Vivaldi, Carl Maria von Weber, Giacomo Puccini, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky und Carl Millöcker

mit Ausschnitten aus „Viel Lärm um Nichts“ von William Shakespeare, „Outfit of the day“ von Inda Buschmann & JUB-Ensemble und den Balletten „Black Angels“ und „Dornröschen“ von Alfonso Palencia

Premiere: 3. September 2022 / besuchte Vorstellung: 3. September 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig, Alfonso Palencia
Szenische Einrichtung: Annika Ellen Osenberg

Musiktheater: Ulrich Burdack, Signe Heiberg, Andrew Irwin, Konstantinos Klironomos,
Victoria Kunze, Boshana Milkov
Ballett: Renan Carvalho, Melissa Festa, Stefano Neri, Ting-Yu Tsai,
Schauspiel: Henning Bäcker, Marsha Zimmermann
JUB: Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer, Severine Schabon
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


2½ Monate musste ich schmerzlich darben! 2½ Monate musste ich auf Theater verzichten! Okay, okay, es ist „Leiden auf hohem Niveau!“: Schließlich hatten wir im letzten Jahr eine ganz andere Durststrecke zu bewältigen. Doch was ich mit diesen Worten zum Ausdruck bringen möchte, ist schlicht und ergreifend meine Freude, wieder ins Theater gehen zu dürfen.

Ja, ich darf, und es ist wahrlich nicht selbstverständlich!

Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann eröffnete die Gala mit der Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen und verwies so gekonnt auf das Motto natürlich der diesjährigen Konzert-Saison.

Nach einer äußerst gelungenen Einstands-Saison kann Intendant Lars Tietje nun deutlich entspannter dieser Spielzeit entgegen blicken. In seiner Begrüßung brachte er seiner Freude zum Ausdruck, den Zuschauersaal – nach 2 Jahren der reduzierten Platzauslastung – wieder so üppig mit Publikum gefüllt zu sehen. Dabei gestaltete er launig seine Moderationen und ließ bei div. Programmpunkten auch Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia als jeweilige Sparten-Leitung zu Wort kommen.

Henning Bäcker und Marsha Zimmermann boten mit einem Ausschnitt aus William Shakespeares Viel Lärm um Nichts ein komödiantisches Schmankerl: Hier zanken sich die Geschlechter unterhaltsam mit so viel Wortwitz und Intelligenz, dass diese Szene meine Vorfreude auf die komplette Inszenierung schürte.

Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer und Severine Schabon vom JUB (Junges Theater Bremerhaven) präsentierten frech und amüsant eine Szene aus dem Stück Outfit of the day, das das Ensemble gemeinsam mit der Regisseurin Inda Buschmann entwickelt hatte, und zeigten damit nachdrücklich, dass in Bremerhaven modernes Kinder- und Jugend-Theater gemacht wird.

Ballettdirektor Alfonso Palencia gab gleich in zwei Programmpunkten einen Eindruck seines Choreografie-Stils: Bei „Black Angels“ vertanzten Renan Carvalho und Melissa Festa gekonnt athletisch die Musik aus Vivaldis „The Four Seasons“. Doch besonders der Ausschnitt aus dem Ballett Dornröschen mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky zeigte noch deutlicher die Handschrift des Chefchoreografen: Ting-Yu Tsai und Stefano Neri boten eine sinnlich-anmutige und doch auch dynamische Performance. Dieser verführerische Ausschnitte machte Lust auf ein Mehr.

Auch diesmal teilte sich Marc Niemann die musikalischen Programmpunkte mit seinen Kollegen Davide Perniceni und Hartmut Brüsch, die das Orchester und die Solisten ebenso überzeugend durch die Arien leiteten. Wie in jedem Jahr trauere ich einigen Künstler*innen nach, die Bremerhaven leider verlassen haben. Doch gleichzeitig bin ich äußerst neugierig auf die neuen Sänger*innen und kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Dabei ist das Bremerhavener Publikum durchaus zugeneigt, Vorschusslorbeeren in Form eines überschäumenden Applauses verteilen wir nicht. So wurden die „Neuen“ bei ihrem ersten Erscheinen auf der Bühne mit einem durchaus wohlwollenden aber nicht euphorischen Applaus bedacht. Boshana Milkov überzeugte mit ihrem vollen, warmen Mezzo in der Arie „Cruda sorte“ aus Rossinis „L’Italiana in Algeri“ und erhielt ihren verdienten Applaus. Tenor Konstantinos Klironomos betrat beinah respektvoll die Bühne: Nach der grandios gesungenen Arie „Recondita Armonia“ aus „Tosca“ von Giacomo Puccini, die mit einem euphorischen Applaus belohnt wurde, war ihm die Erleichterung sichtlich anzumerken.

Eröffnungsgala Stadttheater Bremerhaven 2022-23 - Foto Otto Oberstech

Doch auch das Wiedersehen bzw. –hören mit den „alten“ Häsinnen/Hasen aus dem Musiktheater bereitete mir wieder eine große Freude: Bass Ulrich Burdack bewies mit der Arie „Jeder, der verliebt“ aus der Oper „Die verkaufte Braut“ von Bedrich Smetana erneut, dass in einem stattlichen Körper eine flexible und trotz der Tiefe auch leicht anmutende Stimme stecken kann. Signe Heiberg rief mit ihrer sinnlichen wie kraftvollen Interpretation von „Si, mi chiamano Mimì“ aus Puccinis „La Bohème“ Erinnerungen in mir wach: Anfang der 90er Jahre war „La Bohème“ die erste Oper, die ich auf einer Bühne sehen durfte – natürlich hier in „meinem“ Stadttheater Bremerhaven. Andrew Irwin gestaltete mit Witz und Spielfreude „Schau der Herr mich an als König“ aus Webers Der Freischütz und schäkerte dabei verschmitzt mit den Damen vom Opernchor.

Apropos Opernchor: In meinen Berichten über Aufführungen am Stadttheater Bremerhaven fällt gerne eine Formulierung wie „…der von mir hin und wieder gescholtene Opernchor“. Das muss nun aufhören! Diese kleine verbale Spitze ist noch meinem Eindruck aus einer Zeit geschuldet, als ich den Opernchor am Stadttheater kennenlernte. Damals gewann ich den Eindruck, die Damen und Herren wären ausschließlich zum Singen auf der Bühne, und schauspielern, tanzen, sich allgemein auf der Bühne bewegen, dies alles stand wohl nicht in ihrer Stellenbeschreibung. Besonders prägend war da für mich eine Aufführung der Oper „Nabucco“ mit dem berühmten Gefangenenchor: Der Chor stand auf der Bühne, erhob die Stimme(n), und der Klang war großartig. Doch dummerweise hatte der Regisseur die Idee, dass die Sänger*innen nach und nach vortreten sollten, um auf der Vorderbühne aus einzelnen Fetzen eine Flagge zusammenzusetzen. In dem Moment, als Bewegung in den Chor kam, brach der Klang kläglich zusammen. Doch in der Zwischenzeit fand im Opernchor am Stadttheater Bremerhaven ein Wechsel statt: Ob es nun ein Generationswechsel, ein Paradigmenwechsel oder welcher Wechsle es auch immer war? Egal! Heute zeigt der Chor sich sehr flexibel und spielfreudig, und einzelne Mitglieder brillieren sogar in Nebenrollen. Und auch ihre Auftritte bei dieser Eröffnungsgala waren absolut charmant und amüsant. Darum: Ich gelobe hiermit feierlich, meine Stichelei zukünftig zu unterlassen!

Auch in diesem Jahr war der Höhepunkt der Gala die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr fiel das Urteil der Jury auf die Sopranistin Victoria Kunze, die sichtlich ahnungslos mit dieser Würdigung überrascht wurde. Für mich war es immer eine Freude, diese Künstlerin auf der Bühne erleben zu können, da sie eine enorme Spielfreude mit sängerischem Können und komödiantischem Talent paart. Den Beweis erbrachte sie mit der Arie „Zeffiretti lusinghieri“ aus „Idomeneo“ vom Groß-Meister Wolfgang Amadeus Mozart.

Nach der Rausschmeißer-Nummer „Trink nur zu“ aus Carl Millöckers Operette „Der Bettelstudent“, bei der sich die Gesangssolisten nebst Opernchor auf der Bühne versammelten, entließen wir alle beteiligten Künstler*innen erst nach Standing Ovation incl. einem frenetischen Applaus. Meine Hände sind noch heute taub…!


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2022/2023 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Ballett] Alba Castillo & Sergei Vanaev – PETRUSCHKA / LE SACRE DU PRINTEMPS (UA) / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Alba Castillo und Sergei Vanaev mit Musik von Igor Fjodorowitsch Strawinsky / Uraufführung

Premiere: 12. März 2022 / besuchte Vorstellung: 20. März 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Um dem Ballettpublikum die Vielfalt des Tanzes näher zu bringen, lädt das Stadttheater Bremerhaven immer wieder gerne Gastchoreograph*innen ein, die gemeinsam mit dem Ballettmeister Sergei Vanaev und der Compagnie des Hauses neue Stücke entwickeln. Gleichzeitig ist dies auch für das Ensemble eine wunderbare Möglichkeit, die künstlerische Handschrift eines anderen Choreografen kennenzulernen.

In dieser Saison war nun Alba Castillo zu Gast in der Seestadt. Die renommierte Choreografin startete ihre Karriere als Tänzerin in der Compagnie der Teatres de la Generalitat Valenciana ihrer Heimatstadt Valencia, arbeitete u.a. schon mit dem Scapino Ballet Rotterdam (Niederlande) und der Opèra National du Rhin (Frankreich) zusammen und wurde für ihre Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet.

Hier in Bremerhaven erarbeitete sie gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern am Stadttheater die Choreografie zu Strawinskys Ballett-Musik „Petruschka“.


PETRUSCHKA
Musikalische Leitung:
 Marc Niemann
Choreografie & Inszenierung: Alba Castillo
Bühne & Kostüme: Darko Petrovic

„Zu viele Musikstücke enden erst viel zu spät nach ihrem Ende.“
Igor Fjodorowitsch Strawinsky

Vor den Fenstern der Werkstatt eines Puppenmachers herrscht reges Treiben: Die Passanten wirken, als werden sie eilends – wie Marinetten an Schnüren – von einem Ort zum nächsten gezogen. In der Werkstatt des Puppenmachers scheint hingegen eine stätige Ruhe zu bestehen. Doch der Schein trügt: Sobald der Puppenmacher die Werkstatt verlässt, erwachen seine Kreationen zum Leben. Da ist die schöne Ballerina, die von Petruschka verehrt wird, aber dem Werben des frechen Harlekins nicht widerstehen kann. Da er seine Liebe nicht für sich gewinnen kann und ihm die Enge der Werkstatt unerträglich erscheint, flüchtet Petruschka aus dem Fenster in die erhoffte Freiheit. Vor seiner Werkstatt findet der Puppenmacher die kleine Puppe auf der Straße liegend – von den Füßen der vorbeieilenden Passanten in den Schmutz getreten.

Die Choreografie von Alba Castillo schmiegt sich sehr harmonisch an die melodische Musik von Strawinsky. Sie erzählt mit Hilfe der Tänzerinnen und Tänzer diese kleine Geschichte beinah schlicht und ohne übertriebenen Schnickschnack in Ausstattung und Kostüm. So erreicht sie mit dieser Reduzierung, dass sich der Blick des Publikums auf das Wesentliche, auf die Kern-Handlung beschränkt, bei der die Beziehung der drei Figuren Petruschka (Tanaka Lionel Roki), Ballerina (Ting-Yu Tsai) und Harlekin (Stefano Neri) im Mittelpunkt steht.

Und trotzdem weht über die Szenerie ein märchenhafter Hauch, wenn die Puppen zum Leben erwachen. Jede Puppe zeigt hierbei im Ausdruck eine eigene Charakterisierung und überrascht z.T. mit recht unterschiedlichen mechanisch-anmutenden Bewegungen. Dabei zeigen die Tänzer*innen eine bewundernswerte Selbstkontrolle ihrer Körper, wenn sie scheinbar unvermittelt in einer Pose „einfrieren“ und dort verharren, die bei mir einen Besuch beim Orthopäden zur Folge hätte. Strawinsky blieb sich bzgl. Länge des Balletts selber treu: Nach knackigen 40 Minuten war das getanzte Märchen zu Ende.


LE SACRE DU PRINTEMPS
Musikalische Leitung: Marc Niemann
Choreografie & Inszenierung: Sergei Vanaev
Bühne: Johannes Bluth
Kostüme: Sergei Vanaev

„Moderne Musik ist Instrumentenstimmen nach Noten.“
Igor Fjodorowitsch Strawinsky

„Le sacre du printemps“ oder auch „Das Frühlingsopfer“ ist kein Handlungsballett im klassischen Sinne. Vielmehr geht es hier um die Interpretation der Musik durch die Ausdrucksmöglichkeiten des Tanzes. Ein Umstand, der durch die Komposition Strawinskys begründet scheint. Strawinsky schuf ein sehr kantiges Musikwerk, das beim ersten, unbedarften Hören keine Melodienfolge(n) erkennen lässt. Beinah avantgardistisch mutet seine Komposition an und lässt Spiel für eine größtmögliche Interpretation.

Sergei Vanaev nutzt diese Freiheit und kreiert mit den Tänzerinnen und Tänzern abwechslungsreiche Bewegungsabläufe, die mal minimalistisch-zart, mal expressiv-athletisch anmuten. Er lässt die Mitglieder des Ensembles sowohl als Gruppe als auch partnerschaftlich und solistisch agieren. Dabei scheinen sie die Gesetzte der Schwerkraft außer Kraft zu setzten, wenn sie mit einer immensen Körperbeherrschung akrobatische „Kunststücke“ vollführen und mich so bewundernd zum Staunen brachten. Dies dient wahrlich nicht der bloßen Effekthascherei, vielmehr folgt Vanaevs Choreografie den Vorgaben der Musik, die mal aufbrausend, mal asketisch aber auch durchaus disharmonisch aus dem Orchestergraben klang.

Für die klangliche Grundlage beider Ballett-Musiken sorgte Marc Niemann mit seinen exzellenten Musiker*innen des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven.


Ich wage die Vermutung, dass es nur wenige andere künstlerische Ausdrucksform gibt, die dem Künstler so viel abverlangt wie die Kunst des Tanzes. Und so möchte ich meinen respektvollen Dank aussprechen für die Tänzer*innen Melissa Festa, Alícia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Renan Carvalho, Volodymyr Fomenko, Stefano Neri, Tanaka Lionel Roki, Daeun Jung, Giusy Fanaro, Luca di Georgio, Nicole Llauradó Neve und Lavinia Tinagli, die mich an diesem Abend an ihrer Kunst teilhaben ließen.


Leider nur noch bis Ende April 2022 kann der Doppelabend PETRUSCHKA / LE SACRE DU PRINTEMPS am Stadttheater Bremerhaven bewundert werden.