[Oper] Missi Mazzoli – BREAKING THE WAVES (DEA) / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Missy Mazzoli / Libretto von Royce Vavrek / nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier / Deutsche Erstaufführung / in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 6. Mai 2023 / besuchte Vorstellung: 21. Mai 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Toni Burkhardt
Bühne: Wolfgang kurima Rauschning
Kostüme: Adriana Mortelliti
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Ich saß im Theater, schaute auf die Bühne, und Tränen rannen über meine Wangen…!

Die naive und psychisch labile Bess verliebt sich in den Offshore-Ölrigger Jan und heiratet ihn entgegen der Zweifel der Ältesten ihrer tiefreligiösen calvinistischen Gemeinde. Als Jan nach einer kurzen doch glücklichen gemeinsamen Zeit wieder zur Bohrinsel zurückkehren muss, betrauert Bess die Trennung so sehr, dass sich ihre psychischen Probleme wieder manifestieren, die sie bisher mit Medikamenten gut kontrollieren konnte. In dieser Situation ist ihr ihre strenge Mutter keine Unterstützung, die der Meinung ist, dass jeder noch so harte Schicksalsschlag stoisch ertragen werden muss. Hilfe erfährt sie von ihrer Schwägerin Dodo, der Frau ihres verstorbenen Bruders, die sich immer wieder schützend zu ihr stellt. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass Bess zunehmend schizophrene Züge zeigt: So ist sie immer wieder im Zwiegespräch mit Gott und bittet diesen, ihren Mann wieder zu ihr nach Hause zu bringen. Kurz darauf erleidet Jan auf der Bohrinsel einen fast tödlichen Unfall und wird ins Krankenhaus auf dem Festland gebracht. Als Bess erfährt, dass der Unfall Jan fast vollständig gelähmt hat, glaubt sie, dass es ihre Schuld sei. Schließlich hat sie Gott inständig gebeten, Jan zu ihr nach Hause zu bringen. Jan weiß, dass Bess niemals ihr Ehegelübde brechen würde, glaubt aber, dass er sie daraus befreien muss, damit sie ein erfülltes Leben führen kann. Er ermutigt sie, Liebhaber zu finden und ihm davon zu erzählen, damit er sich einreden kann, sie beide würden Liebe machen. Doch Bess weigert sich, dem ungeheuerlichen Wunsch ihres Mannes Folge zu leisten. Als Jan versucht, sich durch eine Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, ist sie sich sicher, dass sie ihm gehorchen muss. Scheiternde Versuche, Dr. Richardson, den behandelnden Arzt ihres Mannes zu verführen, und halbherzige sexuelle Begegnungen mit Fremden gehen mit einer Verschlechterung von Jans Gesundheit einher. Als Bess einen Mann findet und Sex mit ihm hat, stabilisiert sich überraschend Jans Gesundheit, worauf Bess weitere Sex-Bekanntschaften sucht. Doch ihr Ruf holt sie ein: Ihre Mutter verachtet sie, und die Kirchenältesten verstoßen sie aus der Gemeinschaft. Bess versteht nicht warum, da sie doch dem Willen ihres Mannes folgt und seine Genesung direkt proportional zu ihren außerehelichen Aktivitäten voranschreitet. Dodo versucht ihr begreiflich zu machen, dass Jan diesen Wunsch im Fieberwahn geäußert hat. Doch Bess lässt sich nicht aufhalten: Eines Nachts wird sie von Matrosen brutal vergewaltigt und sadistisch misshandelt. Mit letzter Kraft schleppt sie sich zu Dodo und stirbt, als Jan von seiner Operation aufwacht, und sich sein Gesundheitszustand dramatisch verbessert. Die Kirchenältesten stimmen zu, dass Bess zwar ein calvinistisches Begräbnis erhält, bestehen aber darauf, dass sie als Sünderin begraben und ihre Seele der Hölle übergeben wird. Jan, der sich vollständig erholt hat, stiehlt mit Hilfe seines besten Freundes Terry die Leiche, bevor sie beigesetzt wird. Als er ihre Überreste dem Ozean übergibt, erklingen die Glocken Gottes…!


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Regisseur Toni Burkhardt kreierte eine schlüssige Inszenierung, bei der die Dramatik sich Szene für Szene logisch zwingend steigerte. Dabei fühlte er sich – trotz aller Symbolik – dem Realismus verpflichtet: So standen die Beweggründe der Protagonist*innen mit all ihren vielfältigen Emotionen im Vordergrund. Er forderte von den Sänger*innen viel und ließ sie in drastischen Bilder agieren, die manchmal für das Publikum kaum zu ertragen waren. Die erdrückende Stimmung innerhalb einer Gemeinschaft, die dogmatisch an ihren Normen festhält, sorgte auf der Bühne für eine (An-)Spannung, die bis in den Zuschauersaal spürbar war.

Bühnenbildner Wolfgang kurima Rauschning schuf eine durchlässige Metallkonstruktion, die je nach Stellung der Drehbühne unterschiedliche Perspektiven bzw. Spielräume offenbarte. Zusammen mit den stimmigen Projektionen wandelte sich so das Bühnenbild von der Ölplattform über das Krankenhaus zur Kirche, bei der drei überdimensionale Kreuze dominierten. Ein großer, anfangs noch schneeweißer Kuschelbär, dessen Fell mit fortschreitender Handlung dunkler und dunkler wurde, als wäre er dem Feuer zu nah gekommen, stand sinnbildlich für die ursprünglich reine Seele von Bess, die nach und nach zu Asche verbrannte. Auch die Kostüme von Adriana Mortelliti verweigerten sich in ihrem miefigen 70er Jahre-Look jeglichem Glamour und unterstützten vielmehr den Realismus-Gedanken des Regisseurs.

Davide Perniceni webte mit dem kammermusikalisch besetzten Philharmonischen Orchester Bremerhaven einen emotionalen Klangteppich zwischen aufbrausenden Instrumental-Sound, musikalischem Minimalismus und Industrieklänge. Mizzy Mazollis Komposition passen nicht in das gewohnte Opern-Schema: Es gibt keine klassische Ouvertüre, Arien oder Duette. Wie beim Underscoring eines Films unterstützt die Musik das auf der Bühne Gezeigte und spiegelt so äußerst individuell die Gefühlswelten der Protagonist*innen wieder. Dazu kamen große Bleche ebenso zum Einsatz, wie Metallspiralen zum Klingen gebracht wurden.

Auf dem ersten Blick scheinen die Männer die Bühne zu dominieren. Da gab es den vom Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández exzellent disponierten Männerchor, aus dem einige Herren auch solistisch überzeugten, sei es James Bobby als verbissener Kirchenoberhaupt über Patrick Ruyters als sadistischer Matrosen bis zu MacKenzie Gallinger, der die ersten beiden „Freier“ von Bess mimte. Andrew Irwin zeichnete Dr. Richardson als einen mitfühlenden Charakter mit einer noblen, beinah schüchternen Zurückhaltung. Ulrich Burdack sorgte als Terry für die wenigen humorigen Momente des Abends, wenn er als Jans loyaler Freund positive Stimmung verbreitete und diesen am Krankenbett mit Bier versorgte. Marcin Hutek als Jan gelang die überzeugende Wandlung vom kraftstrotzenden jungen Kerl über den siechenden Kranken bis zum trauernden aber gereiften Mann.

Obwohl die Männer auf der Bühne in der Überzahl waren, bedurfte es nur drei herausragende Künstlerinnen, um die „Herren der Schöpfung“ in den Schatten zu stellen:

Signe Heiberg gab die Mutter mit einer beängstigenden Intensität. Diese Frau hatte alle Empfindungen tief in sich verschlossene, und doch zeigte Heiberg nur mit einem Blick oder mit einem Zucken im Gesicht, dass mächtige Emotionen unter der verhärteten Fassade tobten. Ihre Annäherungsversuche am Schluss an Tochter und Schwiegertochter wirkten beinah unbeholfen linkisch, da sie verlernt hatte, Empathie auszudrücken und weckten darum umso mehr mein Mitgefühl. Auch gesanglich variierte Heiberg ihren Sopran zwischen einem unterdrückten „piano“ und einem ausbrechenden „fortissimo forte“.
Brava,…

Boshana Milkov porträtierte Dodo als eine warmherzige und mitfühlende Frau. Zart ließ sie anklingen, dass ihre Gefühle zu Bess durchaus über denen einer Schwägerin hinausgingen. Doch niemals würde sie diese feine Grenze überschreiten, um das gemeinsame emotionale Band nicht zu zerreißen. Dabei war sie die unterstützende, haltgebende Schulter, die weder die Mutter noch Jan für Bess sein konnten, und bot sogar den Kirchenältesten mutig die Stirn. Milkovs reicher Mezzo erklang hierbei weniger protzend als vielmehr warm-umfangend.
…brava,…

Victoria Kunze schlüpfte nicht in diese Rolle, sie stürzte sich regelrecht hinein – gesanglich, darstellerisch, emotional,…! Ihre Bess taumelte zwischen Freude und Verzweiflung, zwischen Resignation und Hoffnung, war präsent und verlor sich selbst zunehmend und war dabei beängstigend nah am Wahnsinn. Gesanglich changierte sie zwischen kehlig-rauen Tönen bei den Gesprächen mit Gott bis zu den klirrenden Höhen voller Emotionalität. Hätte Victoria Kunze nicht schon im letzten Jahr den Herzlieb-Kohut-Preis erhalten, nach dieser fulminanten Leitung wäre er ihr sicher gewesen.
…bravissima!

Ich schaute auf die Bühne – eine verzweifelte Dodo schließt die sterbende Bess in ihre Arme, neben ihnen die hilflose Mutter – und Tränen rannen über meine Wangen…!

Es war wahrlich kein lustiger Opernabend: Ich verließ emotional aufgewühlt und tief bewegt das Theater. Doch ich war froh, dass ich dieser äußerst gelungenen deutschen Erstaufführung beiwohnen durfte. Das Stadttheater Bremerhaven hat abermals seinen Ruf als eine Bühne gefestigt, die abseits der großen Metropolen künstlerisch hochrangiges Theater auf die Bretter bringt. Vielen Dank!


Es gibt leider nur noch eine Vorstellung von BREAKING THE WAVES, und dann verabschiedet sich diese außergewöhnliche Oper schon wieder vom Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven.

[Musical] Marc Shaiman – HAIRSPRAY / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Marc Shaiman / Liedtexte von Scott Whitman & Marc Shaiman / Buch von Mark O’Donnell & Thomas Meehan / Deutsche Fassung von Jörn Ingwersen (Dialoge) und Heiko Wohlgemuth (Songs) / Basierend auf dem New Line Cinema Film, Drehbuch und Regie von John Waters

Premiere: 5. November 2022 / besuchte Vorstellungen: 08.01., 03.03. & 30.04.2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Tonio Shiga (08.01. & 30.04.) / Hartmut Brüsch (03.03.)
Inszenierung: Toni Burkhardt / nach einem Konzept von Iris Limbarth
Choreografie: Sabine Arthold
Bühne: Britta Lammers
Kostüme: Heike Korn
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Jedes kleinere Mehr-Sparten-Haus kennt diese Probleme bei der Besetzung eines Musicals aus dem hauseigenem Ensemble: Der Sopran kann wunderbar singen aber weniger gut tanzen. Der Schauspieler spielt sich ´nen Wolf, hat´s aber nicht so mit dem Singen. Und der Ballett-Tänzer kann nichts außer tanzen, tanzen und nochmals tanzen. Hinzu kommt ein in die Jahre gekommener Opernchor, dessen Mitglieder auch für die div. Nebenrollen herhalten müssen. Und das Philharmonische Orchester schmachtet sich zwar durch Puccini & Co., doch alles, was nach den 60er Jahren komponiert wurde, gilt als schnöde Populärkultur. Mit Biegen und Brechen würde man so noch eine halbwegs solide „My Fair Lady“ auf die Bretter zimmern, doch der Intendant schielt auf die neueren Werke des Genres, die vor Pop, Jazz und Soul nur so strotzen. Das Stadttheater Bremerhaven kennt diese Probleme…

NICHT! Hier formte Regisseur Toni Burkhadt gemeinsam mit Choreografin Sabine Arthold aus den hauseigenen Künstler*innen der unterschiedlichen Sparten in Kombination mit Gästen ein so homogenes Ensemble, dass sich die scheinbaren Schwächen zu Stärken wandelten. Burkhardts Inszenierung setzt auf Tempo: Leerlauf scheint hier nicht existent. Dafür sorgt er für fließende, beinah filmartige Übergänge. Doch er erlaubt seinem Ensemble auch die leisen, emotionalen Momente, die zum Kreieren glaubhafter Charaktere so wichtig sind. Arthold setzt in ihren tänzerischen Bewegungsabläufen auf zeittypische Elemente der Sixties. Sie lässt die Nicht-Tänzer*innen neben den Profis sehr gut aussehen. Dank ihrer gelungenen Choreografie bilden die Künstler*innen aus den unterschiedlichen Sparten eine homogene Einheit. Abgerundet zu einem gelungenen Gesamtkonzept wird die Inszenierung durch das wandlungsfähige Bühnenbild von Britta Lammers, in dem die Künstler*innen in den herrlich bunten Retro-Kostümen von Heike Korn agieren dürfen.

Doch nun: WELCOME TO THE 60’s!

Baltimore 1962: Die pummelige Schülerin Tracy Turnblad lebt mit ihrer übergewichtigen Mutter Edna, die aufgrund ihrer Figurprobleme alle ihre Träume und Hoffnungen aufgegeben hat, und ihrem Vater Wilbur, der einen schlecht laufenden Scherzartikelladen besitzt, sehr einsam. Ihre einzige echte Freundin ist die Außenseiterin Penny Pingleton, die von ihrer Mutter permanent unterdrückt und bevormundet wird. Tracys größter Traum ist es, in der Corny-Collins-Show mitzutanzen, der angesagtesten Show des Lokalfernsehens, in der nur die beliebtesten Teenager der Stadt tanzen. Außerdem hat sie sich vorgenommen, die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl zu gewinnen. Während ihre Mutter skeptisch ist und Angst hat, dass ihre Tochter wegen ihres Aussehens verspottet wird, unterstützt ihr Vater sie und macht ihr Mut, dass man seine Träume verwirklichen soll. Als sie dank ihrer Hartnäckigkeit und ihres Selbstbewusstseins tatsächlich an der Show teilnehmen darf, wird sie – gerade wegen ihres Aussehens und ihrer Natürlichkeit – über Nacht zum Vorbild für viele Teenager, die sich mit ihr identifizieren. Sie verliebt sich in den Star der Show, den jungen Sänger Link Larkin, der auf seinen großen Durchbruch wartet und darum eine kamerataugliche Zweck-Beziehung mit der arroganten Amber von Tussle hat. Durch ihre neugewonnenen Freunde Seaweed, seiner kleinen Schwester Inez und deren Mutter Motormouth Maybelle erfährt Tracy von den vielfältigen Repressalien, denen farbige Menschen ausgesetzt sind. Ihre neue Berühmtheit nutzt sie zu einer Kampagne gegen die Trennung von Schwarzen und Weißen in der Corny-Collins-Show, was Amber von Tussle und ihre Mutter Velma zu verhindern versuchen. Dann geht die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl in ihre entscheidende Runde. Amber von Tussle ist siegessicher, doch in letzter Sekunde taucht Tracy auf und wendet – mit Unterstützung ihrer Eltern und Freunde – die Wahl zu ihren Gunsten…!


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Ich glaube, ich durfte auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven noch nie ein so großes Ensemble erleben, das sich aus Künstlern aller Sparten incl. Gäste zusammensetzte: Da waren die wunderbaren Tänzer*innen des Balletts, die agilen Sänger*innen des Opernchores und die entzückenden Kids des Kinderchores. Einem Chor der griechischen Antike gleich sorgten Louisa Heiser, Sharon Isabelle Rupa und Nicole Rushing als The Dynamites verführerisch rotgewandet für einen authentischen Motown-Sound. Schauspieler Karsten Zinser lieferte ein kleines humoristisches Kabinettstückchen als selbstverliebter Corny Collins. Iris Wemme-Baranowski überzeugte als rustikale Gefängnisaufseherin ebenso wie als psychopathische Prudy Pingelton. Sydney Gabbard warf sich als quirlige Penny Pingleton mit Leidenschaft in die Arme ihres Seaweed, den Malcom Quinnten Henry mit geschmeidigem Körper und ebensolcher Stimme zum Leben erweckte. Vanessa Weiskopf gefiel in der liebenswerten Rolle der kleinen Schwester Inez. Getoppt wurden die beiden allerdings durch ihre Bühnenmutter Motormouth Maybelle: Debrorah Woodson verkörpere diese Rolle schon bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Köln und hat sie so sehr verinnerlicht, dass jede Geste, die Mimik und jedes Wort ganz natürlich erschienen. Den Song Ich weiß, wo ich war gestaltete sie zu einer berührenden Hymne, die das Publikum für einen Moment still innehalten ließ, bevor Woodson mit einem frenetischen Applaus belohnt wurde.

Mezzo Boshana Milkov als Velma von Tussle sonderte mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit ihre rassistischen Plattitüden ab. Bei der Interpretation der Songs, die sie mit Grandezza darbot, spürte man deutlich ihre Liebe zum Jazz. Ganz als Mini-Me einer übermächtigen Mutter schlüpfte Schauspielerin Julia Lindhorst-Apfeltahler in die Rolle der Amber von Tussle und ließ hinter der schönen Fassade des blonden Dummchens einen willensstarken (nur leider fehlgeleiteten) Geist durchblitzen. Beiden Künstlerinnen gelang das Kunststück, den jeweiligen Part nicht eindimensional böse erscheinen zu lassen, sondern auch den schrägen Humor aus der Rolle herauszukitzeln.

Tenor Andrew Irwin schmachtete sich als umschwärmter Teeny-Star Link Larkin hingebungsvoll durch seine Songs und amüsierte mit überkandidelten Star-Attitüden, indem er z. Bsp. immer wieder seine Haartolle kokett zurück warf. Doch sobald die Scheinwerfer erloschen waren, kam der sympathische Junge von Nebenan zutage, der seine Zweifel und Ängste nicht verbergen konnte, und in den sich Tracy verständlicherweise verlieben musste.

Seit 1988 beschäftige ich mich sehr intensiv mit dem Genre Musical: Einige Werke haben für mich einen herausragenden Stellenwert und sich einen besonderen Platz in meinem Herzen erobert. Da verspüre ich immer, wenn ich ins Theater gehe, eine gewisse Unsicherheit aus Angst, die jeweilige Inszenierung würde diesem Werk nicht gerecht werden. Ähnlich geht es mir mit einigen Rollen, die oberflächlich das pure Entertainment versprechen, aber unter der glitzernden Oberfläche eine wichtige Botschaft transportieren. Eine dieser Rollen ist Zaza aus LA CAGE AUX FOLLES, die andere Rolle ist Edna aus HAIRSPRAY. Beiden Rollen ist gemein, dass ein Mann in Frauenkleider schlüpft: Es besteht durchaus die Versuchung, dem „Affen Zucker zu geben“ und dem Klamauk zu frönen. Oder die Rolle wird wertschätzend behandelt, ohne dass die unterhaltenen Aspekte vernachlässigt werden. Regie und Darstellung wandeln da auf einem schmalen Grat zwischen Trash und Ernsthaftigkeit. Die Fallhöhe kann dabei enorm sein.

Voller Erleichterung spürte ich schon bei ihrem ersten Erscheinen, dass Edna hier am Stadttheater Bremerhaven bei Regisseur und Darsteller in den allerbesten Händen ist. Ein respektvolles Raunen gepaart mit einem überraschten Auflachen waren im Publikum zu vernehmen, als Bass Ulrich Burdack (O-Ton: „ein 2 Meter großer 3 Zentner-Mann“) zum ersten Mal hinter dem Bügelbrett in Erscheinung trat. Burdack verzichtete wohltuend auf eine übertriebene Feminisierung in der Stimme: Er blieb seiner Stimmlage Bass treu, was in manchen Dialogen zur Erheiterung des Publikums führte. Seine Edna ist eine Matriarchin, die pragmatisch die Geschicke der Familie lenkt. Von ihren eigenen Träumen hat sie sich verabschiedet. Dabei wirkt sie durchaus nicht verbittert: Das Leben hatte eben anderes mit ihr vor, und mit diesem Leben hat sie sich arrangiert. Und so bügelt und wäscht sie sich „eine Wölfin“ zum Wohle ihrer Lieben. Doch tief in ihrem Inneren versteckt sich sowohl die Revoluzzerin, die Ungerechtigkeiten vehement mit vollem Körpereinsatz bekämpft, als auch das junge Mädchen, das nach wie vor in ihren Wilbur verliebt ist. Schauspieler Kay Krause bildet zu Ulrich Burdacks Edna einen wunderbaren Gegenpart: Sein Wilbur ist ein ältlicher Harlekin, der sich seine kindliche Freude an den Kuriositäten in seinem Scherzartikelladen (und des Lebens) bewahrt hat, dem Schicksal vorbehaltlos gegenübertritt und seine Edna bedingungslos so liebt wie sie ist. Das gemeinsame Duett Du bist zeitlos für mich entpuppte sich als rührende Liebeserklärung, bei dem Burdack und Krause munter das Tanzbein schwangen, sich ihrer Liebe versicherten und voller Stolz auf ihre Tochter Tracy blickten.

Sopranistin Victoria Kunze begeisterte mich schon in so mancher Rolle des Opern-Repertoires und sang dort die Koloraturen ihrer Partien immer makellos. Als Tracy nahm sie ihre klassische Stimme bescheiden zurück, doch brillierte in den Songs auch in den höchsten Tönen. Zudem tanzte sie sich mit überschäumender Energie die Seele aus dem Leib und gestaltete ihre Rolle mit einer überzeugenden Natürlichkeit, gepaart mit einer immensen Freude am Spiel, die sich über den Orchestergraben hinweg auf das Publikum übertrug. Ihre Tracy Turnblad ist ein wahrer Sonnenschein mit dem Herz am rechten Fleck. Bravo!

„Bravo!“ möchte ich auch dem musikalischen Leiter Tonio Shiga zurufen, der das Philharmonische Orchester zur Höchstleitung anheizte und für einen süffigen Sound sorgte. Die mitreißende Musik mit ihrer Mischung aus R&B, Motown und Rock’n’Roll bahnte sich aus dem Orchestergraben heraus ihren Weg zuerst ins Ohr über das Herz direkt in die Füße, um dort für ein permanentes Wippen zu sorgen. Auf meinem Gesicht nistete sich ein seliges Dauergrinsen ein, und ich konnte mich beim fulminanten Schlussapplaus dem Ruf des Ensembles nur anschließen:

YOU CAN’T STOP THE BEAT!


Im Stadttheater Bremerhaven wird noch bis zum Ende der Saison reichlich HAIRSPRAY versprüht – und das alles mit viel Witz und Esprit!!!