[Ballett] Alfonso Palencia – DIE VIER JAHRESZEITEN / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Alfonso Palencia / mit Musik von Antonio Vivaldi (recomposed by Max Richter) und Arvo Pärt

Premiere: 2. März 2024 / besuchte Vorstellung: 18. April 2024
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


CHOREOGRAFIE & INSZENIERUNG Alfonso Palencia
MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
BÜHNE & VIDEO Yoko Seyama
KOSTÜME Rosa Ana Chanzá
LICHT Thomas Güldenberg, Daniel Lang

CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Bobby M. Briscoe
DRAMATURGIE Alfonso Palencia, Torben Selk
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Florian von Zameck-Glyscinski


Ich wage mich hier mal an die These, dass DIE VIER JAHRESZEITEN von Antonio Vivaldi zu den bekanntesten Werken der Barock-Musik zählt. Selbst jemand, der eher wenig Klassik-affin ist, hat die eine oder andere Passage aus eines dieser Violinkonzerte schon gehört – und sei es nur als musikalische Untermalung zu irgendeinem Werbe-Spot.

Wie unschwer zu erkennen, hat Vivaldi sich bei seinen Kompositionen von den Klängen der Natur inspirieren lassen und so jeder Jahreszeit einen eigenen Klang, eine eigene Dynamik verliehen. Dabei imitieren die Instrumente die jeweiligen Töne aus der Natur, wie Wind und Sturm, aber auch Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten sind zu erlauschen.

Kaum ein Werk in der zeitgenössischen Musik wurde so wachen Ohres erwartet wie Max Richters Bearbeitung der Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi. Das 2012 erschienene Album war in 22 Ländern in den Klassikcharts, wurde über 3 Milliarden Mal gestreamt und untermalte viele Filme. Mit Respekt vorm Original hat die Lesart Richters nichts von Vivaldis Strahlkraft und Modernität verloren. Alfonso Palencia arbeitet Vivaldis Spiel zwischen Mensch und Natur heraus, kombiniert es mit der modernen Deutung Richters und denkt beides in der Bewegungskraft des Körpers weiter. Mit ausdrucksvoller Tanzsprache wird der Versuch unternommen, die Kräfte der Natur zu bezwingen und sich diese zunutze zu machen.

(Inhaltsangabe der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven entnommen.)

Es wirkte auf mich, als hätte Max Richter bei seiner Bearbeitung (bzw. „Re-Komposition“) von Antonio Vivaldis Werk Keile in das formale Konstrukt der bekannten Komposition getrieben. Er schien den Rahmen sehr bewusst aufzubrechen, um so Raum zu schaffen, damit er Neues hinzufügen konnte. Musikalische Brocken, die bei diesem Vorgang zu Boden gefallen waren, wurden teils von ihm aufgehoben und an anderer Stelle ans Werk angedockt, teils verblieben sie unbeachtet am Boden. Natur-Töne, die Vivaldi durch die Instrumente imitierte, wurden bei Richter via Audio-Datei zugespielt, und auch Industrieklänge kamen zum Einsatz.

Max Richter sagte, DIE VIER JAHRESZEITEN seien eines der ersten klassischen Musikstücke gewesen, die er gehört habe. Das Werk hätte jedoch durch häufige Verwendung in der Populärkultur seinen „Zauber verloren“. Deshalb habe er sich schließlich entschlossen, „eine total neue Version“ zu schreiben. (Quelle: Wikipedia)


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Dass ein klassisches Werk Eingang in die Populärkultur findet, spricht nach meiner Meinung eher für die meisterliche Qualität dieser Komposition. Dass eben genau dieses Werk für Trivialitäten „missbraucht“ wird, ist weder dem Werk noch dem Komponisten anzukreiden und nimmt in keiner Weise Einfluss auf die Qualität. Eine „Re-Komposition“ erscheint mir da recht überflüssig und entbehrlich.

So lauschte ich aufmerksam auf die Klänge, die aus dem Orchestergraben zu mir vordrangen. Davide Perniceni gelang es mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven die Versatzstücke bravourös miteinander zu verschmelzen. Und doch hätte ich ihm und den Musiker*innen – vor allem Franz Berlin als exzellenter Solist an der Violine – gewünscht, dass sie das Original-Werk hätten zu Gehör bringen dürfen. Trotz des hohen Alters wirkt Vivaldis Musik nach wie vor deutlich frischer, vitaler und beinah unschuldiger auf mich als die besagte verkopfte „Re-Komposition“.

Wie eine Art Entrée stellt Alfonso Palencia die Komposition Fratres von Arvo Pärts dem eigentlichen Hauptwerk voran. Die einfache Melodienfolge mit Streicher und Schlaginstrumente wirkte auf mich sehr ursprünglich, klar und beinah meditativ. Die Tänzer*innen bewegen sich aus einer Embryonalstellung heraus und recken sich gen Licht. Es entsteht der Eindruck, als wäre dies der Ursprung allen Lebens, das im Verlauf der Jahreszeiten einem stetigen Wandel ausgesetzt ist.

Als präsentes Symbol für das Vergehen der Zeit taucht bei DIE VIER JAHRESZEITEN immer wieder eine Sanduhr auf, die von einem Tänzer in Szene gesetzt wird und so den Fokus auf sich lenkt. Palencia setzt immer wieder konträre Bewegungen einander gegenüber: Da gibt es fließende, beinah schwebende Aktionen, die von rohen, abrupten Bewegungen abgelöst werden. Dann bewegen sich die Tänzer*innen wieder sehr synchron in einer Formation, um im nächsten Augenblick in einem choreografierten Chaos auszubrechen. Auch thematisiert Palencia den negativen Einfluss des Menschen (in der Gruppe, als Paar aber auch als Einzelner) auf die Natur, indem er u.a. einen Eisberg Block für Blog durch die Tänzer*innen auflösen lässt, die die einzelnen Brocken über die gesamte Bühne verteilen. Abermals hat Palencia bei der Kreation seiner Choreografie sehr fein auf die Musik gehört und macht so deutlich, dass sich der Wechsel der Jahreszeiten aus einer Vielzahl an Gegensätze gestaltet: Sanft- und Wildheit, An- und Entspannung, Ruhe und Sturm…

Die Kostüme von Rosa Ana Chanzá unterstreichen diesen Wandel: Da wird das frühlingshafte Aufkeimen der Natur durch farbige Socken symbolisiert. Diese Farbigkeit wird beim fallenden Herbstlaub wiederaufgenommen, während im Winter die hellen Anzüge dominieren. Yoko Seyama schuf für ihre variabel einsetzbaren Stoffbahnen, die immer wieder neue Räume entstehen ließen, wunderschöne und stimmungsvolle Projektionen.

Die Ballett-Compagnie, bestehend aus Helena Bröker, Kuang-Yung Chao, Melissa Festa, Volodymyr Fomenko, Giulia Girardi, Lucia Giarratana, Marco Marongiu, Arturo Lamolda Mir, Melissa Panetta, Zoe Irina Sauer Llano, Clara Silva Gomes und Ming-Hung Wenig, tanzte mit Hingabe und brillierte voller Ästhetik sowohl als Ensemble wie in den Solis. Den tosenden Schlussapplaus hatten sich alle Künstler*innen wahrlich verdient.

ANMERKUNG: „Jedes Tierchen sein Plaisierchen!“ lautet ein geflügeltes Sprichwort. Und wie bei vielen Sprichwörtern versteckt sich im Kern ein Funke Wahrheit. Es gibt Ausdrucksformen in der Kunst, die mich mal mehr, mal weniger ansprechen und emotional berühren. Während eine dramatische Opernarie oder eine gefühlvolle Musical-Ballade tiefe Empfindungen bei mir auslösen, kann ich Rap leider recht wenig abgewinnen. Ähnliches erlebe ich zunehmend beim Ballett: Ein Handlungs-Ballett erreicht da viel schneller mein Herz als eine Choreografie zu einem eher abstrakten Thema, wie es bei DIE VIER JAHRESZEITEN der Fall ist. Wobei ich voller Hochachtung und Respekt die Leistung aller Beteiligten anerkenne und wertschätze.

Und da dachte ich immer, ich wäre für alles offen. Doch nun merke ich, dass sich in mir wohl auch ein Traditionalist versteckt. Ups!!! 😆



Wie schnell doch die Zeit vergeht: Es gibt nur noch einige wenige Termine, um mit der Ballett-Kompagnie am Stadttheater Bremerhaven durch DIE VIER JAHRESZEITEN zu reisen.

[Musical] Jerry Bock – THE APPLE TREE (DSE) / Stadttheater Bremerhaven

Musik von Jerry Bock / Liedtexte von Sheldon Harnick / Buch von Jerry Bock, Sheldon Harnick und Jerome Coopersmith / Nach Geschichten von Mark Twain, Frank R. Stockton und Jules Feiffer / deutsche Textfassung von Hartmut H. Forche / Deutschsprachige Erstaufführung

Premiere: 16. März 2024 / besuchte Vorstellung: 28. März & 9. Mai 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni / Tonio Shiga (28.03.)
INSZENIERUNG Rennik-Jan Neggers
BÜHNE & KOSTÜME Alexander McCargar
CHOREOGRAFIE Nele Neugebauer
DRAMATURGIE Torben Selk
CHÖRE Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Wenn es etwas gibt, was ich an „meinem“ Stadttheater Bremerhaven sehr schätze (neben vielen anderen Dingen), dann ist es der Umstand, dass das dortige Team immer wieder sehr rührig ist, um wenig gespielte Stücke von Autor*innen oder Werke von kaum beachteten Komponist*innen wieder für das Publikum ins Rampenlicht zu rücken. So hat das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann zwei wundervolle Symphonien der „vergessenen“ Komponistin Emilie Mayer auf CD eingespielt, die sogar für die renommierten Musikpreise INTERNATIONAL CLASSICAL MUSIC AWARD und OPUS KLASSIK nominiert war. Ebenso stand im vergangenen Jahr mit der Oper BREAKING THE WAVES eine deutsche Erstaufführung auf dem Spielplan, mit der mir ein absolut aufregender und zutiefst bewegender Opern-Momente geschenkt wurde.

Auch in diesem Jahr gibt es auf dem Spielplan eine von diesen in Vergessenheit geratenen Werken zu entdecken: Mit dem Musical THE APPLE TREE präsentiert das Stadttheater sogar eine deutschsprachige Erstaufführung. Die Namen des Komponisten-Texter-Duos ließen mich aufhorchen: Jerry Bock und Sheldon Harnick schufen zwei Jahre vor der Premiere von THE APPLE TREE mit dem warmherzigen FIDDLER ON THE ROOF (bei uns besser bekannt als: ANATEVKA) eines der populärsten und meistgespielten Musicals auf deutschen Bühnen. Eingedeckt mit diesem Hintergrundwissen machte ich mich voller Neugierde und mit hohen Erwartungen auf den Weg Richtung Bremerhaven.

THE APPLE TREE setzt sich aus drei Teilen zusammen: „Das Tagebuch von Adam und Eva“ ist eine ungewöhnliche Variante der Geschichte vom ersten Menschenpaar, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Mark Twain. „Die Lady oder der Tiger?“ ist eine Rock-n-Roll-Geschichte über die Unbeständigkeit der Liebe, angesiedelt in einem mythischen, barbarischen Königreich. „Passionella“ geht auf die Aschenputtel-Variation von Jules Feiffer zurück und handelt von einer Schornsteinfegerin, deren Träume vom Ruhm als Filmstar beinahe ihre Chance auf die wahre Liebe vereiteln.

(Inhaltsangabe der Homepage des Theaterverlages entnommen.)

Leider wirkte das Stück – wahrscheinlich aufgrund dieser Drei-Teilung – sehr wenig homogen auf mich, zumal der Komponist zu den „Variationen über die Versuchung“ (so der Untertitel des Musicals) ebenfalls Variationen im Musik-Stil schuf, die ein verbindendes Leitmotiv vermissen ließen. Da genügte es mir nicht, dass im zweiten wie auch im dritten Teil die Melodie „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“, die die Schlange beim Sündenfall im ersten Teil zum Besten gibt, abermals erklang. Auch zeigte das Stück sowohl im dritten aber vor allem im ersten Teil deutliche Längen, die die Konzentration des Publikums durchaus herausfordern könnte. Leider wurden diese Längen vom Bremerhavener Produktions-Team nicht ausgemerzt, bzw. wahrscheinlich durfte das Team sie nicht ausmerzen, da es Vorgaben vom Verlag gab, die eingehalten werden mussten. Dabei hätten sensible Kürzungen dem Fluss der jeweiligen Geschichte sicherlich äußerst gutgetan.

Ist THE APPLE TREE ein Werk, das im Musical-Kanon eine große Rolle spielt und man somit unbedingt kennen sollte? Nein! Ich wage sogar die dreiste Vermutung zu äußern, dass, würde es nicht vom Glanz ANTAVEKAs profitierten, es schon längst in der Versenkung verschwunden wäre.

Sollte man allerdings die Inszenierung in Bremerhaven gesehen haben? Ja! Was auf dem ersten Blick wie ein Widerspruch anmutet, ist allein einer differenzierten Sichtweise geschuldet. Auch wenn mir einige Aspekte an einem Theaterbesuch weniger zusagen, kann ich doch trotzdem die guten Anteile würdigen, oder?

Regisseur Rennik-Jan Neggers setzt auf nuancierte Rollenporträts, wagt sich auch an die stillen Momente, amüsiert mit kleinen Details „am Rande“ und poliert an der Oberfläche der Dialoge, bis eine feine Ironie zum Vorschein kommt. Zum Glück steht ihm im Stadttheater Bremerhaven eine talentierte Solistenriege wie ein variabler Opernchor zur Verfügung, die alle schon in so manchen Produktionen ihre Vielseitigkeit gezeigt haben. Zumal dieses Musical den Gesangssolisten reichlich Möglichkeiten bietet, sich in den Solos und Duetten von ihrer besten Seite zu zeigen.


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Schon beim ersten Zusammentreffen des pragmatischen Adams von Andrew Irwin mit der quirligen Eva von Victoria Kunze ahnt das Publikum, dass hier viel Potential für sowohl witzige wie auch rührende „Szenen einer Ehe“ zu finden ist. So wird amüsant unterstellen, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau schon in der Schöpfungsgeschichte begründet liegen. Männer und Frauen passen eben nicht zusammen (Eine Tatsache, die mir als schwuler Mann schon seit langem bewusst war!). Und so zeigen Kunze und Irwin eine Vielzahl an Facetten einer zwar durch göttliche Fügung entstandenen aber ansonsten sehr weltlichen Beziehung. Dabei präsentieren sich bei den Songs so manche kleine Perlen, die durch die Interpretation der Künstler*innen einen zarten Lüster erhalten: So entzückte zum Beispiel Victoria Kunze bei „Here in Eden / Hier in Eden“ in ihrem Erstaunen über den ersten Tag auf Erden. Adams Klagelied über „Eve / Eva“ wurde von Andrew Irving so fein akzentuiert gestaltet, dass es die reine Freude war, ihm zu lauschen. Als verführende wie verführerische Schlange trat Marcin Hutek in Erscheinung, um „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“ erfolgreich an die Frau zu bringen. Besonders dem intensiven Zusammenspiel von Kunze und Irwin ist es zu verdanken, dass die Längen beim Einakter Das Tagebuch von Adam und Eva keinen Einfluss auf die Konzentration des Publikums nahmen.

Mit Die Dame oder der Tiger? präsentiert sich der kürzeste Part dieser Trilogie. Diese Kürze scheint der Geschichte durchaus gut zu bekommen, da alles viel komprimierter, viel kompakter wirkt. Die Handlung kommt schneller auf den Punkt und ermöglicht so den Solisten, genüsslich voller Witz und Ironie zu agieren. Hatte ich bei HÄNSEL UND GRETEL noch die mangelnde Textverständlichkeit bei Marcin Huteks Vortrag bedauert, muss er seitdem fleißig an seiner Diktion gearbeitet haben. Brilliert er doch nun gut verständlich als kerniger Hauptmann Sanjar und liefert gemeinsam mit Boshana Milkow als Prinzessin Barbra bei „Forbidden Love / Wenn man verboten liebt“ ein humoristisches Kabinettstückchen ab. Milkow lässt zudem mit lüstern vibrierenden Mezzo beim Song „I’ve Got What You Want / Ich hab’, was du willst“ keinen Zweifel aufkommen, dass es nur eine Frau gibt, die die Krallen ins männliche Objekt der allgemeinen weiblichen Begierde schlagen darf. Diesmal taucht die Schlange/die Verführung in Person des Balladensängers auf, den Patrick Ruyters mit hellem Bariton in „I’ll Tell You a Truth / Das Lied, das ich sing“ die Strippen ziehen lässt. War er beim ersten Teil „nur“ die Stimme Gottes, tänzelt Ulrich Burdack nun als Papa Schlumpf-Lookalike huldvoll winkend über die Bühne oder echauffiert sich entrüstet über die Amouren seiner Tochter Barbra.

Wesentlich mehr hat Burdack im dritten Part Passionella. Eine Romanze aus den Sechzigern zu tun. Es scheint keine Szene zu geben, in der er nicht präsent ist – entweder fungiert er als sympathischer Erzähler, oder er schlüpft pointiert in die diversen Rollen und zaubert dazu aus seiner schier unerschöpflichen magischen Tasche so manche Kostümteile und Requisiten hervor. Im Mittelpunkt der Handlung steht Victoria Kunze als Titelheldin Ella/Passionella, eine einfache Kaminkehrerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein großer Star zu sein. Hier erscheint die Schlange/die Verführung in Form der lieben guten Fee, die Katharina Diegritz scheinbar harmlos verkörpert, aber voller Niedertracht für Verwirrung im Leben von Ella sorgt. Kunze darf u.a. in „Gorgeous / Wahnsinn“ ihre Star-Qualitäten unter Beweis stellen. Ihr zur Seite überzeugt abermals Andrew Irwin, der mit lässigem Hüftschwung als smarter Rock ’n’ Roller Flipp gegenüber Passionella behauptet „You Are Not Real / Du bist nicht real“.

Ausstatter Alexander McCargar designte eine schräge Rampe, die dank einiger strategisch einsetzbarer Bühnenteile und prägnanter „Extras“ sich in die jeweiligen Handlungsorte verwandelte. Mit den Kostümen unterstreicht er den jeweiligen Charakter der Figur: Adam und Eva sind im schlichten Weiß gekleidet, wobei der Alterungsprozess durch graue Kleidungsstücke angedeutet wird. Die an Sandalen-Filme erinnernde Handlung des zweiten Teils wird mit der Farbwahl der Kostüme relativiert bzw. karikiert: Beim Anblick der blau-weißen Kostüme musste ich unwillkürlich an „Die Schlümpfe“ denken. Im dritten Teil trägt der Chor biedere Kleidung in allen Facetten von Beige, während Passionella und Flipp ausgefallene Roben tragen, die die Charaktere der Figuren eher ein wenig überhöhen.

Tonio Shiga und das Philharmonische Orchester Bremerhaven lassen die Melodien von Jerry Bock mit einem Gespür für feine Nuancen aus dem Graben erklingen und verleihen so den bereits erwähnten Song-Perlen einen zusätzlichen Glanz.


Nachtrag zum 9. Mai 2024: Da hatte ich nach meinem ersten Besuch des Musicals THE APPLE TREE, das das Stadttheater Bremerhaven als deutschsprachige Erstaufführung zeigte, doch tatsächlich ein wenig geunkt. So bemängelte ich u.a., dass mir bei der Musik ein verbindendes Leitmotiv fehlte. Zudem empfand ich die Lieder beim ersten Anhören als wenig eingängig. Doch nun saß ich heute in der Dernière und freute mich schon sehr auf einige Songs, die sich im Laufe der Zeit langsam aber stetig in mein Herz geschlichen hatten. Erst beim wiederholten Hören entblätterten sie wie eine Blüte ihre schlichte Schönheit. Daran waren natürlich die tollen Künstler*innen am Stadttheater Bremerhaven nicht ganz unschuldig.

Zumal ich beim THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT am 3. April die wunderbare Gelegenheit hatte, mit Tenor Andrew Irwin, Kapellmeister Tonio Shiga, Dramaturg Torben Selk und dem Leiter des Musiktheaters Markus Tatzig ins Gespräch zu kommen. THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT ist eine Kooperation des Stadttheaters mit der Stadtbibliothek Bremerhaven: An jedem ersten Mittwoch im Monat haben Interessierte die Gelegenheit, ihre Mittagspause in der Stadtbibliothek zu verbringen. Während herzhaft ins Pausenbrot gebissen wird, hört und sieht man auf der dortigen Standkorbbühne Ausschnitte aus dem aktuellen Programm und erhält nebenbei noch einige Hintergrundinformationen.

So bestens präpariert eröffneten sich mir bei meiner heutigen Stippvisite im „Garten Eden“ ganz neue Perspektiven. 🍎


Doch lassen wir bei #angeklopft Victoria Kunze und Andrew Irwin gerne selbst zu Wort kommen.


Ihr möchtet Euch auch der Versuchung hingebe? Dann müsst Ihr Euch beeilen: Es gibt leider nur noch wenige Termine für THE APPLE TREE am Stadttheater Bremerhaven.

[Oper] Engelbert Humperdinck – HÄNSEL UND GRETEL / Stadttheater Bremerhaven

Märchenoper von Engelbert Humperdinck / Libretto von Adelheid Wette

Premiere: 4. November 2023 / besuchte Vorstellungen: 11. und 23. November 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
INSZENIERUNG Marie-Christine Lüling
BÜHNE & KOSTÜME Judith Philipp
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Katharina Konopka

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Elisabeth Schneider


Als im vergangenen Jahr im digitalen Adventskalender des Stadttheaters Bremerhaven gleich zwei Versionen des „Abendsegens“ aus HÄNSEL UND GRETEL erklangen, wagte ich dreist, Intendant Lars Tietje via Instagram die Frage zu stellen, wann mit dieser Oper endlich am Stadttheater zu rechnen wäre. Seine Antwort fiel knapp aber äußerst vielversprechend aus:

„Bald!“

Kaum ein Jahr später verirrt sich dieses berühmte Geschwisterpaar auch schon im Bremerhavener Watt – Äh! – Wald…! 😄

HÄNSEL UND GRETEL ist – neben LA BOHÈME – die Oper, die ich am häufigsten auf der Bühne anschauen durfte. Kaum ein anderes musikalisches Werk trifft so sehr meinen romantischen Nerv. Schon beim Klang der Ouvertüre beginne ich dahin zu schmelzen, und spätestens beim „Abendsegen“ habe ich mich emotional völlig verflüssigt. „Schuld“ daran ist diese unwiderstehliche Mischung aus bekannten Volksweisen, träumerischen Melodien und großen orchestral-üppigen Kompositionen, die Engelbert Humperdinck hier so vortrefflich miteinander vereint hat. Leider scheint dieses Werk aber auch prädestiniert zu sein, die Phantasie von einigen (über-)ambitionierten Regisseur*innen herauszufordern: Da präsentierten sich Hänsel und Gretel in der Vergangenheit durchaus auch mal als Punks, die in der Drogenhöhle der Hexe keine Lebkuchen sondern Joints „naschten“. Oder die beiden Partien von Mutter und Knusperhexe wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert, um so im Sinne der Sozialpsychologie die Ambivalenz in der Beziehung zwischen der Mutter und den Kindern zu verdeutlichen… …bla bla bla! Wer es darauf anlegt, könnte in jeden Text und jedes Libretto je nach Intention so allerlei hineininterpretieren. Wobei ich der Meinung bin, dass es – insbesondere bei einem musikalischen Werk – Grenzen in der Interpretation gibt, die von der Musik vorgegeben werden.

Marie-Christine Lüling überzeugt bei ihrer Inszenierung mit einer charmanten und wohltuend unaufdringlichen Modernisierung, ohne den märchenhaften Charakter des Werkes zu vernachlässigen. Es beginnt schon mit der fein inszenierten Ouvertüre, die sich wortlos vor dem geschlossenen Vorhang abspielt. Hänsel und Gretel sind anfangs zwei hyperaktive Gören mit einer Tendenz zum ADHS, die sich rüpelhaft gegenüber der alten Nachbarin verhalten und ihre Eltern beinah in den Wahnsinn treiben. So war es mehr als verständlich, dass die beiden überforderten Erziehungsberechtigten (erfolglos) versuchen, ihren Nachwuchs ins Bett zu scheuchen, um sich endlich eine wohlverdiente Pause gönnen zu können. Im verwunschenen Wald gleiten die Geschwister im Schlaf hinüber in einen phantastischen Traum, der sie zu einer Hexe führt, die verdächtig viel Ähnlichkeit mit der Nachbarin aufweist. Lülings Konzept überrascht mit so manchen gut durchdachten, aufeinander aufbauenden Details, warf aber auch die eine oder andere Frage auf – insbesondere dann, wenn das Libretto etwas anderes aussagt als das, was auf der Bühne gezeigt wurde. Doch dieser Umstand störte absolut nicht das Gesamtbild, da die Inszenierung mit guten Ideen punktet und sehr viel fürs Auge zu bieten hat.

Ausstatterin Judith Philipp hat die Optik dieser Inszenierung deutlich aber dezent der Erlebniswelt und somit den Sehgewohnheiten der heutigen Kindergeneration angepasst. Bei ihr werden die Engel zu Waldgeistern und entspringen direkt aus dem Kinderzimmer von Hänsel und Gretel: Die Spielsachen und Plüschtiere entwickeln ein Eigenleben, und so wachen Rabe, Puschel, Dino, Nordchen und Friedel beschützend über den Schlaf der Geschwister. Bedauerlicherweise sind von den ursprünglich 14 Engeln nur noch 5 Waldgeister übrig geblieben, was für mich den Zauber in dieser Szene etwas minimierte. Der Wald wächst dschungelartig-üppig aus dem Schnürboden hinab zur Erde. Das Hexenhaus wirkt wie die Geschenkverpackung aus einer Confiserie. Hier knabbern Hänsel und Gretel nicht an Lebkuchen, vielmehr naschen sie an Donuts, Schaumzucker, Macarons und Lollis. Auch die verzauberten Kinder bestehen nicht aus Lebkuchen sondern sind zuckersüße Marshmallow-Männchen.

Ⓒ Foto Stadttheater Bremerhaven. HÄNSEL UND GRETEL

Das Taumännchen: Von der Kinderzeichnung über die Figurine zum Kostüm auf der Bühne.

Im Vorfeld fand ein Workshop mit Grundschul-Kindern statt, bei dem die Schüler*innen unter der Anleitung der Theaterpädagoginnen eigene Figuren zu Taumännchen, Sandmännchen und den Engeln/Waldgeistern entwickeln konnten. Die phantasievollen Kreationen sind dann in die Entwürfe von Judith Philipp eingeflossen. Eine großartige und nachahmenswerte Vorgehensweise, um in einer Inszenierung die Ideen von Kindern für Kinder sichtbar zu machen.


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Unter der musikalischen Leitung des 1. Kapellmeisters Davide Perniceni bot das Philharmonische Orchester Bremerhaven genau das, was ich eingangs bereits erwähnt und mir so sehr erhofft hatte: Schwelgerisch strömten die Melodien aus dem Orchestergraben. Dramatisch akzentuiert lässt Perniceni die Musiker das Geschehen auf der Bühne kommentieren, um im nächsten Augenblick die Gesangsstimmen der Sänger*innen fein nuanciert unterstützen zu lassen. Schön!

Das Stadttheater Bremerhaven gönnt sich den Luxus und besetzt die Partien von Sandmännchen und Taumännchen jeweils mit einer Sängerin. Aufgrund der Überschaubarkeit der Rollen (oder aus Kostengründen) werden diese auch gerne von nur einer einzigen Sopranistin verkörpert, was allerdings durchaus zur Folge haben kann, dass die Partien sehr ähnlich interpretier werden. Doch manchmal gibt es auch für Sänger*innen Termine, die unaufschiebbar sind: In der besuchten Vorstellung übernahm Marlene Mesa neben ihrer Rolle als Sandmännchen auch für die verhinderte Kollegin die Rolle des Taumännchen und verlieh beiden Partien ein eigenständiges Profil. Ihr Sandmännchen amüsierte mit einer sympathisch-drolligen Gemütlichkeit, während sie das Taumännchen vor positiver Energie überschäumen ließ. Die junge Künstlerin gestaltete ihre Solis mit sehr viel Wärme und erfreute mit einer individuellen Klangfarbe in ihrer Stimme.

Die gestressten Eltern werden von Eva Maria Summerer und Marcin Hutek verkörpert. Die Hektik, Überforderung und Anspannung der Mutter spiegeln sich passenderweise in der Stimme von Eva Maria Summerer wider: Ein klassischer Schöngesang wäre auch völlig fehl am Platze wäre. Der Vater von Marcin Hutek wirkt da deutlich gemächlicher und versucht im chaotischen Haushalt für Ruhe zu sorgen. Dabei sind seine Maßnahmen, um die Kids zur Räson zu bringen, nicht unbedingt „pädagogisch wertvoll“. Bei „Wenn sie sich verirrten im Walde“ zitiert Hutek mit seinem warmen, flexiblen Bariton beinah ein Horrorszenario herauf, nur um die Gören im Bett zu halten. Einziger Kritikpunkt sowohl bei Summerer als auch bei Hutek: Bei Beiden hätte ich mir eine bessere Textverständlichkeit gewünscht.

Andrew Irwin zeigt – auch dank Maske und Kostüm – abermals sein Wandlungsfähigkeit: Doch was nützt die schönste Maske, wenn der Künstler ihr kein Leben einhauchen könnte. Anfangs als alte Nachbarin war er noch bemitleidenswert unsicher auf den Beinen, ließ da aber schon nur mit einem Blick die Bedrohung erahnen. Bei seinem ersten Auftritt im Wald schwebt er spektakulär vom Himmel herab, um sich dann in einen „Devil on Drag“ zu verwandeln, der die Bühne einem Laufsteg gleich für sich einnimmt. Dabei variiert er seine Stimme vom tenoralen Ausbruch bis zum verführerischen Gesäusel und bleibt trotz rollenbedingtem Gezicke und Gezeter der faszinierende Anti-Held.

Mit Boshana Milkow und Victoria Kunze verkörpern zwei talentierte Künstlerinnen die Titel-Partien, die ihre immense Spielfreude mit Feingefühl und Takt verbinden, sodass zu keinem Zeitpunkt der feine Grad zwischen kindlichem Enthusiasmus und peinlicher Übertreibung überschritten wurde. Vielmehr spielen sich die Beiden immer wieder schelmisch die Bälle aka die Pointen gegenseitig zu. Von kleinen Gesten über gegenseitige Frotzelei bis zum liebevollen Gute-Nacht-Kuss zeigen sie ganz und gar entzückend die innige Verbundenheit des Geschwisterpaares. Dass sie zudem wundervolle Sängerinnen sind, habe ich in der Vergangenheit schon häufig und ausführlich erwähnt. Hier überzeugen sie abermals in ihren Solis mit fein geführten Gesangslinien und harmonieren ausgesprochen stimmschön in den reichlich vorhandenen Duetten. Stichwort: „Abendsegen“: Seufz!

Apropos „kindlicher Enthusiasmus“: Nicht nur der Opernchor erfuhr durch Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández in den letzten Jahren eine Frischzellenkur. Gemeinsam mit Katharina Diegritz formte er ebenfalls einen ganz und gar wunderbaren Kinderchor, dessen jugendliche Mitglieder so entzückend natürlich agierten und dabei auch noch ganz famos sangen. Bravo!

In diesen verrückten Zeiten schenkt das Stadttheater Bremerhaven seinem Publikum mit dieser Inszenierung eine Rundum-Wohlfühl-Packung: 2 Stunden lang durfte ich mich einfach nur fallen lassen und konnte so meine Sorgen um mich herum sowie das Chaos auf dieser Welt vergessen. Danke! 💖


Nachtrag zum 23. November 2023: Manchmal komme ich in den luxuriösen Genuss und darf mir eine Inszenierung mehrmals anschauen. In diesem Fall habe ich es meinem Gatten zu verdanken, der beim ersten Besuch malade daheim bleiben musste. Doch dann hat er so sehr gequengelt, dass ich des lieben Friedens willen abermals Karten orderte.

So saßen wir gestern im Stadttheater Bremerhaven in einer Aufführung der Märchenoper HÄNSEL UND GRETEL. Und während für meinen Gatten alles aufregend neu war, konnte ich mich entspannt zurücklehnen, da ich mich weniger auf die Haupthandlung konzentrieren brauchte. Dafür durfte ich mehr die vielen, kleinen charmanten Details genießen, die mir teilweise beim ersten Anschauen völlig entgangen sind (Hat der Mond mir bei meinem ersten Besuch auch schon vom Bühnenhimmel zugeblinzelt?). Diesmal stand als Taumännchen die junge Sopranistin Annemarie Pfahler auf der Bühne, die diesen Part entzückend gestaltete. Für den erkrankten Kollegen übernahm Bariton Patrick Ruyters die Partie des Vaters. Ruyters ist Mitglied des Opernchores und bewies nachdrücklich, dass die dortigen Sänger*innen weit mehr sind als nur „die 2. Reihe“. Naja, und das vokale Dreigestirn, bestehend aus Hänsel, Gretel und Knusperhexe, war abermals exquisit…!

Ich bin so froh, dass ich als Zuschauer in meiner Sichtweise und Wahrnehmung nicht so festgefahren bin, dass ich ungewöhnliche Regie-Konzepte nicht zu schätzen wüste. Vielmehr empfinde ich es als eine wunderbare Chance, dass ich in einem mir bekannten Werk überraschend neue Aspekte entdecken darf.

Ich glaube, dass es gerade bei HÄNSEL UND GRETEL schier unmöglich ist, den Geschmack aller zu treffen, da viele Erinnerungen mit diesem Werk verknüpft werden. Diese Erinnerungen können es durchaus erschweren, sich unvoreingenommen einer Inszenierung zu nähern. Der daraus resultierende Unmut wird dann von einigen „Theater-Fans“ ungefiltert in die Hemisphäre gepustet. Da tauchen dann so manche „kritische“ Kommentare in den sogenannten sozialen (!) Medien auf, die weit weniger etwas über die Inszenierung als vielmehr etwas zur Geisteshaltung des Verfassers aussagen. Da gab/gibt und wird es bedauerlicherweise wohl immer geben die ewig Gestrigen und permanent Traditionellen, die eine starre Vorstellung davon haben, wie eine gelungene HÄNSEL UND GRETEL-Inszenierung auszusehen hat. Abweichungen unerwünscht! Entsprechen besagte Abweichungen nicht ihren Vorstellungen, dann taugt die gesamte Aufführung nichts, und selbst die musikalischen Qualitäten von Orchester und Sänger*innen-Ensemble verschwinden hinter dem vernichtenden Urteil. Da wird von der „schrecklichsten Produktionen, die ich je gesehen habe“ gepoltert, und Forderungen nach „Subventionen streichen“ werden laut. Ein differenziertes, faires und vor allem respektvolles Feedback scheint nicht möglich!

Wenn ich eine solche „Kritik“ lese, frage ich mich immer ernsthaft, ob ich tatsächlich genau dieselbe Inszenierung wie der Verfasser gesehen habe. Auch ich habe durchaus die eine oder andere kritische Anmerkung in meinem obigen Beitrag hinterlassen. Doch ich konnte nichts feststellen, was diese geballte Masse an Negativität rechtfertigen könnte. Im Gegenteil: Ich fühlte mich ganz und gar wunderbar unterhalten! 😍

Ich persönlich möchte nicht die ewig, gleichen Inszenierungen, die nach einem vorgegebenen Schema entstehen, auf der Bühne sehen. Ich wünsche es mir nicht nur – Nein! – ich erwarte und fordere es regelrecht, dass mir ein buntes, lebendiges Theater geboten wird, das mich auch durchaus herausfordern und zum (Mit-)Denken animieren darf und muss.


Noch bis Mitte Januar 2024 besteht die Möglichkeit, sich mit HÄNSEL UND GRETEL am Stadttheater Bremerhaven märchenhaft verführen zu lassen.

[Oper] Giacomo Puccini – TOSCA / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Giacomo Puccini / Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa / in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 23. September 2023 / besuchte Vorstellung: 14. Oktober 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann
INSZENIERUNG Angela Denoke
BÜHNE & KOSTÜME Susana Mendoza
GEMÄLDE anna.laclaque
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
ASSISTENZ BÜHNE Theresa Steiner
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Stimme heiser geschrien, Arme und Schultern zum Muskelkater geschunden und Hände wund geklatscht: So saß ich nach der Vorstellung der Oper TOSCA am Stadttheater Bremerhaven neben meinem Gatten im Auto, und wir fuhren Richtung Heimat. Still saßen wir nebeneinander, sprachen kein Wort und versuchten das soeben Gehörte, Gesehene und Empfundene zu verarbeiteten. Ein geseufztes „Schön war’s!“ war zum besagten Zeitpunkt der einzige Ausspruch, den ich nicht unterdrücken konnte, danach herrschte wieder Stille. Doch genau dieses kurze und schlichte „Schön war’s!“ umrahmte ziemlich genau all die Gefühle und Gedanken, die mir in dem Moment durch Herz, Hirn und Seele tobten.

Schon mit ihrer ersten Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven empfiehlt sich Regisseurin Angela Denoke als eine kluge Beobachterin der menschlichen Psyche. Denoke ist selbst eine international gefeierte wie auch mit Preisen ausgezeichnete Sopranistin und wagte im Jahre 2021 ihr Regie-Debüt. Auch in diesem Metier wurden ihre Arbeiten prämiert, u.a. bekam sie erst im September den renommierten Österreichischen Musiktheaterpreis 2023 für ihre Regie von SALOME am Tiroler Landestheater Innsbruck verliehen. Ihre Inszenierung in Bremerhaven besticht durch Schlichtheit, Intelligenz und Emotionalität.

Der politische Gefangene Angelotti versteckt sich in der Kirche St. Andrea, wo sein Freund, der Maler Mario Caravadossi ein Madonnenbild fertigstellt. Als Vorlage diente ihm das Gesicht einer jungen Frau, die zum Beten regelmäßig in die Kirche kommt. Der Mesner erkennt in diesen Gesichtszügen die Gräfin Attavanti, Angelottis Schwester. Als Tosca die Kirche betritt, versteckt sich Angelotti erneut. Im Bild der Maria erkennt die Primadonna ebenfalls die Ähnlichkeit mit der Gräfin und reagiert mit Eifersucht. Caravadossi überzeugt sie aber von seiner Liebe und schickt sie fort. Kanonenschüsse sind zu hören. Angelottis Flucht wurde entdeckt, und Cavaradossi bietet ihm seinen Garten als Versteck an. Der Polizeichef Scarpia kommt in die Kirche und bemerkt sofort anhand einiger Indizien, dass Angelotti an diesem Ort war. Außerdem findet Scarpia einen Fächer. Er behauptet gegenüber Tosca, dies sei der Fächer der Gräfin, die mit dem Maler eine Affäre hätte. Schluchzend verlässt Tosca die Kirche, in der jetzt ein „Te Deum“ anlässlich des Sieges über Napoleon gefeiert wird. Scarpia schwört sich unterdessen, die Gunst Toscas zu erobern. In seiner Villa lässt er Caravadossi durch seine Schergen Spoletta und Scarrione genau in dem Moment vorführen, als auch Tosca eintrifft. Der Polizeichef befiehlt, Mario Caravadossi foltern zu lassen, bis er das Versteck des geflohenen Angelotti verrät. Tosca ist erschüttert und verrät nun selbst das Versteck. Darüber ist nun Caravadossi so empört, dass er den Polizeichef verspottet, indem er sich über einen scheinbaren Sieg Napoleons freut. Daraufhin ordnet Scarpia seine Exekution an. Nur wenn Tosca sich mit ihm einlässt, würde er ihren geliebte Maler verschonen. Kurz darauf stellt sich heraus, dass sich Angelotti umgebracht hat, um der Gefangenschaft zu entgehen. Trotzdem bleibt Scarpia bei seiner erpresserischen Methode, um Tosca zu unterwerfen. Als Lohn für ihre Gunst würde er eine Scheinhinrichtung organisieren, Mario Cavaradossi aber anschließend freilassen. Als sich Scarpia schließlich Tosca nähert, ersticht sie ihn mit dem Ausruf „Hier ist Toscas Kuss!“. Die Hinrichtung von Mario Caravadossi findet in einer Stunde statt: Tosca kommt und erzählt ihm, dass sie Scarpia getötet hat, und ihm nur eine Scheinhinrichtung bevorstehe. Er solle wie in einem Theaterstück mitspielen und sich, nachdem geschossen wurde, zu Boden fallen lassen. Die Hinrichtung folgt, Schüsse fallen, und Cavaradossi stürzt zu Boden. Tosca flüstert ihm zu, dass er sich still verhalten soll, bis die Vollstrecker verschwunden sind. Dann bemerkt sie, dass ihr Geliebter tot ist. Scarpia hat sich nun endgültig gerächt und Mario tatsächlich töten lassen. Bevor der Polizeiagent Spoletta sie wegen dem Mord an Scarpia verhaften kann, wählt Tosca den Freitod.

Angela Denoke verzichtet auf billige Effekthascherei und bleibt nah am Realismus. Zeitlich ordnet sie die Handlung nicht eindeutig ein: Einerseits werden wir an die eigene Geschichte unseres Landes erinnert, andererseits wirft sie einen kritischen Blick auf aktuelle Geschehnisse in Ländern, wo Populisten an der Macht sind. Dabei zeigt sie aber ebenso auf, dass selbst in einem totalitären Regime, kleine Blumen der Menschlichkeit am Wegesrand erblühen können: Der Mesner sieht sich als Hirte/Beschützer und achtet liebevoll auf die Kinder seiner Gemeinde; der Schließer lehnt beinah scheu einen Lohn vom Gefangenen Cavaradossi ab, als er sich bereit erklärt, Tosca eine Nachricht zu überbringen.

Die Motivation der handelnden Personen entwickelt die Regisseurin aus den Vorgaben des Librettos und vermeidet klischeeartige Charakterisierungen (schwarz – weiß, schön – hässlich, gut – böse). So befreit sie die Personen aus dem Korsett schablonenhafter Opernfiguren. Vielmehr lässt Denoke sie als reale Wesen agieren, die auch durchaus eine ambivalente Haltung zueinander haben dürfen. So behauptet der „böse“ Scarpia zwar, dass er Tosca, wie alle bisherigen Frauen vor ihr, abservieren wird, nachdem er ihre Gunst erhalten hat. Allerdings sprechen ihre Porträts in seinem Zimmer und der gesenkte Blick voller Unsicherheit und Scham beim Zusammentreffen mit ihr eine andere Sprache. Und auch Tosca zeigt gegenüber ihrem Peiniger unvermittelt Mitgefühl, als sie ihm, nachdem er erstochen vor ihr liegt, beinah liebevoll das Totenbett richtet. Aus der inneren Diskrepanz und den Seelenzuständen der Figuren entwickelt sich eine so hohe emotionale Spannung, die eine äußere Ablenkung unnötig macht.

Ausstatterin Susana Mendoza kleidet das Ensemble in gedeckten Tönen bar jeglichem Glamour. Einzig Tosca darf ihre mondäne Robe einem Schutzwall gleich tragen, die ihr allerdings Schicht für Schicht entrissen wird, bis ihre Empfindungen völlig bar und bloß liegen. Auf der mit schwarzem Stoff ausgeschlagenen Bühne platziert Mendoza ein riesiges Holzkreuz, das mal als Altar, Schreibtisch oder Laufsteg fungiert und mal schutzbietend, mal offenbarend wirkt. Einzig ein langer Vorhang und die großen Porträts setzen (im Kombination mit dem stimmungsvollen Licht-Design von Thomas Güldenberg) gekonnt Akzente im eher reduzierten Bühnenbild. Minimalismus „at its best“.

Während in anderen Inszenierungen das Bild der Madonna im 1. Akt die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zieht, wird uns hier ein Blick darauf verwehrt. Vielmehr liegt der Fokus voll und ganz auf unserer Titelheldin, die ab dem 2. Akt durch drei überlebensgroße Porträts allgegenwärtig ist. Diese ausdrucksstarken Kunstwerke schuf die Performancekünstlerin anna.laclaque, und ich würde mir so sehr wünschen, dass sie nach Beendigung der Aufführungsserie einen festen Platz im Foyer des Theaters finden dürften.


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„Ich möchte Menschen zum Weinen bringen: darin liegt alles…!“ lautet ein überliefertes Zitat von Giacomo Puccini. Damit ihm dies gelang, wählte er melodramatische Sujets und schuf dafür eine aufwühlende Musik. Bei GMD Marc Niemann und dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven waren die Kompositionen des Maestros in den aller-allerbesten und -fähigen Händen. Die schwelgerischen Melodienbögen, die ich so sehr an Puccinis Musik mag, flossen schier aus dem Orchestergraben. Mal rollte die Musik leidenschaftlich und kraftvoll über mich hinweg, dann wieder erklangen die Arien zart und voller Süße. Wunderbar!

Mario El Fakih Hernández bewies auch diesmal, dass er mit Chor und Extrachor einen voluminösen Klangkörper schaffen kann, der u.a. beim „Te Deum“ stimmstark für einen Gänsehaut-Moment bei mir sorgte. Unterstützung erhielt er beim Kinderchor durch Katharina Diegritz, die abermals die kleine Rasselbande zu motivieren wusste, ohne dass der Wohlklang zu Schaden kam. Als Solist aus dem Kinderchor sang Paul Dimitrov mit einem berührenden, beinah brüchigen Knabensopran sein klagendes Lied und wirkte dabei in seinem Erscheinungsbild weniger als junger Hirte. Vielmehr stellte er für mich einen Engel des Todes dar, der in seiner Reinheit die Verstorbenen über die Schwelle führt: Richtung offen. Das Sterben kann durchaus durch schändliche Umstände befleckt sein, doch der Tod ist stets unschuldig und unberührt.

Die Schergen Scarpias wurden durch Andrew Irwin (Spoletta) und James Bobby (Scarrione) im Himmler-Look beängstigend unsympathisch porträtiert. Wobei besonders Andrew Irwin in seiner Rolle eine anbiedernde und umso abstoßendere Unterwürfigkeit darbot. Marcin Hutek konnte sein Talent in den beiden kleinen Rollen als Angelotti bzw. der Schließer leider nur bedingt zeigen: Eine große Partie (Barbier oder Don Giovanni) wäre ihm endlich zu gönnen. Ulrich Burdack gefiel als mitfühlender, allzu menschlicher Mesner und sorgte im Zusammenspiel mit dem Kinderchor für die wenigen auflockernden Momente in dieser „Opera drammatica“.

Bleibt „nur“ noch unser „Trio infernale“ bestehend aus Tosca, Cavaradossi und Scarpia: Gast Bryan Boyce ließ hinter Scarpias Fassade des machtbesessenen und geltungshungrigen Despoten auch die Unsicherheit der Figur durchblitzen. Mit seinem dunklen, vollen Bass-Bariton vermochte er sowohl die stätig unterschwellig mitschwingende Gefahr wie auch die innere Zerrissenheit, die Scarpia als gebrochenen Charakter kennzeichnet, zu vermitteln. So gelang es ihm, innerhalb eines eher statischen Rollenprofils, feine Nuancen in der Darstellung herauszukitzeln.

Konstantinos Klironomos vermittelte glaubhaft Mario Cavaradossis Wandel vom anfänglich jugendlichen Helden zum gebrochenen Mann: Klironomos platzierte seine ungestümen Ausbrüche voller tenoraler Kraft und agiler Geschmeidigkeit. In Etappen veränderte sich seine Stimme. Beinah schmerzlich spürte ich beim Zuschauen/Zuhören die zunehmende Tragik. Die Arie „E lucevan le stelle/ Es funkeln die Sterne“ gestaltete er einerseits voller Süße, und gleichzeitig schwang eine Bitterkeit in jedem Ton mit. Gemeinsam mit Signe Heiberg als Floria Tosca bildete er ein umwerfendes Leading-Paar, das sich vokal ergänzte und darstellerisch die Bälle zuwarf.

Heibergs Tosca war die absolut Künstlerin, die verehrungswürdige Diva und ganz Weib, der es unter anderen Umständen nie in den Sinn gekommen wäre, dass sie angreifbar sein könnte. Nur tröpfchenweise sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass von ihrem Verhalten das Wohl anderer Menschen abhängt, und dass der Verlust von Stolz und Würde ein geringeres Opfer bedeutet gegenüber dem Tod ihres Geliebten. Heiberg schleuderte ihren auftrumpfenden Sopran wie eine Waffe ihren Gegnern entgegen, nur um im nächsten Moment in fein geführten Gesangslinien die ambivalenten Gefühle der Figur zu verdeutlichen. Mit der berühmten Arie „Vissi d’arte, vissi d’amor/ Nur der Schönheit weihte ich mein Leben“ wendet sich Tosca flehentlich zu Gott, bei der ich in der brillanten Interpretation durch Signe Heiberg Empfindungen wie Machtlosigkeit und Resignation herauszuhören schien.

Von den anfangs so selbstbewussten und kraftstrotzenden Charakteren blieben nur noch Menschen mit zerbrochenen Seelen zurück, denen die Vergangenheit genommen und die Zukunft verwehrt wurde. Und so hilten sich Floria und Mario wie verängstigte Kinder in einem kurzen, flüchtigen Moment des Glücks nochmals an der Hand, vielleicht schon ahnende, dass keine frohe Zukunft auf sie wartet, sondern dass auch sie nur allzu bald dem Engel des Todes folgen werden…!

Zwischen dem letzten verklungenen Ton aus dem Orchestergraben und dem Einsetzten des aufbrausenden Beifalls löste sich aus meiner Brust ein Seufzer: „Schön war’s!“


Nachwort: Seitdem ich mich dem Stadttheater Bremerhaven verbundener fühle, verfolge ich auch ein wenig die mediale Berichterstattung über das Haus und besonders zu den jeweiligen Inszenierungen. Dabei fällt mir zunehmend auf, dass sich im Feuilleton immer noch Plattitüden standhaft halten, die – meiner Meinung nach – wenig aussagekräftig, wenig differenziert sind. Da wird sich einer Sprache bedient, die hinter ihrem scheinbaren Wohlwollen eine kleine Giftspritze verbirgt.

So schrieb Wolfgang Denker im „Weser Kurier“ über die gesanglichen Leistungen von Signe Heiberg und Konstatinos Klironomos „Beide würden in diesen Partien auch an weit größeren Häusern Eindruck machen.“. Ich las dies und stellte mir unverzüglich die Frage „Was möchte Herr Denker mit diesem Satz ausdrücken?“. Ich machte mir da durchaus so meine Gedanken, und natürlich sind meine Interpretationen absolut subjektiv. Aber ich bin in der Zwischenzeit auch müde geworden, ständig irgendwelche indifferenten Worthülsen lesen zu müssen.

Oberflächlich wirkt dieser Satz wie ein Lob: „Hey, die Beiden hätten das Zeug, auch an größeren Häusern zu singen.“, dann der Untertext: „Doch warum sind sie dann im Kaff Bremerhaven hängen geblieben?“. Der Umkehrschluss wäre für mich: An einer provinziellen Klitsche wie das Stadttheater Bremerhaven sind brillante Künstler*innen verschwendet, da täten es doch auch durchschnittliche Sänger*innen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie einige Schreiberlinge (m/w/d) es mit einer untrüglichen Sicherheit schaffen, den Künstler*innen und/oder dem Theater unterschwellig eine Watschen zu verpassen und dies als positives Feed-back zu verpacken. Ihr denkt vielleicht, dass ich übertreibe, allzu empfindlich reagiere, oder es sich gar um einen Einzelfall handelt?

Au contraire, mes amis!

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Folge 2 „…prädestiniert sie/ihn auch für Wagner-Partien.“
Folge 3 „…dem überdurchschnittlichen Sängercast.“
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Grandiose Sänger*innen, grandioses Orchester, grandiose Inszenierung: Worauf wartet ihr noch? Ab mit euch zu TOSCA am Stadttheater Bremerhaven.