[Musical] Jerry Bock – THE APPLE TREE (DSE) / Stadttheater Bremerhaven

Musik von Jerry Bock / Liedtexte von Sheldon Harnick / Buch von Jerry Bock, Sheldon Harnick und Jerome Coopersmith / Nach Geschichten von Mark Twain, Frank R. Stockton und Jules Feiffer / deutsche Textfassung von Hartmut H. Forche / Deutschsprachige Erstaufführung

Premiere: 16. März 2024 / besuchte Vorstellung: 28. März & 9. Mai 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni / Tonio Shiga (28.03.)
INSZENIERUNG Rennik-Jan Neggers
BÜHNE & KOSTÜME Alexander McCargar
CHOREOGRAFIE Nele Neugebauer
DRAMATURGIE Torben Selk
CHÖRE Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Wenn es etwas gibt, was ich an „meinem“ Stadttheater Bremerhaven sehr schätze (neben vielen anderen Dingen), dann ist es der Umstand, dass das dortige Team immer wieder sehr rührig ist, um wenig gespielte Stücke von Autor*innen oder Werke von kaum beachteten Komponist*innen wieder für das Publikum ins Rampenlicht zu rücken. So hat das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann zwei wundervolle Symphonien der „vergessenen“ Komponistin Emilie Mayer auf CD eingespielt, die sogar für die renommierten Musikpreise INTERNATIONAL CLASSICAL MUSIC AWARD und OPUS KLASSIK nominiert war. Ebenso stand im vergangenen Jahr mit der Oper BREAKING THE WAVES eine deutsche Erstaufführung auf dem Spielplan, mit der mir ein absolut aufregender und zutiefst bewegender Opern-Momente geschenkt wurde.

Auch in diesem Jahr gibt es auf dem Spielplan eine von diesen in Vergessenheit geratenen Werken zu entdecken: Mit dem Musical THE APPLE TREE präsentiert das Stadttheater sogar eine deutschsprachige Erstaufführung. Die Namen des Komponisten-Texter-Duos ließen mich aufhorchen: Jerry Bock und Sheldon Harnick schufen zwei Jahre vor der Premiere von THE APPLE TREE mit dem warmherzigen FIDDLER ON THE ROOF (bei uns besser bekannt als: ANATEVKA) eines der populärsten und meistgespielten Musicals auf deutschen Bühnen. Eingedeckt mit diesem Hintergrundwissen machte ich mich voller Neugierde und mit hohen Erwartungen auf den Weg Richtung Bremerhaven.

THE APPLE TREE setzt sich aus drei Teilen zusammen: „Das Tagebuch von Adam und Eva“ ist eine ungewöhnliche Variante der Geschichte vom ersten Menschenpaar, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Mark Twain. „Die Lady oder der Tiger?“ ist eine Rock-n-Roll-Geschichte über die Unbeständigkeit der Liebe, angesiedelt in einem mythischen, barbarischen Königreich. „Passionella“ geht auf die Aschenputtel-Variation von Jules Feiffer zurück und handelt von einer Schornsteinfegerin, deren Träume vom Ruhm als Filmstar beinahe ihre Chance auf die wahre Liebe vereiteln.

(Inhaltsangabe der Homepage des Theaterverlages entnommen.)

Leider wirkte das Stück – wahrscheinlich aufgrund dieser Drei-Teilung – sehr wenig homogen auf mich, zumal der Komponist zu den „Variationen über die Versuchung“ (so der Untertitel des Musicals) ebenfalls Variationen im Musik-Stil schuf, die ein verbindendes Leitmotiv vermissen ließen. Da genügte es mir nicht, dass im zweiten wie auch im dritten Teil die Melodie „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“, die die Schlange beim Sündenfall im ersten Teil zum Besten gibt, abermals erklang. Auch zeigte das Stück sowohl im dritten aber vor allem im ersten Teil deutliche Längen, die die Konzentration des Publikums durchaus herausfordern könnte. Leider wurden diese Längen vom Bremerhavener Produktions-Team nicht ausgemerzt, bzw. wahrscheinlich durfte das Team sie nicht ausmerzen, da es Vorgaben vom Verlag gab, die eingehalten werden mussten. Dabei hätten sensible Kürzungen dem Fluss der jeweiligen Geschichte sicherlich äußerst gutgetan.

Ist THE APPLE TREE ein Werk, das im Musical-Kanon eine große Rolle spielt und man somit unbedingt kennen sollte? Nein! Ich wage sogar die dreiste Vermutung zu äußern, dass, würde es nicht vom Glanz ANTAVEKAs profitierten, es schon längst in der Versenkung verschwunden wäre.

Sollte man allerdings die Inszenierung in Bremerhaven gesehen haben? Ja! Was auf dem ersten Blick wie ein Widerspruch anmutet, ist allein einer differenzierten Sichtweise geschuldet. Auch wenn mir einige Aspekte an einem Theaterbesuch weniger zusagen, kann ich doch trotzdem die guten Anteile würdigen, oder?

Regisseur Rennik-Jan Neggers setzt auf nuancierte Rollenporträts, wagt sich auch an die stillen Momente, amüsiert mit kleinen Details „am Rande“ und poliert an der Oberfläche der Dialoge, bis eine feine Ironie zum Vorschein kommt. Zum Glück steht ihm im Stadttheater Bremerhaven eine talentierte Solistenriege wie ein variabler Opernchor zur Verfügung, die alle schon in so manchen Produktionen ihre Vielseitigkeit gezeigt haben. Zumal dieses Musical den Gesangssolisten reichlich Möglichkeiten bietet, sich in den Solos und Duetten von ihrer besten Seite zu zeigen.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Schon beim ersten Zusammentreffen des pragmatischen Adams von Andrew Irwin mit der quirligen Eva von Victoria Kunze ahnt das Publikum, dass hier viel Potential für sowohl witzige wie auch rührende „Szenen einer Ehe“ zu finden ist. So wird amüsant unterstellen, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau schon in der Schöpfungsgeschichte begründet liegen. Männer und Frauen passen eben nicht zusammen (Eine Tatsache, die mir als schwuler Mann schon seit langem bewusst war!). Und so zeigen Kunze und Irwin eine Vielzahl an Facetten einer zwar durch göttliche Fügung entstandenen aber ansonsten sehr weltlichen Beziehung. Dabei präsentieren sich bei den Songs so manche kleine Perlen, die durch die Interpretation der Künstler*innen einen zarten Lüster erhalten: So entzückte zum Beispiel Victoria Kunze bei „Here in Eden / Hier in Eden“ in ihrem Erstaunen über den ersten Tag auf Erden. Adams Klagelied über „Eve / Eva“ wurde von Andrew Irving so fein akzentuiert gestaltet, dass es die reine Freude war, ihm zu lauschen. Als verführende wie verführerische Schlange trat Marcin Hutek in Erscheinung, um „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“ erfolgreich an die Frau zu bringen. Besonders dem intensiven Zusammenspiel von Kunze und Irwin ist es zu verdanken, dass die Längen beim Einakter Das Tagebuch von Adam und Eva keinen Einfluss auf die Konzentration des Publikums nahmen.

Mit Die Dame oder der Tiger? präsentiert sich der kürzeste Part dieser Trilogie. Diese Kürze scheint der Geschichte durchaus gut zu bekommen, da alles viel komprimierter, viel kompakter wirkt. Die Handlung kommt schneller auf den Punkt und ermöglicht so den Solisten, genüsslich voller Witz und Ironie zu agieren. Hatte ich bei HÄNSEL UND GRETEL noch die mangelnde Textverständlichkeit bei Marcin Huteks Vortrag bedauert, muss er seitdem fleißig an seiner Diktion gearbeitet haben. Brilliert er doch nun gut verständlich als kerniger Hauptmann Sanjar und liefert gemeinsam mit Boshana Milkow als Prinzessin Barbra bei „Forbidden Love / Wenn man verboten liebt“ ein humoristisches Kabinettstückchen ab. Milkow lässt zudem mit lüstern vibrierenden Mezzo beim Song „I’ve Got What You Want / Ich hab’, was du willst“ keinen Zweifel aufkommen, dass es nur eine Frau gibt, die die Krallen ins männliche Objekt der allgemeinen weiblichen Begierde schlagen darf. Diesmal taucht die Schlange/die Verführung in Person des Balladensängers auf, den Patrick Ruyters mit hellem Bariton in „I’ll Tell You a Truth / Das Lied, das ich sing“ die Strippen ziehen lässt. War er beim ersten Teil „nur“ die Stimme Gottes, tänzelt Ulrich Burdack nun als Papa Schlumpf-Lookalike huldvoll winkend über die Bühne oder echauffiert sich entrüstet über die Amouren seiner Tochter Barbra.

Wesentlich mehr hat Burdack im dritten Part Passionella. Eine Romanze aus den Sechzigern zu tun. Es scheint keine Szene zu geben, in der er nicht präsent ist – entweder fungiert er als sympathischer Erzähler, oder er schlüpft pointiert in die diversen Rollen und zaubert dazu aus seiner schier unerschöpflichen magischen Tasche so manche Kostümteile und Requisiten hervor. Im Mittelpunkt der Handlung steht Victoria Kunze als Titelheldin Ella/Passionella, eine einfache Kaminkehrerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein großer Star zu sein. Hier erscheint die Schlange/die Verführung in Form der lieben guten Fee, die Katharina Diegritz scheinbar harmlos verkörpert, aber voller Niedertracht für Verwirrung im Leben von Ella sorgt. Kunze darf u.a. in „Gorgeous / Wahnsinn“ ihre Star-Qualitäten unter Beweis stellen. Ihr zur Seite überzeugt abermals Andrew Irwin, der mit lässigem Hüftschwung als smarter Rock ’n’ Roller Flipp gegenüber Passionella behauptet „You Are Not Real / Du bist nicht real“.

Ausstatter Alexander McCargar designte eine schräge Rampe, die dank einiger strategisch einsetzbarer Bühnenteile und prägnanter „Extras“ sich in die jeweiligen Handlungsorte verwandelte. Mit den Kostümen unterstreicht er den jeweiligen Charakter der Figur: Adam und Eva sind im schlichten Weiß gekleidet, wobei der Alterungsprozess durch graue Kleidungsstücke angedeutet wird. Die an Sandalen-Filme erinnernde Handlung des zweiten Teils wird mit der Farbwahl der Kostüme relativiert bzw. karikiert: Beim Anblick der blau-weißen Kostüme musste ich unwillkürlich an „Die Schlümpfe“ denken. Im dritten Teil trägt der Chor biedere Kleidung in allen Facetten von Beige, während Passionella und Flipp ausgefallene Roben tragen, die die Charaktere der Figuren eher ein wenig überhöhen.

Tonio Shiga und das Philharmonische Orchester Bremerhaven lassen die Melodien von Jerry Bock mit einem Gespür für feine Nuancen aus dem Graben erklingen und verleihen so den bereits erwähnten Song-Perlen einen zusätzlichen Glanz.


Nachtrag zum 9. Mai 2024: Da hatte ich nach meinem ersten Besuch des Musicals THE APPLE TREE, das das Stadttheater Bremerhaven als deutschsprachige Erstaufführung zeigte, doch tatsächlich ein wenig geunkt. So bemängelte ich u.a., dass mir bei der Musik ein verbindendes Leitmotiv fehlte. Zudem empfand ich die Lieder beim ersten Anhören als wenig eingängig. Doch nun saß ich heute in der Dernière und freute mich schon sehr auf einige Songs, die sich im Laufe der Zeit langsam aber stetig in mein Herz geschlichen hatten. Erst beim wiederholten Hören entblätterten sie wie eine Blüte ihre schlichte Schönheit. Daran waren natürlich die tollen Künstler*innen am Stadttheater Bremerhaven nicht ganz unschuldig.

Zumal ich beim THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT am 3. April die wunderbare Gelegenheit hatte, mit Tenor Andrew Irwin, Kapellmeister Tonio Shiga, Dramaturg Torben Selk und dem Leiter des Musiktheaters Markus Tatzig ins Gespräch zu kommen. THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT ist eine Kooperation des Stadttheaters mit der Stadtbibliothek Bremerhaven: An jedem ersten Mittwoch im Monat haben Interessierte die Gelegenheit, ihre Mittagspause in der Stadtbibliothek zu verbringen. Während herzhaft ins Pausenbrot gebissen wird, hört und sieht man auf der dortigen Standkorbbühne Ausschnitte aus dem aktuellen Programm und erhält nebenbei noch einige Hintergrundinformationen.

So bestens präpariert eröffneten sich mir bei meiner heutigen Stippvisite im „Garten Eden“ ganz neue Perspektiven. 🍎


Doch lassen wir bei #angeklopft Victoria Kunze und Andrew Irwin gerne selbst zu Wort kommen.


Ihr möchtet Euch auch der Versuchung hingebe? Dann müsst Ihr Euch beeilen: Es gibt leider nur noch wenige Termine für THE APPLE TREE am Stadttheater Bremerhaven.

[Kinder- und Jugendtheater] Erich Kästner – DAS DOPPELTE LOTTCHEN / Stadttheater Bremerhaven

Familienstück zur Vorweihnachtszeit / nach dem Kinderbuchklassiker von Erich Kästner / für die Bühne bearbeitet von Henning Bock und Jürgen Popig // ab 6 Jahren

Premiere: 17. November 2023 / besuchte Vorstellung: 10. Dezember 2023
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Jens Kerbel
BÜHNE & KOSTÜME Toto
DRAMATURGIE Bianca Sue Henne
REGIEASSISTENZ Sydney Mikosch
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Die Schwingtür hinter mir pendelte sich langsam aus, als ich an diesem frühen Nachmittag den Kassenraum verließ und weiter zur Garderobe schlenderte. Die Dame an der Garderobe und ich sahen uns an, beinah zeitgleich öffneten wir die Münder zum Gruß, dann zögerten wir beide. „Jetzt hätte ich ihnen beinah einen guten Abend gewünscht!“ stammelte ich. Die Dame an der Garderobe lachte und sagte „Ich hatte es auch auf der Zunge. Es ist nicht ihre Zeit!“. Stimmt, es war nicht meine übliche Zeit, an der ich sonst dieses Theater betrete. Doch was blieb mir anderes übrig: Für Erich Kästner erscheine ich auch gerne zur unüblichen Zeit! 😄

Sie sind wahrscheinlich das bekannteste Zwillingspaar in der Literaturgeschichte: Luise Palfy aus Wien und Lotte Körner aus München. Schon in den 40er Jahren konzipierte Kästner ein Filmtreatment zu diesem Stoff, dass er dem Filmregisseur Josef von Báky vorstellte. Doch ein von den Nationalsozialisten verhängtes Arbeitsverbot durchkreuzte seine Filmpläne. So arbeitete Kästner nach Kriegsende die Geschichte zunächst zu einem Roman aus, dem wenige Jahre später der Film unter von Bákys Regie folgen sollte.

Kästner sprach im biederen Nachkriegsdeutschland Themen an, die damals zu Diskussionen führten. Das Thema Scheidung war wohl vormals noch nie in einem Kinderbuch zur Sprache gekommen. Auch die Figur der selbstständigen, alleinerziehenden und berufstätigen Mutter entsprach ebenso wenig dem gängigen Klischee, wie die Charakterisierung der beiden Mädchen, die eigenständig agieren und jede für sich eine entscheidende Entwicklung durchmachen.

Nachdem die Verfilmung von 1950 ein großer Erfolg wurde und sogar als erster Film den Bundesfilmpreis erhielt, sollten weitere, auch internationale Verfilmungen folgen. Kein Wunder, dass das doppelte Lottchen zwangsläufig ihren Weg auf die Bühne finden musste.

Endlich Sommerferien! Luise hat schnell alle Kinder im Ferienheim fest im Griff – bis Lotte vor ihr steht und sie die Welt nicht mehr versteht, denn dieses Mädchen gleicht ihr wie ein Ei dem anderen – jedoch nur von außen, denn im Temperament könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Da sie auch am selben Tag Geburtstag haben, kommt schnell heraus, was hier los ist: Ihre feinen Eltern haben sich kurz nach der Geburt der Mädchen getrennt – und die Kinder gleich mit. Doch da haben sie die Rechnung ohne ihre Zwillinge gemacht! Luise und Lotte tauschen nach den Ferien die Rollen, um die Familie wieder zusammen zu bringen. Ein großer Spaß, denn hier geht so einiges schief auf dem Weg zum Happy End!

(Inhaltsangabe dem Programmzettel zu dieser Produktion entnommen.)

Die in Bremerhaven gespielte Fassung von Henning Bock und Jürgen Popig kam 2002 im Staatstheater Stuttgart zur Uraufführung und besticht mit seiner deutlichen Nähe zum Ur-Text. Die Dialoge scheinen eins zu eins dem Roman entnommen zu sein. Dafür vermisste ich die leisen Töne, die Kästner dem Erzähler des Romans bzw. sich selbst bei der Verfilmung in den Mund legte.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


In Bremerhaven setzte Regisseur Jens Kerbel auf Tempo. Dabei schrammte er manchmal nah an der Hektik vorbei. Vielleicht war dies auch der ursprünglich geplanten Aufführungsdichte geschuldet: Bei einer Spiellänge von ca. 75 Minuten ohne Pause und Vorstellungen um 9.00 und 11.00 Uhr bleibt nicht viel Zeit für interpretatorischem Schnickschnack. Dafür passierte ständig etwas auf der Bühne, das die Aufmerksamkeit der kleinen wie großen Zuschauer*innen fesselte. Zusammen mit den Schauspieler*innen kreierte Kerbel so manch herrlich ulkige Szene, verstand es aber auch sowohl die unterschiedlichen Charaktere der Zwillinge als auch deren zögerliche Annäherung und spätere Verbundenheit sichtbar und somit nachvollziehbar zu gestalten. Auch gefiel mir sehr der „offene“ Schluss, der nicht mit der obligatorischen Wieder-Heirat der Eltern endet, sondern aufmerkt, dass es verschiedene Möglichkeiten des familiären Zusammenlebens gibt.

Aussatter Toto (aka Torsten Mittelstädt) stapelte große Bauklötze auf der Drehbühne, die je nach Winkel die unterschiedlichen Handlungsorte darstellten, und ermöglichte so einen flüssigen „Umbau“. Dabei wurde auch die Seitenbühne klug in das Konzept involviert. Gemeinsam mit den markanten Details, die vom Schnürboden schwebten, und den gefälligen Hintergrundprojektionen schuf er eine stimmungsvolle Atmosphäre. Maske und Kostüm verorteten die Handlung in die 50er Jahre und gefielen in ihrem charmanten Retro-Chic.

Diese Verortung empfand ich als äußerst angenehm, da es der Geschichte einen märchenhaften Anstrich gab, aber gleichzeitig zeigte, dass die „gute alte“ Zeit eben genau dies nicht war. Zudem war Kästner (wie so oft) so weitsichtig, dass er in seinen Kinderbüchern solch universelle Themen ansprach, die auch heute noch ihre Gültigkeit besitzen. Würde die Handlung im Hier und Jetzt spielen, wäre es zudem völlig unglaubwürdig, dass das Geheimnis der Zwillinge „dank“ Whatsapp, Tik Tok & Co. geheim bleiben könnte.

Sieben Schauspieler*innen stehen auf der Bühne, erwecken die Kästner’schen Figuren zum Leben und schlüpfen – außer im Falle unserer Titelheldinnen – in die verschiedensten Rollen. Janek Biedermann eröffnet die Szenerie: Sein Erzähler ist eine Mischung aus Zirkusdirektor und Clown. Zudem gibt er – neben Lottes Lehrer in München – noch den Dr. Strobel nebens Hund Pepperl in Wien und amüsiert als Metzger Huber mit seiner Hüften schwingenden Elvis-Imitation. Allein der enorme Größenunterschied zwischen ihm als verhuschter Herr Ulrich und Isabel Zeumer als resolute Frau Muthesius sorgte schon für viele Lacher im Publikum. Isabel Zeumer gefiel zudem als verängstigte Kellnerin und lieferte sich als tolpatschige Resi ein komisches Duell mit dem Telefonkabel oder kämpfte verzweifelt widerwillig mit dem Hund Pepperl auf ihrem Arm.

Carina Sönksen, Ulrich Fassnacht und Marsha Zimmermann standen vor der herausfordernden Aufgabe sowohl in die Rollen von Kindern wie auch Erwachsenen zu schlüpfen und meisterten diese Wandlung souverän. Konnte Carina Sönksen als Trude zwangsläufig weniger Eindruck hinterlassen, gelang ihr dies als rustikale Anni Habersetzer, die kleinere Kinder trietzt, durchaus besser. Als kapriziöse, eitle und verwöhnte Irene Gerlach, die mit allen Mitteln bekommt, was sie begehrt, sicherte sie sich die Antipathie des Publikums. Ulrich Fassnacht polterte überzeugend als ewig hungriger Rabauke Chris über die Bühne, um dann in den Smoking des schöngeistigen Dirigenten und Komponisten Ludwig Palfy zu schlüpfen, dessen ach so gemütliche Welt plötzlich durcheinander gerät. Marsha Zimmermann sorgte als Scheidungskind Steffie für einen berührenden Moment. Als sympathische Luiselotte Körner war sie von einem handfesten Pragmatismus in ihrem Versuch, ihre Doppelrolle als alleinerziehende Mutter und berufstätige Frau zu meistern.

Das Titel gebende Duo teilten sich Coco Plümer als Lotte Körner und Gästin Fenja Abel als Luise Palfy. Sehr schön harmonierten sie in ihrem gemeinsamen Zusammenspiel und formten – trotz optischer Ähnlichkeit – zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Persönlichkeiten. Fenja Abels Luise war der quirligere, spontanere Zwillinge mit einem großen Sinn für Gerechtigkeit. Coco Plümer porträtierte Lotte dagegen ernster, patenter und beinah (zu) erwachsen. Luise handelt erst und überlegt dann; Lotte überlegt, bevor sie handelt: Beide Schauspielerinnen schafften es so, die bisherige Prägung der Figuren aus dem jeweils halben Elternhaus in die Entwicklung ihrer Rollen einfließen zu lassen.

Fun Fact: Ratet mal, welche Oper Ludwig Palfy dirigiert, während seine Tochter Luise alias Lotte ihm von der Loge aus zusieht? Diese Märchenoper spielt im Roman und somit auch in dieser Bühnenfassung eine nicht unerhebliche Rolle und kann als Allegorie für die Situation der Zwillinge gedeutet werden. So wird sie einerseits in der (Alp-)Traum-Sequenz zitiert, aber auch während der Vorstellung erklingen immer wieder ihre Melodien. Diese Märchenoper steht zurzeit auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven. Kann das wirklich ein Zufall sein?!

Das Stadttheater Bremerhaven schenkte mir 75 höchst kurzweilige und amüsante Minuten mit einer Inszenierung, bei der nicht nur „Kästner“ drauf stand, sondern auch erfreulich viel „Kästner“ drin war!


Radio Bremen hat seine gnadenlosesten Kritiker*innen in die Premiere geschickt:

https://www.butenunbinnen.de/videos/weihnachtsmaerchen-das-doppelte-lottchen-stadttheater-bremerhaven-100.html


Noch bis zum 2. Weihnachtsfeiertag tollen die berühmten Zwillinge als DAS DOPPELTE LOTTCHEN über die Bühne des Stadttheaters Bremerhaven.

[Oper] Giacomo Puccini – TOSCA / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Giacomo Puccini / Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa / in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 23. September 2023 / besuchte Vorstellung: 14. Oktober 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann
INSZENIERUNG Angela Denoke
BÜHNE & KOSTÜME Susana Mendoza
GEMÄLDE anna.laclaque
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
ASSISTENZ BÜHNE Theresa Steiner
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Stimme heiser geschrien, Arme und Schultern zum Muskelkater geschunden und Hände wund geklatscht: So saß ich nach der Vorstellung der Oper TOSCA am Stadttheater Bremerhaven neben meinem Gatten im Auto, und wir fuhren Richtung Heimat. Still saßen wir nebeneinander, sprachen kein Wort und versuchten das soeben Gehörte, Gesehene und Empfundene zu verarbeiteten. Ein geseufztes „Schön war’s!“ war zum besagten Zeitpunkt der einzige Ausspruch, den ich nicht unterdrücken konnte, danach herrschte wieder Stille. Doch genau dieses kurze und schlichte „Schön war’s!“ umrahmte ziemlich genau all die Gefühle und Gedanken, die mir in dem Moment durch Herz, Hirn und Seele tobten.

Schon mit ihrer ersten Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven empfiehlt sich Regisseurin Angela Denoke als eine kluge Beobachterin der menschlichen Psyche. Denoke ist selbst eine international gefeierte wie auch mit Preisen ausgezeichnete Sopranistin und wagte im Jahre 2021 ihr Regie-Debüt. Auch in diesem Metier wurden ihre Arbeiten prämiert, u.a. bekam sie erst im September den renommierten Österreichischen Musiktheaterpreis 2023 für ihre Regie von SALOME am Tiroler Landestheater Innsbruck verliehen. Ihre Inszenierung in Bremerhaven besticht durch Schlichtheit, Intelligenz und Emotionalität.

Der politische Gefangene Angelotti versteckt sich in der Kirche St. Andrea, wo sein Freund, der Maler Mario Caravadossi ein Madonnenbild fertigstellt. Als Vorlage diente ihm das Gesicht einer jungen Frau, die zum Beten regelmäßig in die Kirche kommt. Der Mesner erkennt in diesen Gesichtszügen die Gräfin Attavanti, Angelottis Schwester. Als Tosca die Kirche betritt, versteckt sich Angelotti erneut. Im Bild der Maria erkennt die Primadonna ebenfalls die Ähnlichkeit mit der Gräfin und reagiert mit Eifersucht. Caravadossi überzeugt sie aber von seiner Liebe und schickt sie fort. Kanonenschüsse sind zu hören. Angelottis Flucht wurde entdeckt, und Cavaradossi bietet ihm seinen Garten als Versteck an. Der Polizeichef Scarpia kommt in die Kirche und bemerkt sofort anhand einiger Indizien, dass Angelotti an diesem Ort war. Außerdem findet Scarpia einen Fächer. Er behauptet gegenüber Tosca, dies sei der Fächer der Gräfin, die mit dem Maler eine Affäre hätte. Schluchzend verlässt Tosca die Kirche, in der jetzt ein „Te Deum“ anlässlich des Sieges über Napoleon gefeiert wird. Scarpia schwört sich unterdessen, die Gunst Toscas zu erobern. In seiner Villa lässt er Caravadossi durch seine Schergen Spoletta und Scarrione genau in dem Moment vorführen, als auch Tosca eintrifft. Der Polizeichef befiehlt, Mario Caravadossi foltern zu lassen, bis er das Versteck des geflohenen Angelotti verrät. Tosca ist erschüttert und verrät nun selbst das Versteck. Darüber ist nun Caravadossi so empört, dass er den Polizeichef verspottet, indem er sich über einen scheinbaren Sieg Napoleons freut. Daraufhin ordnet Scarpia seine Exekution an. Nur wenn Tosca sich mit ihm einlässt, würde er ihren geliebte Maler verschonen. Kurz darauf stellt sich heraus, dass sich Angelotti umgebracht hat, um der Gefangenschaft zu entgehen. Trotzdem bleibt Scarpia bei seiner erpresserischen Methode, um Tosca zu unterwerfen. Als Lohn für ihre Gunst würde er eine Scheinhinrichtung organisieren, Mario Cavaradossi aber anschließend freilassen. Als sich Scarpia schließlich Tosca nähert, ersticht sie ihn mit dem Ausruf „Hier ist Toscas Kuss!“. Die Hinrichtung von Mario Caravadossi findet in einer Stunde statt: Tosca kommt und erzählt ihm, dass sie Scarpia getötet hat, und ihm nur eine Scheinhinrichtung bevorstehe. Er solle wie in einem Theaterstück mitspielen und sich, nachdem geschossen wurde, zu Boden fallen lassen. Die Hinrichtung folgt, Schüsse fallen, und Cavaradossi stürzt zu Boden. Tosca flüstert ihm zu, dass er sich still verhalten soll, bis die Vollstrecker verschwunden sind. Dann bemerkt sie, dass ihr Geliebter tot ist. Scarpia hat sich nun endgültig gerächt und Mario tatsächlich töten lassen. Bevor der Polizeiagent Spoletta sie wegen dem Mord an Scarpia verhaften kann, wählt Tosca den Freitod.

Angela Denoke verzichtet auf billige Effekthascherei und bleibt nah am Realismus. Zeitlich ordnet sie die Handlung nicht eindeutig ein: Einerseits werden wir an die eigene Geschichte unseres Landes erinnert, andererseits wirft sie einen kritischen Blick auf aktuelle Geschehnisse in Ländern, wo Populisten an der Macht sind. Dabei zeigt sie aber ebenso auf, dass selbst in einem totalitären Regime, kleine Blumen der Menschlichkeit am Wegesrand erblühen können: Der Mesner sieht sich als Hirte/Beschützer und achtet liebevoll auf die Kinder seiner Gemeinde; der Schließer lehnt beinah scheu einen Lohn vom Gefangenen Cavaradossi ab, als er sich bereit erklärt, Tosca eine Nachricht zu überbringen.

Die Motivation der handelnden Personen entwickelt die Regisseurin aus den Vorgaben des Librettos und vermeidet klischeeartige Charakterisierungen (schwarz – weiß, schön – hässlich, gut – böse). So befreit sie die Personen aus dem Korsett schablonenhafter Opernfiguren. Vielmehr lässt Denoke sie als reale Wesen agieren, die auch durchaus eine ambivalente Haltung zueinander haben dürfen. So behauptet der „böse“ Scarpia zwar, dass er Tosca, wie alle bisherigen Frauen vor ihr, abservieren wird, nachdem er ihre Gunst erhalten hat. Allerdings sprechen ihre Porträts in seinem Zimmer und der gesenkte Blick voller Unsicherheit und Scham beim Zusammentreffen mit ihr eine andere Sprache. Und auch Tosca zeigt gegenüber ihrem Peiniger unvermittelt Mitgefühl, als sie ihm, nachdem er erstochen vor ihr liegt, beinah liebevoll das Totenbett richtet. Aus der inneren Diskrepanz und den Seelenzuständen der Figuren entwickelt sich eine so hohe emotionale Spannung, die eine äußere Ablenkung unnötig macht.

Ausstatterin Susana Mendoza kleidet das Ensemble in gedeckten Tönen bar jeglichem Glamour. Einzig Tosca darf ihre mondäne Robe einem Schutzwall gleich tragen, die ihr allerdings Schicht für Schicht entrissen wird, bis ihre Empfindungen völlig bar und bloß liegen. Auf der mit schwarzem Stoff ausgeschlagenen Bühne platziert Mendoza ein riesiges Holzkreuz, das mal als Altar, Schreibtisch oder Laufsteg fungiert und mal schutzbietend, mal offenbarend wirkt. Einzig ein langer Vorhang und die großen Porträts setzen (im Kombination mit dem stimmungsvollen Licht-Design von Thomas Güldenberg) gekonnt Akzente im eher reduzierten Bühnenbild. Minimalismus „at its best“.

Während in anderen Inszenierungen das Bild der Madonna im 1. Akt die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zieht, wird uns hier ein Blick darauf verwehrt. Vielmehr liegt der Fokus voll und ganz auf unserer Titelheldin, die ab dem 2. Akt durch drei überlebensgroße Porträts allgegenwärtig ist. Diese ausdrucksstarken Kunstwerke schuf die Performancekünstlerin anna.laclaque, und ich würde mir so sehr wünschen, dass sie nach Beendigung der Aufführungsserie einen festen Platz im Foyer des Theaters finden dürften.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


„Ich möchte Menschen zum Weinen bringen: darin liegt alles…!“ lautet ein überliefertes Zitat von Giacomo Puccini. Damit ihm dies gelang, wählte er melodramatische Sujets und schuf dafür eine aufwühlende Musik. Bei GMD Marc Niemann und dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven waren die Kompositionen des Maestros in den aller-allerbesten und -fähigen Händen. Die schwelgerischen Melodienbögen, die ich so sehr an Puccinis Musik mag, flossen schier aus dem Orchestergraben. Mal rollte die Musik leidenschaftlich und kraftvoll über mich hinweg, dann wieder erklangen die Arien zart und voller Süße. Wunderbar!

Mario El Fakih Hernández bewies auch diesmal, dass er mit Chor und Extrachor einen voluminösen Klangkörper schaffen kann, der u.a. beim „Te Deum“ stimmstark für einen Gänsehaut-Moment bei mir sorgte. Unterstützung erhielt er beim Kinderchor durch Katharina Diegritz, die abermals die kleine Rasselbande zu motivieren wusste, ohne dass der Wohlklang zu Schaden kam. Als Solist aus dem Kinderchor sang Paul Dimitrov mit einem berührenden, beinah brüchigen Knabensopran sein klagendes Lied und wirkte dabei in seinem Erscheinungsbild weniger als junger Hirte. Vielmehr stellte er für mich einen Engel des Todes dar, der in seiner Reinheit die Verstorbenen über die Schwelle führt: Richtung offen. Das Sterben kann durchaus durch schändliche Umstände befleckt sein, doch der Tod ist stets unschuldig und unberührt.

Die Schergen Scarpias wurden durch Andrew Irwin (Spoletta) und James Bobby (Scarrione) im Himmler-Look beängstigend unsympathisch porträtiert. Wobei besonders Andrew Irwin in seiner Rolle eine anbiedernde und umso abstoßendere Unterwürfigkeit darbot. Marcin Hutek konnte sein Talent in den beiden kleinen Rollen als Angelotti bzw. der Schließer leider nur bedingt zeigen: Eine große Partie (Barbier oder Don Giovanni) wäre ihm endlich zu gönnen. Ulrich Burdack gefiel als mitfühlender, allzu menschlicher Mesner und sorgte im Zusammenspiel mit dem Kinderchor für die wenigen auflockernden Momente in dieser „Opera drammatica“.

Bleibt „nur“ noch unser „Trio infernale“ bestehend aus Tosca, Cavaradossi und Scarpia: Gast Bryan Boyce ließ hinter Scarpias Fassade des machtbesessenen und geltungshungrigen Despoten auch die Unsicherheit der Figur durchblitzen. Mit seinem dunklen, vollen Bass-Bariton vermochte er sowohl die stätig unterschwellig mitschwingende Gefahr wie auch die innere Zerrissenheit, die Scarpia als gebrochenen Charakter kennzeichnet, zu vermitteln. So gelang es ihm, innerhalb eines eher statischen Rollenprofils, feine Nuancen in der Darstellung herauszukitzeln.

Konstantinos Klironomos vermittelte glaubhaft Mario Cavaradossis Wandel vom anfänglich jugendlichen Helden zum gebrochenen Mann: Klironomos platzierte seine ungestümen Ausbrüche voller tenoraler Kraft und agiler Geschmeidigkeit. In Etappen veränderte sich seine Stimme. Beinah schmerzlich spürte ich beim Zuschauen/Zuhören die zunehmende Tragik. Die Arie „E lucevan le stelle/ Es funkeln die Sterne“ gestaltete er einerseits voller Süße, und gleichzeitig schwang eine Bitterkeit in jedem Ton mit. Gemeinsam mit Signe Heiberg als Floria Tosca bildete er ein umwerfendes Leading-Paar, das sich vokal ergänzte und darstellerisch die Bälle zuwarf.

Heibergs Tosca war die absolut Künstlerin, die verehrungswürdige Diva und ganz Weib, der es unter anderen Umständen nie in den Sinn gekommen wäre, dass sie angreifbar sein könnte. Nur tröpfchenweise sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass von ihrem Verhalten das Wohl anderer Menschen abhängt, und dass der Verlust von Stolz und Würde ein geringeres Opfer bedeutet gegenüber dem Tod ihres Geliebten. Heiberg schleuderte ihren auftrumpfenden Sopran wie eine Waffe ihren Gegnern entgegen, nur um im nächsten Moment in fein geführten Gesangslinien die ambivalenten Gefühle der Figur zu verdeutlichen. Mit der berühmten Arie „Vissi d’arte, vissi d’amor/ Nur der Schönheit weihte ich mein Leben“ wendet sich Tosca flehentlich zu Gott, bei der ich in der brillanten Interpretation durch Signe Heiberg Empfindungen wie Machtlosigkeit und Resignation herauszuhören schien.

Von den anfangs so selbstbewussten und kraftstrotzenden Charakteren blieben nur noch Menschen mit zerbrochenen Seelen zurück, denen die Vergangenheit genommen und die Zukunft verwehrt wurde. Und so hilten sich Floria und Mario wie verängstigte Kinder in einem kurzen, flüchtigen Moment des Glücks nochmals an der Hand, vielleicht schon ahnende, dass keine frohe Zukunft auf sie wartet, sondern dass auch sie nur allzu bald dem Engel des Todes folgen werden…!

Zwischen dem letzten verklungenen Ton aus dem Orchestergraben und dem Einsetzten des aufbrausenden Beifalls löste sich aus meiner Brust ein Seufzer: „Schön war’s!“


Nachwort: Seitdem ich mich dem Stadttheater Bremerhaven verbundener fühle, verfolge ich auch ein wenig die mediale Berichterstattung über das Haus und besonders zu den jeweiligen Inszenierungen. Dabei fällt mir zunehmend auf, dass sich im Feuilleton immer noch Plattitüden standhaft halten, die – meiner Meinung nach – wenig aussagekräftig, wenig differenziert sind. Da wird sich einer Sprache bedient, die hinter ihrem scheinbaren Wohlwollen eine kleine Giftspritze verbirgt.

So schrieb Wolfgang Denker im „Weser Kurier“ über die gesanglichen Leistungen von Signe Heiberg und Konstatinos Klironomos „Beide würden in diesen Partien auch an weit größeren Häusern Eindruck machen.“. Ich las dies und stellte mir unverzüglich die Frage „Was möchte Herr Denker mit diesem Satz ausdrücken?“. Ich machte mir da durchaus so meine Gedanken, und natürlich sind meine Interpretationen absolut subjektiv. Aber ich bin in der Zwischenzeit auch müde geworden, ständig irgendwelche indifferenten Worthülsen lesen zu müssen.

Oberflächlich wirkt dieser Satz wie ein Lob: „Hey, die Beiden hätten das Zeug, auch an größeren Häusern zu singen.“, dann der Untertext: „Doch warum sind sie dann im Kaff Bremerhaven hängen geblieben?“. Der Umkehrschluss wäre für mich: An einer provinziellen Klitsche wie das Stadttheater Bremerhaven sind brillante Künstler*innen verschwendet, da täten es doch auch durchschnittliche Sänger*innen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie einige Schreiberlinge (m/w/d) es mit einer untrüglichen Sicherheit schaffen, den Künstler*innen und/oder dem Theater unterschwellig eine Watschen zu verpassen und dies als positives Feed-back zu verpacken. Ihr denkt vielleicht, dass ich übertreibe, allzu empfindlich reagiere, oder es sich gar um einen Einzelfall handelt?

Au contraire, mes amis!

Verpasst auch nicht die nächsten Folgen
unserer beliebten Rubrik FEUILLETON’SCHE FLOSKELN:
Folge 2 „…prädestiniert sie/ihn auch für Wagner-Partien.“
Folge 3 „…dem überdurchschnittlichen Sängercast.“
Garantiert echt und ohne Werbeunterbrechung!


Grandiose Sänger*innen, grandioses Orchester, grandiose Inszenierung: Worauf wartet ihr noch? Ab mit euch zu TOSCA am Stadttheater Bremerhaven.