[Oper] Carl Maria von Weber – DER FREISCHÜTZ / Stadttheater Bremerhaven

Romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber / Libretto von Johann Friedrich Kind / nach einer Novelle von Johann August Apel und Friedrich Laun

Premiere: 25. Dezember 2022 / besuchte Vorstellung: 5. Februar 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Wolfgang Nägele
Bühne & Kostüme: Stefan Mayer
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Ich stand an der Theaterkasse des Stadttheaters Bremerhaven, um einige Dinge rund um Abo, Karten und Vorverkauf vis-à-vis zu klären und war mitten in den Verhandlungen, als plötzlich ein Gespräch an der Nebenkasse meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen und musste folgendem Dialog belauschen.

Eine ältere Dame echauffierte sich „Das Weihnachtsmärchen war schon nicht schön, und nun ist der Freischütz auch so furchtbar!“ „Schicken sie gerne eine Info mit ihren Eindrücken an die Intendanz.“ schlug ihr Gegenüber an der Kasse diplomatisch vor Hach, das bringt doch nichts. Ich habe es dem Herrn Tietje schon persönlich in der Pause gesagt, und wissen sie, was er gesagt hat? Nichts! Er hat nur die Augenbrauen hochgezogen!“ Und nach dieser Bemerkung musste ich meine Aufmerksamkeit leider wieder auf meine eigenen Angelegenheiten lenken.

Ich weiß natürlich nicht, was Herr Tietje mit seinen hochgezogenen Augenbrauen ausdrücken wollte. Nach dem Besuch besagter Inszenierung hätte ich eine vage Ahnung: Überraschung, Erstaunen, Unverständnis, vielleicht auch: Ärger über die mangelnde Wertschätzung. Zumindest würden meine Augenbrauen dies ausdrücken, und ich bewundere Herrn Tietjes noble Zurückhaltung: Ich hätte meine Klappe nicht halten können!

Der Jägerbursche Max liebt Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno und möchte sie gern heiraten. Bevor er Agathe zur Frau bekommt und die Nachfolge des Försters antreten kann, soll er mit einem Probeschuss seine Treffsicherheit beweisen. Kurz zuvor gibt es im Dorf ein Sternschießen. Max misslingt ein Schuss, und er wird von allen Dorfleuten verspottet und ausgelacht – insbesondere von Kilian, dem der Schuss gelingt. Kaspar, ein anderer Jägerbursche, der Max insgeheim hasst und beneidet, will sich an ihm rächen. Er verspricht Max, ihm eine Kugel verschaffen zu können, die mit Sicherheit ins Ziel trifft. Dazu soll Max um Mitternacht in die berüchtigte Wolfsschlucht kommen. Es geht die Sage, dass die in der Wolfsschlucht um Mitternacht gegossenen Kugeln verzaubert sind und sechs davon genau in das gewünschte Ziel treffen, die siebende aber vom Teufel gelenkt wird. Am Vorabend der Hochzeit wartet Agathe ängstlich auf Max. Sie hat böse Vorahnungen, lässt sich allerdings von ihrer Freundin Ännchen aufheitern. Max erscheint und berichtet, dass er nochmals zur Wolfsschlucht gehen wird. Agathe wie auch Ännchen sind entsetzt. In der Wolfsschlucht gießt Max mit Kaspar zusammen die sieben Kugeln. Kaspar ruft dazu Samiel, den schwarzen Jäger an, der eigentlich der Teufel ist, und verspricht ihm die Seele von Max. Dann bekommt Max vier Kugeln, drei behält Kaspar zurück. Am Morgen berichtet Agathe Ännchen von ihrem Traum: Sie träumte, sie wäre eine Taube, und Max würde auf sie schießen. Die eintreffenden Brautjungfern überreichen ihr versehentlich eine Totenkrone anstatt des Brautkranzes. Durch diese bösen Omen zutiefst erschreckt, besteht Agathes letzte Hoffnung, das bevorstehende Unglück noch abwenden zu können in einem Kranz aus den weißen Rosen, die ein frommer Eremit ihr geschenkt hat. Am Tag der Probeschuss-Zeremonie kommt der Landesfürst Ottokar zum Zuschauen und bestimmt als Ziel des Probeschusses ausgerechnet eine weiße Taube. Agathe, voller Entsetzen, läuft Max in die Schusslinie. Die Taube fliegt weg, Agathe stürzt zu Boden, und auch Kaspar fällt. Es stellt sich heraus, dass er von dem Schuss, vom Teufel gelenkt und vom heiligen Eremiten umgelenkt, getroffen wurde, und Agathe unverletzt geblieben ist. Sie sank nur vor Schreck zu Boden. Max gesteht, dass er mit Kaspar Freikugeln gegossen hat. Fürst Ottokar will ihn bestrafen und die Heirat mit Agathe verbieten, aber der Eremit und das ganze Volk setzen sich für die Liebenden ein. Das Urteil wird umgewandelt: Max muss ein Probejahr bestehen und darf, falls er sich bewährt, Agathe dann heiraten. Der Probeschuss wird für alle Zeit abgeschafft.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Regisseur Wolfgang Nägele verweigert dem Publikum jegliche Jäger-Romantik: Statt leutseligem Heimatkitsch à la „Der Förster vom Silberwald“ präsentiert er tristen 70er Jahre-Muff. So zwingt er seine Figuren, sich von trivialen Äußerlichkeiten abzuwenden, stattdessen den Blick ins Innere zu richten und in die Tiefen ihrer Psyche einzutauchen.

Bühnenbild und Kostüme von Stefan Mayer unterstützen stringent das Konzept des Regisseurs: Der Vorhang öffnet sich, und auf der Drehbühne präsentiert sich ein verrotteter Trecker samt Anhänger incl. div. Schrotteile. Von der Decke schwebt ein Holzgestell, das wie der Rohbau eines Heuschobers wirkt. Dies alles spiegelt die Tristesse des Landlebens in den 70er Jahren wieder, wo die Dorfjugend sich regelmäßig beim besagten Heuschober oder im Häuschen der einzigen Bushaltestelle trifft, um heimlich eine Kippe zu rauchen oder rumzuknutschen, und wo das Schützenfest der kulturelle Höhepunkt des Jahres war. Auch die Kostüme verströmen in ihrer beige-braun-grünen Langeweile die damalige Spießigkeit. Einzig die Freundinnen Agathe und Ännchen setzten mit ihren Outfits farbige Akzente und symbolisieren, dass beide bereit sind, sich zu emanzipieren.

Doch was nützen die besten Ideen eines Regisseurs, was hilft es, Psychogramme der handelnden Personen zu erstellen, wenn die Besetzung nicht fähig ist, dies auf der Bühne umzusetzen. Das Publikum des Stadttheater Bremerhavens kann sich glücklich schätzen, dass dieses Haus über ein talentiertes Ensemble verfügt und sich nicht scheut, ebenso talentierte Gäste zu verpflichten.

Signe Heiberg (Agathe) singt ihre Partie fein nuanciert mit strahlendem Sopran, ist weniger die unbedarft Naive als vielmehr die melancholisch Hinterfragende. Ihren Sidekick gibt Victoria Kunze (Ännchen) mit lyrisch-perlender Stimme und ansteckendem Optimismus. Das Zusammenspiel der beiden Frauen gestaltet sich äußerst natürlich und zeigt die innige Vertrautheit dieser Figuren. Der Max von Konstantinos Klironomos ist ein Zweifelnder: Er zweifelt an seiner vorgegebenen Bestimmung aber auch an sich selbst. Die dunkle Seite in ihm versucht immer wieder, die Oberhand zu gewinnen. Klironomos bringt diese innere Zerrissenheit auch mit seinem brillanten Tenor zum Ausdruck. Apropos dunkle Seite: In dieser Inszenierung stellt Regisseur Wolfgang Nägele dem Max ein Double zur Seite, sozusagen sein böses Ich, das ihn immer wieder dazu animiert, Grenzen zu überschreiten und Konventionen zu brechen. Schauspieler Martin Maecker ist hierbei Verführer, Scharlatan und Gaukler in Personalunion. Zudem übernimmt er auch den Part des Samiels, wandert gekonnt zwischen den Rollen, bis diese sich immer mehr und mehr zu einer Person manifestieren. Gast Thomas Weinhappel überzeugt sowohl mit seinem markant-dramatischen Bariton als auch mit seinem intensiven Spiel. Sein Kasper ist eine verlorene Seele, der trotz aller Ambivalenz auch Mitleid erregt.

Bei diesem starken Quartett aus Agathe, Ännchen, Max und Kaspar (In dieser Inszenierung ist es mit Max Double/Samiel sogar ein Quintett.) bleiben alle anderen Rollen stückbedingt nichts anderes als bessere Stichwortgeber. Das Stadttheater Bremerhaven gönnte sich den Luxus, besetzte diese Rollen ebenfalls mit Solisten und schuf so eine Aufwertung der Partien. Der Kilian von Andrew Irwin ist ein aufbrausender Jungspund, der die Muskeln spielen lässt, um seinen Platz in der männlichen Hackordnung zu erkämpfen. Ulrich Burdack tänzelt als Eremit geschmeidig in seinen Leoparden-Puschen durch die Szenerie und schnuppert dabei verträumt an einem Strauß weißer Rosen, um diese dann spielerisch kreis- bzw. kranzförmig um Agathe zu drapieren. Marcin Hutek gibt einen unangenehm schmierigen Ottokar, der lüsternd nach Agathe schielt und so seine Machtposition hemmungslos ausnutzt. Bart Driessen gibt den Erbförster Kuno als obrigkeitstreuen Duckmäuser, dem seine Stellung wichtiger zu sein scheint, als das Glück seiner Tochter.

Nach MACBETH liefert Chorleiter Mario Orlando El Fakih Hernández mit seinen Sänger*innen ein weiteres Beispiel dafür, welche Qualität der Opernchor sich in der Zwischenzeit erarbeitet hat. Seien es die Herren beim bekannten Jägerchor oder die kessen Brautjungfern in Gestalt von Katharina Diegritz, Sydney Gabbard, Lilian Giovanini und Brigitte Rickmann bei Wir winden dir den Jungfernkranz – immer überzeugt der Chor stimmlich bestens disponiert und zeigt zugleich darstellerische Präsenz.

Davide Perniceni lässt mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven Webers Melodien im üppigen Glanz erklingen. Dabei wandelt er mit seinen Musiker*innen stets gekonnt zwischen den Extremen: von überschäumend-romantischen Klängen bis zu den dunklen, unheilvollen Tönen der Partitur.

Und so schenkt uns das Stadttheater Bremerhaven einen FREISCHÜTZ, der musikalisch und darstellerisch keine Wünsche offen lässt und uns mit seinem ungewöhnlichen Regiekonzept neue Perspektiven eröffnet,…

…natürlich vorausgesetzt, dass wir flexibel und mutig genug sind, die gewohnten Pfade zu verlassen. 😉


Es gibt leider nur noch wenige Möglichkeiten, um mit DER FREISCHÜTZ in den dunklen Wald abzutauchen.

[Musical] Marc Shaiman – HAIRSPRAY / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Marc Shaiman / Liedtexte von Scott Whitman & Marc Shaiman / Buch von Mark O’Donnell & Thomas Meehan / Deutsche Fassung von Jörn Ingwersen (Dialoge) und Heiko Wohlgemuth (Songs) / Basierend auf dem New Line Cinema Film, Drehbuch und Regie von John Waters

Premiere: 5. November 2022 / besuchte Vorstellungen: 08.01. & 03.03.2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Tonio Shiga (08.01.) / Hartmut Brüsch (03.03.)
Inszenierung: Toni Burkhardt / nach einem Konzept von Iris Limbarth
Choreografie: Sabine Arthold
Bühne: Britta Lammers
Kostüme: Heike Korn
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Jedes kleinere Mehr-Sparten-Haus kennt diese Probleme bei der Besetzung eines Musicals aus dem hauseigenem Ensemble: Der Sopran kann wunderbar singen aber weniger gut tanzen. Der Schauspieler spielt sich ´nen Wolf, hat´s aber nicht so mit dem Singen. Und der Ballett-Tänzer kann nichts außer tanzen, tanzen und nochmals tanzen. Hinzu kommt ein in die Jahre gekommener Opernchor, dessen Mitglieder auch für die div. Nebenrollen herhalten müssen. Und das Philharmonische Orchester schmachtet sich zwar durch Puccini & Co., doch alles, was nach den 60er Jahren komponiert wurde, gilt als schnöde Populärkultur. Mit Biegen und Brechen würde man so noch eine halbwegs solide „My Fair Lady“ auf die Bretter zimmern, doch der Intendant schielt auf die neueren Werke des Genres, die vor Pop, Jazz und Soul nur so strotzen. Das Stadttheater Bremerhaven kennt diese Probleme…

NICHT! Hier formte Regisseur Toni Burkhadt gemeinsam mit Choreografin Sabine Arthold aus den hauseigenen Künstler*innen der unterschiedlichen Sparten in Kombination mit Gästen ein so homogenes Ensemble, dass sich die scheinbaren Schwächen zu Stärken wandelten. Burkhardts Inszenierung setzt auf Tempo: Leerlauf scheint hier nicht existent. Dafür sorgt er für fließende, beinah filmartige Übergänge. Doch er erlaubt seinem Ensemble auch die leisen, emotionalen Momente, die zum Kreieren glaubhafter Charaktere so wichtig sind. Arthold setzt in ihren tänzerischen Bewegungsabläufen auf zeittypische Elemente der Sixties. Sie lässt die Nicht-Tänzer*innen neben den Profis sehr gut aussehen. Dank ihrer gelungenen Choreografie bilden die Künstler*innen aus den unterschiedlichen Sparten eine homogene Einheit. Abgerundet zu einem gelungenen Gesamtkonzept wird die Inszenierung durch das wandlungsfähige Bühnenbild von Britta Lammers, in dem die Künstler*innen in den herrlich bunten Retro-Kostümen von Heike Korn agieren dürfen.

Doch nun: WELCOME TO THE 60’s!

Baltimore 1962: Die pummelige Schülerin Tracy Turnblad lebt mit ihrer übergewichtigen Mutter Edna, die aufgrund ihrer Figurprobleme alle ihre Träume und Hoffnungen aufgegeben hat, und ihrem Vater Wilbur, der einen schlecht laufenden Scherzartikelladen besitzt, sehr einsam. Ihre einzige echte Freundin ist die Außenseiterin Penny Pingleton, die von ihrer Mutter permanent unterdrückt und bevormundet wird. Tracys größter Traum ist es, in der Corny-Collins-Show mitzutanzen, der angesagtesten Show des Lokalfernsehens, in der nur die beliebtesten Teenager der Stadt tanzen. Außerdem hat sie sich vorgenommen, die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl zu gewinnen. Während ihre Mutter skeptisch ist und Angst hat, dass ihre Tochter wegen ihres Aussehens verspottet wird, unterstützt ihr Vater sie und macht ihr Mut, dass man seine Träume verwirklichen soll. Als sie dank ihrer Hartnäckigkeit und ihres Selbstbewusstseins tatsächlich an der Show teilnehmen darf, wird sie – gerade wegen ihres Aussehens und ihrer Natürlichkeit – über Nacht zum Vorbild für viele Teenager, die sich mit ihr identifizieren. Sie verliebt sich in den Star der Show, den jungen Sänger Link Larkin, der auf seinen großen Durchbruch wartet und darum eine kamerataugliche Zweck-Beziehung mit der arroganten Amber von Tussle hat. Durch ihre neugewonnenen Freunde Seaweed, seiner kleinen Schwester Inez und deren Mutter Motormouth Maybelle erfährt Tracy von den vielfältigen Repressalien, denen farbige Menschen ausgesetzt sind. Ihre neue Berühmtheit nutzt sie zu einer Kampagne gegen die Trennung von Schwarzen und Weißen in der Corny-Collins-Show, was Amber von Tussle und ihre Mutter Velma zu verhindern versuchen. Dann geht die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl in ihre entscheidende Runde. Amber von Tussle ist siegessicher, doch in letzter Sekunde taucht Tracy auf und wendet – mit Unterstützung ihrer Eltern und Freunde – die Wahl zu ihren Gunsten…!


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Ich glaube, ich durfte auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven noch nie ein so großes Ensemble erleben, das sich aus Künstlern aller Sparten incl. Gäste zusammensetzte: Da waren die wunderbaren Tänzer*innen des Balletts, die agilen Sänger*innen des Opernchores und die entzückenden Kids des Kinderchores. Einem Chor der griechischen Antike gleich sorgten Louisa Heiser, Sharon Isabelle Rupa und Nicole Rushing als The Dynamites verführerisch rotgewandet für einen authentischen Motown-Sound. Schauspieler Karsten Zinser lieferte ein kleines humoristisches Kabinettstückchen als selbstverliebter Corny Collins. Iris Wemme-Baranowski überzeugte als rustikale Gefängnisaufseherin ebenso wie als psychopathische Prudy Pingelton. Sydney Gabbard warf sich als quirlige Penny Pingleton mit Leidenschaft in die Arme ihres Seaweed, den Malcom Quinnten Henry mit geschmeidigem Körper und ebensolcher Stimme zum Leben erweckte. Vanessa Weiskopf gefiel in der liebenswerten Rolle der kleinen Schwester Inez. Getoppt wurden die beiden allerdings durch ihre Bühnenmutter Motormouth Maybelle: Debrorah Woodson verkörpere diese Rolle schon bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Köln und hat sie so sehr verinnerlicht, dass jede Geste, die Mimik und jedes Wort ganz natürlich erschienen. Den Song Ich weiß, wo ich war gestaltete sie zu einer berührenden Hymne, die das Publikum für einen Moment still innehalten ließ, bevor Woodson mit einem frenetischen Applaus belohnt wurde.

Mezzo Boshana Milkov als Velma von Tussle sonderte mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit ihre rassistischen Plattitüden ab. Bei der Interpretation der Songs, die sie mit Grandezza darbot, spürte man deutlich ihre Liebe zum Jazz. Ganz als Mini-Me einer übermächtigen Mutter schlüpfte Schauspielerin Julia Lindhorst-Apfeltahler in die Rolle der Amber von Tussle und ließ hinter der schönen Fassade des blonden Dummchens einen willensstarken (nur leider fehlgeleiteten) Geist durchblitzen. Beiden Künstlerinnen gelang das Kunststück, den jeweiligen Part nicht eindimensional böse erscheinen zu lassen, sondern auch den schrägen Humor aus der Rolle herauszukitzeln.

Tenor Andrew Irwin schmachtete sich als umschwärmter Teeny-Star Link Larkin hingebungsvoll durch seine Songs und amüsierte mit überkandidelten Star-Attitüden, indem er z. Bsp. immer wieder seine Haartolle kokett zurück warf. Doch sobald die Scheinwerfer erloschen waren, kam der sympathische Junge von Nebenan zutage, der seine Zweifel und Ängste nicht verbergen konnte, und in den sich Tracy verständlicherweise verlieben musste.

Seit 1988 beschäftige ich mich sehr intensiv mit dem Genre Musical: Einige Werke haben für mich einen herausragenden Stellenwert und sich einen besonderen Platz in meinem Herzen erobert. Da verspüre ich immer, wenn ich ins Theater gehe, eine gewisse Unsicherheit aus Angst, die jeweilige Inszenierung würde diesem Werk nicht gerecht werden. Ähnlich geht es mir mit einigen Rollen, die oberflächlich das pure Entertainment versprechen, aber unter der glitzernden Oberfläche eine wichtige Botschaft transportieren. Eine dieser Rollen ist Zaza aus LA CAGE AUX FOLLES, die andere Rolle ist Edna aus HAIRSPRAY. Beiden Rollen ist gemein, dass ein Mann in Frauenkleider schlüpft: Es besteht durchaus die Versuchung, dem „Affen Zucker zu geben“ und dem Klamauk zu frönen. Oder die Rolle wird wertschätzend behandelt, ohne dass die unterhaltenen Aspekte vernachlässigt werden. Regie und Darstellung wandeln da auf einem schmalen Grat zwischen Trash und Ernsthaftigkeit. Die Fallhöhe kann dabei enorm sein.

Voller Erleichterung spürte ich schon bei ihrem ersten Erscheinen, dass Edna hier am Stadttheater Bremerhaven bei Regisseur und Darsteller in den allerbesten Händen ist. Ein respektvolles Raunen gepaart mit einem überraschten Auflachen waren im Publikum zu vernehmen, als Bass Ulrich Burdack (O-Ton: „ein 2 Meter großer 3 Zentner-Mann“) zum ersten Mal hinter dem Bügelbrett in Erscheinung trat. Burdack verzichtete wohltuend auf eine übertriebene Feminisierung in der Stimme: Er blieb seiner Stimmlage Bass treu, was in manchen Dialogen zur Erheiterung des Publikums führte. Seine Edna ist eine Matriarchin, die pragmatisch die Geschicke der Familie lenkt. Von ihren eigenen Träumen hat sie sich verabschiedet. Dabei wirkt sie durchaus nicht verbittert: Das Leben hatte eben anderes mit ihr vor, und mit diesem Leben hat sie sich arrangiert. Und so bügelt und wäscht sie sich „eine Wölfin“ zum Wohle ihrer Lieben. Doch tief in ihrem Inneren versteckt sich sowohl die Revoluzzerin, die Ungerechtigkeiten vehement mit vollem Körpereinsatz bekämpft, als auch das junge Mädchen, das nach wie vor in ihren Wilbur verliebt ist. Schauspieler Kay Krause bildet zu Ulrich Burdacks Edna einen wunderbaren Gegenpart: Sein Wilbur ist ein ältlicher Harlekin, der sich seine kindliche Freude an den Kuriositäten in seinem Scherzartikelladen (und des Lebens) bewahrt hat, dem Schicksal vorbehaltlos gegenübertritt und seine Edna bedingungslos so liebt wie sie ist. Das gemeinsame Duett Du bist zeitlos für mich entpuppte sich als rührende Liebeserklärung, bei dem Burdack und Krause munter das Tanzbein schwangen, sich ihrer Liebe versicherten und voller Stolz auf ihre Tochter Tracy blickten.

Sopranistin Victoria Kunze begeisterte mich schon in so mancher Rolle des Opern-Repertoires und sang dort die Koloraturen ihrer Partien immer makellos. Als Tracy nahm sie ihre klassische Stimme bescheiden zurück, doch brillierte in den Songs auch in den höchsten Tönen. Zudem tanzte sie sich mit überschäumender Energie die Seele aus dem Leib und gestaltete ihre Rolle mit einer überzeugenden Natürlichkeit, gepaart mit einer immensen Freude am Spiel, die sich über den Orchestergraben hinweg auf das Publikum übertrug. Ihre Tracy Turnblad ist ein wahrer Sonnenschein mit dem Herz am rechten Fleck. Bravo!

„Bravo!“ möchte ich auch dem musikalischen Leiter Tonio Shiga zurufen, der das Philharmonische Orchester zur Höchstleitung anheizte und für einen süffigen Sound sorgte. Die mitreißende Musik mit ihrer Mischung aus R&B, Motown und Rock’n’Roll bahnte sich aus dem Orchestergraben heraus ihren Weg zuerst ins Ohr über das Herz direkt in die Füße, um dort für ein permanentes Wippen zu sorgen. Auf meinem Gesicht nistete sich ein seliges Dauergrinsen ein, und ich konnte mich beim fulminanten Schlussapplaus dem Ruf des Ensembles nur anschließen:

YOU CAN’T STOP THE BEAT!


Im Stadttheater Bremerhaven wird noch bis zum Ende der Saison reichlich HAIRSPRAY versprüht – und das alles mit viel Witz und Esprit!!!

[Oper] Giuseppe Verdi – MACBETH / Stadttheater Bremerhaven

Melodramma in vier Akten von Giuseppe Verdi / Libretto von Francesco Maria Piave / mit Ergänzungen von Andrea Maffei / nach The Tragedy of Macbeth von William Shakespeare / in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 17. September 2022 / besuchte Vorstellung: 23. November 2022
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus

Musikalische Leitung: Marc Niemann
Inszenierung & Bühne: Philipp Westerbarkei
Kostüme: Tassilo Tesche
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

„Süßer die Glocken nie klingen“ und „Have yourself a merry little christmas“ tönten abwechselnd mit ihren musikalischen Geschwistern um die Wette aus den Lautsprecherboxen, während ich mich der häuslichen Weihnachtsdekoration widmete. Mein Gatte lag derweil grippal lädiert im Bett – nicht besorgniserregend, doch eingeschränkt. Nachdem ich stundenlang an all dem lieblichen Adventszuckerguss in vielfacher Form genascht hatte, stand mir nun der Sinn nach etwas deftigeren. Und so sprang ich zuerst unter die Dusche, dann in die Klamotten und wenig später ins Auto, um mich auf den Weg nach Bremerhaven zu begeben. Im dortigen Stadttheater wartete Verdis Schlachtplatte auf den Verzehr…!

Die Feldherren Macbeth und Banquo kehren von einer siegreichen Schlacht zurück. Hexen weissagen, dass Macbeth Than von Cawdor und König, Banquo aber Vater von Königen sein werde. Boten verkünden, der König habe Macbeth zum Than von Cawdor erhoben. Beide Feldherren ergreift ein Schauder. Lady Macbeth liest einen Brief ihres Gatten, in dem dieser die Ereignisse und die Ankunft des Königs mitteilt. Macbeth selbst trifft ein, er ist dem König, der heute bei ihm übernachten will, vorausgeeilt. Die machthungrige Lady kann ihren Mann überreden, den König in der Nacht zu ermorden. Macbeth wird König, doch die Prophezeiung, dass sein Thron Banquos Erben zufallen wird, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Er beschließt, Banquo und dessen Sohn ermorden zu lassen. Der Anschlag gelingt nur unvollständig. Während die Mörder Banquo töten, kann sein Sohn entkommen. Banquos Tod durch einen Mörder wird dem König gemeldet, der heuchlerisch sein Fehlen bedauert. Da erscheint ihm der Geist des Toten. Der entsetzte König ist fassungslos und muss durch seine Gattin beruhigt werden. Macbeth befragt noch einmal die Hexen nach der Zukunft und seinem Schicksal. Diese warnen ihn vor Macduff, doch der König beruhigt sich schnell, als er erfährt, dass ihn niemand überwinde, den ein Weib geboren hat. Lady Macbeth kann den König leicht dazu überreden, Macduff, seine Familie und andere Feinde zu vernichten. Macduff kann entkommen und hat sich an der Grenze von Schottland mit Malcolms Truppen vereinigt. Er schwört Macbeth, der seine Kinder töten ließ, bittere Rache. Arzt und Kammerfrau warten spät in der Nacht auf die Königin, die ihr böses Gewissen wahnsinnig werden ließ. Auch an diesem Abend erscheint sie irre redend, gesteht den entsetzten Lauschern ihre Taten und stirbt. Macbeth lässt der Tod seiner Frau gleichgültig, er gerät aber außer sich, als gemeldet wird, dass Truppen gegen ihn anrücken. Auf dem Schlachtfeld begegnet der König Macduff und erfährt, dass dieser nicht geboren, sondern aus dem Mutterleib geschnitten wurde. Macbeths Schicksal erfüllt sich, er fällt im Zweikampf. Macduff und die Krieger grüßen Malcolm, den neuen König.

Zimperlich waren die Beiden wahrlich nicht – weder William Shakespeare, aus dessen Feder die literarische Vorlage stammte, noch der Maestro Giuseppe Verdi bei seiner musikalischen Umsetzung. Blutrünstig geht es zu in diesem Melodramma. Doch wie heißt es so schön:

In der Oper wird mit einem Messer im Rücken zuerst gesungen und dann gestorben!

Und in diesem Fall wird viel gesungen und viel gestorben. Verdi brach mit den damalig vorherrschenden Gewohnheiten und verzichtete auf Heldentenor, Koloratur zwitschernden Sopran, Liebesgeschichte und sonstigem süßlichen Opern-Kitsch. Stattdessen beleuchtete er die psychologische Motivation der Figuren und etablierte den Opernchor als eigenständigen Protagonisten.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Mein spontaner Blick auf den Saalplan offenbarte Überraschendes: Auch so kurzfristig war es durchaus noch möglich, in jeder Preiskategorie gute Sitzplätze zu ergattern. So saß ich (dem Sujet angemessen) königlich in der Mitte der vierten Reihe im Parkett. Links von mir war die restliche Reihe 4 ebenso frei, wie die komplette erste Reihe, und auch hinter mir klafften einige Lücken in den Sitzreihen. Was könnten die Gründe sein, dass das Publikum diese Inszenierung nicht stürmte? Waren es schon die Auswirkungen der Inflation, wo das Geld nicht mehr so locker sitzt, und jede*r von uns sich genau überlegt, wofür er es ausgibt? Lag es an der Stückauswahl mit den Themen Machtmissbrauch, Krieg und Gewalt? Rückte somit das Geschehen auf der Bühne zu nah an unsere eigene Realität? Wer weiß…?!

An der Qualität der Aufführung kann es nicht gelegen haben: Hier bot das Stadttheater wieder Erlesenes. Eingangs betrat Dramaturg Markus Tatzig die Bühne und ließ besonderes erahnen: Ein Ensemblemitglied war leider erkrankt. Aufgrund der Kurzfristigkeit kam es zu einer Rollenteilung: Tenor Michael Müller-Kasztelan von der Oper Kiel würde dankenswerter Weise die Partie des Malcom vom Bühnenrand singen, während Regieassistentin und Abendspielleitung Annika Ellen Osenberg die Rolle auf der Bühne verkörperte. Das ist eben Theater: Nichts ist vorhersehbar! Nichts ist wiederholbar! Alles ist live!

Regisseur Philipp Westerbarkei hat sich das Libretto sehr genau angeschaut und entwickelte aus ihm die Motivation des Handlungspersonals. Jede Reaktion scheint begründet, und jede Emotion ist nachvollziehbar. Gemeinsam mit seinem Ensemble erarbeitete er schlüssige Psychogramme der Personen und gönnte niemanden auf der Bühne eine Verschnaufpause. Alle waren hochkonzentriert präsent und boten somit nicht nur gesanglich sondern auch schauspielerisch hervorragende Leistungen. Sein Bühnenbild vermittelt Endzeitstimmung und lässt die Fiktion mit der Realität verschmelzen: Das Schloss von Macbeth wirkt wie der ausgebrannte bzw. zerbombte Theatersaal des Stadttheaters. Die Kostüme von Tassilo Tesche unterstreichen dieses Konzept.

In Verdis Oper ist der Chor nicht nur schmückendes Beiwerk oder dekorative Menschenmasse. Hier ist er eine eigenständige Hauptperson, die wesentlicher Bestandteil der Handlung ist, und dank der versierten Führung durch den Regisseur auch in den Charakteren Individualität zeigte. Für den grandiosen Klang zeichnete wieder Chorleiter Mario Orlando El Fakih Hernández verantwortlich, der es wunderbar verstand, den Opernchor mit dem Extrachor zu verschmelzen und aus beiden eine homogene Einheit zu formen.

In kleineren Häusern ist es nicht ungewöhnlich, dass kleinere Partien auch von Solisten aus dem Opernensemble verkörpert werden und somit zur Qualität der Aufführung beitragen: Boshana Milkov als Kammerfrau und Marcin Hutek als Arzt überzeugten so auch in ihren wenigen Auftritten. Konstantinos Klironomos gab mit potentem Tenor und dramatischem Spiel einen starken Macduff. Ulrich Burdack vermittelte als Banquo glaubhaft dessen Verzweiflung im Angesicht der unvermeidlichen Ereignisse.

Marion Pop brillierte gesanglich wie darstellerisch in seiner Rollen-Charakterisierung. Einerseits war sein Macbeth ein schmieriger Emporkömmling, der nach Macht dürstet, andererseits fehlten ihm „die Eier in der Hose“, um die Konsequenzen für sein Handeln zu tragen. Bemerkenswert, wie Pop die Zerrissenheit innerhalb dieser Figur Ausdruck verlieh. „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau!“ In diesem Fall war es ein wahres Monster-Weib, das manipulativ, machthungrig und sexbesessen über Leichen ging. Signe Heiberg gab als Lady Macbeth ihr Rollendebüt: Mal gurrte sie verführerisch, dann scheute sie auch nicht die weniger schönen Töne, um die Ambivalenz ihrer Figur zu verdeutlichen, um im nächsten Moment ihre Stimme mit emotionaler Kraft über das Orchester hinweg in den Zuschauerraum zu schleudern. Grandios!

Ebenso grandios hat GMD Marc Niemann „seine“ Philharmoniker im Griff: Beginnend mit der düsteren Ouvertüre, zu dessen Takte die Lampen im Saal unheilvoll flackerten, um dann gänzlich zu erlöschen; über die mystischen Klänge der Holzbläser, die Unheil erahnen lassen; aufgelockert durch Passagen, die eine unbeschwerte Leichtigkeit vorgaukeln; nur um dann wieder in den dunklen Tonfarben zu verfallen, die die seelischen Abgründe der Protagonisten wiederspiegeln.

Hach, wie schön, dass ich mich nur mal eben auf den Weg nach „nebenan“ machen muss, um begeisterndes und aufwühlendes Theater erleben zu dürfen – auch ganz spontan…!


Studierende der Hochschule Bremerhaven begleiteten im Rahmen eines Seminars des Studiengangs „Digitale Medienproduktion“ einige Proben am Stadttheater und entwickelten hieraus einen äußerst sehenswerten Trailer:


Leider gibt es nur noch eine einzige Gelegenheit, diesen düsteren Opern-Krimi MACBETH auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven erleben zu können…!

[Operette] Paul Abraham – VIKTORIA UND IHR HUSAR / Stadttheater Bremerhaven

Operette von Paul Abraham / Libretto von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda nach Imre Földes / Bühnenpraktische Rekonstruktion von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger

Premiere: 5. Februar 2022 / besuchte Vorstellung: 27. Februar 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Tonio Shiga
Inszenierung: Erik Petersen
Bühne & Kostüme: Lukas P. Waßmann
Choreografie: Sabine Arthold
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Wie lautete meine Einschätzung nach meinem Besuch der Operette Der Bettelstudent im Stadttheater Bremerhaven vor beinah genau zwei Jahren:

Entweder du nimmst als Regisseur*in die Handlung einer Operette ernst (wenn es das Sujet hergibt!) oder du machst – nachdem du einen Blick auf die oftmals hanebüchene Story geworfen hast – das genaue Gegenteil. 

In diesem Fall nahm Regisseur Erik Petersen die Handlung und die dort agierenden Personen ernst, schenkte den Zuschauer*innen ein Übermaß an Gefühle mit einer gehörigen Portion Entertainment und überzeugt durch eine detailreiche, wohl durchdachte Personenführung, die auch den Opernchor nicht ausschließt…!

Stephan Koltay und sein Bursche Janczi sind in russischer Kriegsgefangenschaft. Ein Wächter verhilft ihnen zur Flucht nach Japan. Dort angekommen begegnet Koltay überraschend seiner großen Liebe Viktoria. Sie ist mittlerweile verheiratet. Im Glauben, dass Koltay gefallen sei, hatte sie sich dem amerikanischen Diplomaten John Cunlight versprochen und war ihm nach seiner Ernennung zum amerikanischen Botschafter in Japan nach Tokio gefolgt. Nun befindet sich das Botschafterehepaar erneut vor der Abreise. Für Viktoria ist der Schock groß, den totgeglaubten Koltay wieder zu sehen, der sich Cunlight unter dem Namen Czaky vorstellt. Cunlight weiß nichts von Viktorias Vorgeschichte. Er bietet Koltay und Janczi an, unter diplomatischem Schutz nach St. Petersburg zu reisen – gemeinsam mit ihm, Viktoria, deren Bruder Ferry samt frischgebackener Ehefrau O Lia San und Viktorias Zofe Riquette, auf die Janczy ein Auge geworfen hat. In Russland scheitern Koltays Versuche, Viktoria zurückzugewinnen. Überzeugt, dass Viktoria ihn nicht mehr liebt, liefert er sich dem russischen Geheimdienst aus. Abermals muss Viktoria glauben, ihre große Liebe für immer verloren zu haben. Einige Zeit später kehrt Viktoria, mittlerweile von Cunlight geschieden, in ihr ungarisches Heimatdorf Dorozsma zurück. Ferry ist glücklich mit O Lia San, und auch Janczi und Riquette leben zusammen. Der Brauch des Weinlesefestes sieht aber drei Hochzeitspaare vor. Da steht Koltay auf der Matte – durch Cunlights Hilfe…!

(Inhaltsangabe dem Programmheft zu dieser Produktion entnommen.)


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Die Musik drückt das aus,
was nicht gesagt werden kann
und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Victor Hugo

Es wirkt beinah so, als hätte sich Paul Abraham beim Komponieren die Worte Hugos zu Herzen genommen. So schenkte er der Nachwelt eine abwechslungsreiche Partitur voller Melodienreichtum und einer Fülle an Evergreens. Es schmachten die Geigen, Puszta-Klänge wabern aus dem Orchestergraben und vereinen sich mit fetzigen Jazz-Rhythmen, um dann in einen zarten Walzer-Takt überzugehen…! Abraham galt zu seiner Zeit völlig zu Recht als neuer König der Operette, der es verstand die musikalische Tradition mit den Klängen der modernen Zeit zu verbinden – bis die Nazis an die Macht kamen, und er gezwungen war, als gebrochener Mann ins Exil zu flüchten. Tonio Shiga entlockt dem fabelhaft aufspielenden Philharmonischen Orchester Bremerhaven süffig-schmachtende Töne zur Untermalung der überschwänglichen Gefühle der Figuren, um gleich darauf im Offbeat dem Swing zu frönen, der über das Ohr direkt durch das Herz in die Füße des Zuhörenden rutscht.

Das Stadttheater Bremerhaven schafft bravourös die Mamutaufgabe, diese personenintensive Ausstattungs-Operette (mit nur einem Gast) aus dem hauseigenem Ensemble zu besetzten: Signe Heiberg entlockt ihrer Viktoria gesanglich ebenso zarte Kadenzen wie dramatische Ausbrüche und besticht in ihrer Darstellung durch ihre Emotionalität, die sie hinter vornehmer Zurückhaltung zu verstecken versucht. Marcin Hutek als Viktorias Gatte John Cunlight gelingt es famos, die Noblesse seines Baritons in sein Rollenporträt einfließen zu lassen. Alexander Geller gibt optisch einen attraktiven Stephan Koltay und lässt mit seinem dynamischen Tenor die innere Zerrissenheit seiner Figur erkennen.

Es ist immer wieder eine Freude, einem Bühnenpaar zuzuschauen, bei dem ihre Darsteller so vertraut miteinander scheinen, dass ihre Aktionen auf der Bühne wie selbstverständlich wirken: Victoria Kunze als O Lia San und Andrew Irwin als Graf Ferry Hegedüs harmonieren ausgesprochen gut miteinander und überzeugen in ihren Darbietungen sowohl durch schauspielerisches Talent und Komik als auch durch gesangliches Können. Gelegenheit zum Üben hatten sie reichlich: So stehen sie u.a. auch als Blonde und Pedrillo in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf eben dieser Bühne.

Jan-Philipp Rekeszus (als Gast) gefällt als quirliger Janczy mit rustikalem Charme. Als Mitglied des Opernchors kann Sydney Gabbard als Riquette ihre solistischen Qualitäten zeigen und nutzt diese Chance zur Freude des Publikums. Gleiches darf ich auch Katharina Diegritz, Brigitte Rickmann, Patrick Ruyters und Róbert Tóth attestieren, die in kleineren Rollen zu gefallen wissen. Und auch die restlichen Damen und Herren vom (mir hin und wieder gescholtenen) Opernchor entpuppen sich dank der versierten Führung des Regisseurs und unter der Leitung von Mario Orlando El Fakih Hernández zu einer spielfreudigen wie stimmstarken Einheit. Bei dieser Fülle an musikalischen Stilen konnte auch Sabine Arthold bei ihrer Choreografie aus den Vollen schöpfen und präsentiert mit dem vorzüglichen Ballett-Ensembles des Stadttheaters eine wunderbar abwechslungsreiche tänzerische Bandbreite.

Der international gefragte Bühnen- und Kostümbildner Lukas Pirmin Waßmann schenkt uns eine Ausstattung voller Eleganz und Flair. So geschmackvoll und bis ins kleinste Detail edel durfte ich bisher noch keine Operette erleben. Mit dieser Produktion muss sich das Stadttheater Bremerhaven wahrlich nicht hinter größeren Häusern verstecken. Bravo!

Seit letztem Sonntag summe und pfeife ich die Melodien aus dieser Operette bei jeder möglichen (aber leider auch unmöglichen) Gelegenheit und ernte dafür in der Öffentlichkeit verwunderte Blicke. Doch ich kann diesen Impuls einfach nicht unterdrücken: Ist es noch in einem vertretbaren Maße, oder muss ich mir schon Sorgen machen…? 😉


Bis  zum Ende der Spielzeit bleibt VIKTORIA UND IHR HUSAR am Stadttheater Bremerhaven noch ein wenig Zeit, sich schmachtend in die Arme zu fallen.

[Musical] Benny Andersson & Björn Ulvaeus – CHESS / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Benny Andersson & Björn Ulvaeus / Liedtexte von Tim Rice / basierend auf einer Idee von Tim Rice / neue deutsche Textfassung von Kevin Schroeder

Premiere: 30. Oktober 2021 / besuchte Vorstellungen: 19.11.2021, 23.01. & 08.06.2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni (19.11. & 08.06.) / Tonio Shiga (23.01.)
Inszenierung: Andreas Gergen
Spielleitung & Choreografie: Till Nau
Bühne & Video: Momme Hinrichs (fettFilm)
Kostüme: Conny Lüders
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Es gibt sie eben diese musikalischen Werke, die beim Ansehen/Anhören die Emotionen zum Überlaufen bringen. Und jede*r von uns hat da eine ganz persönliche Hit-Liste. Ich liebe die eher klassischen bzw. symphonischen Musicals: Wenn am Ende der „West Side Story“ Tony gemeinsam mit Maria ein paar Noten von „Somewhere“ haucht, um dann in ihren Armen zu sterben, breche ich in Tränen aus. Bei „Les Miserablés“ beginne ich spätestens bei Eponines Tod hemmungslos zu schluchzen, kralle mich in die Hand meines Gatten und beruhige mich erst wieder auf dem Weg Richtung Heimat. Doch auch mein Mann hat seine Emotions-Musicals: So stellt sich jedes Mal eine Gänsehaut bei ihm ein, wenn Graf Krolock seine „Unstillbare Gier“ besingt. Doch feuchte Augen bekommt er nur bei einem einzigen Musical: CHESS. So war der November 2021 ein einziges Freudenfest für ihn. Als bekennender ABBA-Fan der ersten Stunde kam nicht nur ein neues Album nach 40 Jahren auf dem Markt – Nein! – auch „unser“ Stadttheater Bremerhaven hatte das erste Musical der beiden ABBA-Männer auf den Spielplan gesetzt. So saßen wir am 19. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit lieben Freunden im Zuschauersaal, und diesmal war es mein Mann, der während der Vorstellung seine Hand in meine krallte – mehrmals!!!

Bei der Schachweltmeisterschaft in Merano kämpft der amtierende Weltmeister der Amerikaner Frederick Trumper gegen den Russen Anatoly Sergievsky um die Schachkrone. Begleitet wird Trumper von seiner Managerin und Partnerin Florence Vassy, die im Budapester Aufstand von 1956 ihren Vater verloren und so ein ambivalentes Verhältnis zum russischen Regime hat. Trotzdem kommen sie und Sergievsky sich näher, als sie versucht – nachdem Trumper das Turnier wütend verlassen und somit einen Skandal ausgelöst hat – die Wogen zu glätten. Am nächsten Tag wird das Turnier unter dem strengen Blick des Schiedsrichters fortgesetzt, aus dem Anatoly Sergievsky als Sieger hervorgeht. Trotz strengster Überwachung durch Alexander Molokow, dem Chef der russischen Delegation, kann er die Gunst der Stunde nutzen und in den Westen überlaufen, um dort mit Vassy zu leben. Ein Jahr später muss Sergievsky sich in Bangkok einem neuen sowjetischen Herausforderer stellen. Dabei trifft er zwangsläufig auf bekannte Gesichter. Trumper arbeitet mittlerweile als TV-Kommentator, der ihn während eines Interviews mit provakanten Fragen aus der Reserve lockt. Auch Molokov ist vor Ort und scheut keine Mittel, um Anatoly Sergievsky zu einer Niederlage zu bewegen. Dabei manipuliert er hemmungslos die Mitmenschen, als würde er Schachfiguren über ein Spielfeld schieben. So lockt er Vassy mit dem Versprechen, ihren verschollenen Vater wiederzusehen, und lässt Sergievskys Ehefrau Svetlana nach Bangkok einfliegen, um sie und die gemeinsamen Kinder als Druckmittel einzusetzen. Anatoly Sergievsky trifft seine Entscheidungen: Er gewinnt abermals das Turnier, verlässt aber Vassy, um mit seiner Frau nach Russland zurückzukehren.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Nobody’s Side, Pity The Child, Heaven Help My Heard, Anthem, Someone Else’s Story, I Know Hím So Well und natürlich das vielleicht bekannteste Stück One Night in Bangkok, dazu grandiose Chorpartien wie Merano und Hymn To Chess: An der exzellenten Musik lag es nie, warum dieses Musical eher selten gespielt wurde. Vielmehr lag das „Problem“ eher im etwas sperrigen Buch begründet, in dem manche Handlungsstränge unmotiviert und die Beweggründe der Personen wenig nachvollziehbar schienen. Doch Benny Andersson und Björn Ulvaeus waren sich nie zu schade, auf ihre Werke einen kritischen Blick zu werfen, um sie dann nochmals zu überarbeiten. So machte auch CHESS einige Veränderungen durch: Songs wurden umgestellt, flogen komplett aus der Show, oder wurden neu hinzugefügt. Die Handlung wurde gestrafft, und statt den Schwerpunkt auf die Politik-Parabel mit Ost-West-Konflikt zu belassen, lenkten sie den Fokus mehr auf die (zwischen)menschlichen Komponenten. Alle diese Maßnahmen haben dem Werk durchaus gutgetan, trotzdem bedarf es ein schlüssiges Regie-Konzept, um CHESS aus dem anfänglichen Korsett eines Konzept-Albums zu lösen.

Unter der neuen Intendanz von Lars Tietje gönnt sich das Stadttheater Bremerhaven genau diesen „Luxus“ und geht eine Kooperation mit dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin ein, wo diese Inszenierung in der letzten Spielzeit Premiere hatte und leider nach nur wenigen Vorstellungen dem Lockdown zum Opfer fiel. „Never change a winning team!“ wird sich Tietje vielleicht gedacht haben und lockte gemeinsam mit dem Produktions-Team auch zwei der Hauptdarsteller in die Seestadt an der Weser. Musical-Magier Andreas Gergen schafft mit seinem Team ein so stimmiges Konzept, bei dem die einzelnen Teile aus Regie, Choreografie, Bühne, Kostüme und Video-Projektionen zusammen mit den heimischen Kräften nahtlos ineinander übergehen und so ein perfektes Ganzes bilden. Dabei liefert Gergen dem Publikum durchaus die große Show, setzt aber ebenso wichtige Akzente im Schauspiel: Durch kleine Gesten oder nur einem Blick bis zum großen dramatischen Ausbruch wird so das Handeln der Protagonist*innen für die Zuschauer nachvollziehbar gemacht. Dies gelingt natürlich nur, da ihm talentierte Darsteller*innen zur Verfügung stehen.

Femke Soetenga (Florence Vassy) und Marc Clear (Anatoly Sergievsky) wiederholen ihre Parts aus Schwerin und sind ein eingespieltes Team ohne routiniert zu wirken. Soetenga gestaltet ihren Part zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzweifel sehr geschmackvoll. Glücklicherweise hat sie viel zu singen, so kamen wir oft in den Genuss, ihrer wunderschönen Stimme lauschen zu dürfen. Marc Clears Sergievsky ist alles andere als der unterkühlte Stratege. Vielmehr porträtiert er Sergievsky als mitfühlenden Charakter mit einer empfindsamen russischen Seele, was er auch gesanglich famos auszudrücken versteht. Tobias Bieri gibt den Frederick Trumper mit überheblicher Arroganz – ein Jungspund, der unter der scheinbar makellosen Oberfläche seine Narben verbirgt:  Bei Pity The Child sorgt er mit seiner fulminanten Pop-Stimme für Gänsehaut.

Sowohl optisch wie auch stimmlich scheint Ulrich Burdack der Vorzeige-Molokow zu sein. Er strahlt – trotz scheinbar äußerer Ruhe – eine enorme Gefährlichkeit aus. Zudem verfügt er über einen vollen, flexiblen Bass, den er mal voluminös, mal verführerisch-lockend zum Klingen bringt. Patrizia Häusermann (Svetlana) gelingt das Kunststück, eine Nebenrolle durch Spiel und Gesang aufzuwerten. Sie harmoniert ganz wunderbar mit Soetenga bei I Know Hím So Well. Bei Someone Else’s Story zeigt sie ihr Können als klassisch-geschulte Liedsängerin und kann mit ihrer sensiblen Interpretation berühren. Svetlana ist für mich in diesem Musical die einzig wahre tragische Figur, da ihr eine Wahlmöglichkeit verwehrt bleibt: Alle anderen Protagonist*innen können für sich selbst entscheiden. Sie ist – vom Ehemann im Stich gelassen – einem Regime ausgeliefert, das droht, ihr die Kinder zu nehmen. Häusermann lässt mit nuanciertem Spiel ihre Rolle mit Würde trauern, ohne eine innere Stärke vermissen zu lassen.

Da wir nun schon zum wiederholten Mal diesem musikalischen Schachturnier beiwohnten, hatten wir das Glück, zwei unterschiedliche Sänger in der Rolle des Schiedsrichters sehen zu dürfen. Während MacKenzie Gallinger (19.11. & 08.06.) eher der ruhende Pol im Spiel war, der beständig die Fäden in der Hand behielt, gestaltete Benjamin-Edouard Savoie (23.01.) den Part deutlich exaltierter und amüsierte mit beinah „monk“schen Allüren.

CHESS braucht einen voluminösen Chor! CHESS bekommt ihn: Unter der versierten Leitung von Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernandez bringen die Damen und Herren die Hymnen überwältigend zu Gehör und gefallen ebenso in mancher kleinen Nebenrolle. Unterstützung erhalten die Solisten zusätzlich durch ein variables Pop-Trio (bestehend aus Sydney Gabbard, Carmen Danen und Konstantin Busack), das sie in ihren Solis stimmstark begleitet und auch in div. Mini-Rollen überzeugen. Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Davide Perniceni bzw. Tonio Shiga musiziert absolut auf dem Punkt und meistert gekonnt den Spagat zwischen Pop, Rock und Symphonie. Apropos Spagat: Das ich ein Fan der Ballettcompagnie des Stadttheaters Bremerhavens bin, habe ich schon mehrfach betont, und auch in diesem Fall wurde ich nicht enttäuscht: Ob als kecke Trachtengruppe, als lebensgroße Schachfiguren oder als Bangkoks Liebesdiener*innen – die Tänzer*innen beherrschen ihre Kunst zwischen Sinnlichkeit, Ästhetik und Athletik perfekt.

Wer großartiges Musik-Theater abseits der großen Metropolen sehen möchte, der MUSS sich auf den Weg nach Bremerhaven machen!

Epilog: Seit einigen Tagen bekomme ich von meinem Gatten – völlig unvermittelt und ohne Zusammenhang zum vorangegangenen Gespräch – Bemerkungen wie „CHESS kann man (!) sich auch durchaus ein drittes Mal ansehen!“ zu hören. Ich schwanke noch mit mir, ob ich das Gehörte geflissentlich ignoriere oder mich an den PC setzte, um Eintrittskarten zu reservieren. Mal schauen…! 😉


So saßen wir am 19. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit zwei lieben Freunden im Zuschauersaal, wie wir es vor über 2 Jahren schon für Sunset Boulevard taten, und wo sich folgendes zugetragen hatte. Während sie durchaus schon das eine oder andere Musical gesehen hatte, war er diesbezüglich eher unbeleckt und schien somit beinah überwältigt vom Orchester, von den Sänger*innen und der Inszenierung. In der Pause fragte er mich nach meiner Meinung als „Musical-Kenner“, und ich bestätigte ihm seinen positiven Eindruck. Voller Enthusiasmus postete er diesen auf Instagram und bekam von einer „lieben“ Freundin prompt folgende Rückmeldung „Schön, dass es dir gefällt, aber es gibt bessere Inszenierungen.“ …und danach schwärmte sie von einer wahrhaft fulminanten „Sunset Boulevard“-Inszenierung, die sie vor einigen Jahren mit einer namhaften Musical-Diva in der Hauptrolle gesehen hatte. Ernüchtert zeigte mir mein Freund diese (wenig empathische) Nachricht, und ich bestätigte ihm „Ja, irgendwo auf der Welt gibt es bestimmt eine bessere Inszenierung.“ Aber: Alles sollte in einer realistischen Relation betrachtet und bewertet werden. Wir befinden uns weder am Broadway noch im West End oder in Hamburg, wo eine Eintrittskarte der besseren Kategorie mein Portemonnaie locker um 180,– bis 200,– Euro erleichtert. Im Stadttheater Bremerhaven sitze ich für ca. 1/5 dessen, was eine Eintrittskarte für ein sogenanntes großes Musicals kostet, auf den besten Plätzen. Und dieses Haus schafft es immer wieder auf’s Neue mit den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten eine sehens- und hörenswerte Inszenierung auf die Beine zu stellen.

Natürlich gefällt auch mir in „meinem“ Stadttheater nicht jede Inszenierung gleichermaßen gut. Natürlich könnte auch ich an Kleinigkeiten herumkriddeln. „Suchet, so werdet ihr finden!“ doch die Suche nach Negativem empfinde ich als extrem ermüdend. Auch ein ständiges miteinander Vergleichen würde mir die Freude am Augenblick, den Genuss des Moments verleiten. Darum lautet(e) mein Credo:

Schön locker bleiben und die kulturelle Vielfalt in meiner Region (wert)schätzen und genießen.


Das Erstlings-Musical CHESS der beiden ABBA-Männer steht bis zum Ende der Saison auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven. Hingehen, anschauen & genießen…!!!

[Oper] Jacques Offenbach – HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN (Les Contes d’Hoffmann) / Stadttheater Bremerhaven

Fantastische Oper in  fünf Akten von Jacques Offenbach / Libretto von Jules Barbier / nach dem gleichnamigen Drama von Jules Barbier und Michel Carré / in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 25. September 2021 / besuchte Vorstellung: 3. Oktober 2021

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann
Inszenierung: Johannes Pölzgutter
Bühne & Kostüme: Julius Semmelmann
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Zum ersten Mal in dieser Saison sitzen wir im Rahmen unseres Abonnements im Stadttheater Bremerhaven und starten mit der Eröffnungs-Inszenierung: „Big – Bigger – Biggest“ könnte über diesen Abend stehen, den es wird die ganz große Oper zelebriert. Dabei bezieht sich diese Aussage nicht etwa auf eine Gigantomanie in der Ausstattung – hier wird eher auf eine zurückhaltende doch äußerst elegante Optik gesetzt – sondern vielmehr auf die Macht der Gefühle und den Reiz der Musik.

Der Dichter E.T.A. Hoffmann sieht sich am Ende seiner Schaffenskraft: Wo ihn früher die Muse mit Inspiration überschüttete, fühlt er nun nur eine Leere, die er mit Alkohol zu füllen versucht. Doch die Muse hat ihn nie verlassen. Vielmehr ist sie nach wie vor an seiner Seite und bemüht sich, seinen göttlichen Funken nicht verlöschen zu lassen. Ein schweres Unterfangen, da Hoffmann mehr auf seine Saufkumpane hört. Sie stacheln ihn an, von seiner großen Liebe Stella zu erzählen. Nach anfänglichem Zögern ist er dazu bereit und versucht, seine Liebste anhand von drei Frauentypen zu beschreiben, wo jede eine andere Facette von Stella zeigt.

Da wäre als erste seiner Auserwählten Olympia, das mechanische Wunderwerk des genialen Konstrukteurs Spalanzani, die wunderbar singt, wunderbar tanzt und wunderbar aussieht. Leider hat sie einen großen Nachteil: Sie hat kein Herz, und sobald ihr der Strom abgedreht wird, sackt sie in sich zusammen. Doch Hoffmann ist von dieser perfekten Puppe geblendet, zumal ihm der zwielichtige Coppélius eine Brille verkaufte, durch die er die Welt nur in den schönsten Farben wahrnimmt. Da muss die Muse erst den Stecker ziehen, damit er unsanft auf den Boden der Tatsachen fällt.

Seine zweite Auserwählte ist die sterbenskranke Antonia, die von ihrem Vater Crespel behütet wird. Singen bedeutet für die junge Frau alles, doch gerade diese Leidenschaft würde ihr den Tot bringen. Hoffmann hat ihr seine schönsten Verse gewidmet, die nun nie über ihre Lippen kommen werden. Doch die Liebe zu ihr ist größer als sein Ego. Der Quacksalber Miracle hypnotisiert die Menschen in Antonias Nähe und verführt diese, trotz aller Warnungen zu singen. Tot bricht sie zusammen. Hoffmann ist verzweifelt.

Die dritte Auserwählte ist die Kurtisane Giulietta, die bewusst ihre Reize einsetzt, um so rücksichtslos die Männer für ihre Vorteile zu manipulieren. Auch Hoffmann verfällt dieser „Femme fatal“, die ihn zu einem Verbrechen anstachelt. Trotz aller Mühe seiner Muse, ihn aufzuhalten, begeht er einen Mord, indem er seinen Nebenbuhler erwürgt. Doch seine Angebetete ist längst mit dem diabolischen Dapertutto über alle Berge.

Die Saufkumpane bedauern das Leid, das die Liebe verursacht, und gönnen sich einen weiteren Schluck. Doch Hoffmann wurde von seinen eigenen Erzählungen wach gerüttelt und sieht deutlich seine Muse vor sich, die ihm Papier und Stift reicht…!

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Kaum eine andere Oper wurde so häufig umgeschrieben, gekürzt, Akte umgestellt wie bei Les contes d’Hoffmann, zumal Jacques Offenbach noch vor der Uraufführung verstarb und so keine endgültig redigierte Fassung hinterließ. So bietet dieses Werk schon über Jahrhunderte reichlich Interpretationsspielraum für kreative Theatermacher. Für Bremerhaven besah sich Regisseur Johannes Pölzgutter das Werk, das wie ein zerfranster Teppich anmutet, nahm die losen Enden auf, verknotete sie und verwebte sie dann zu einem stringenten Bild. Heraus kam eine Inszenierung ohne Effekthascherei, bei der die Konstellation der Personen zueinander im Mittelpunkt steht. Die Dynamik auf der Bühne entsteht somit nicht aus einer Hyperaktion des Ensembles sondern aus den Emotionen des Handlungspersonals. So wandelt sich im Laufe der Handlung zunehmend „Comique“ zu „Dramatique“.

Unterstützung in seinem Regiekonzept fand Pölzgutter im Bühnen- und Kostümbildner Julius Semmelmann, der Hoffmanns Welt in herrschaftlich-eleganten Räumen spielen lässt, mit dem Öffnen der Wände bzw. der Verschiebung des kompletten Bühnenbilds neue Perspektiven zaubert und zusätzlich mit raffinierten Überraschungen überzeugt. Auch bei seinen Kostümen ist der rote Faden sichtbar: So gewandete er die Damen in einer einheitlichen Farbpalette, erlaubt ihnen durch prägnante Einzelheiten aber auch Individualität. Dafür muten Hoffmanns Saufkumpane wie Klone des Dichters an. Die Muse schwirrt im eleganten Grau und einem Hauch Androgynität mit ihren Engels-Flügelchen durch die Szenerie. Hoffmann bleibt immer Hoffmann. Er ist die Titelfigur: Eine großartige Verkleidung ist hierbei nicht nötig.

Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Marc Niemann schien Offenbachs Melodien zu zelebrieren. Niemann führte Solisten und den vorzüglichen Chor sicher durch die Partitur und vollbrachte u.a. das Wunder, dass die zum Schlager verkommene Barcarole im 4. Akt dank aller Beteiligten zu einem musikalischen Genuss wurde.

Mirko Roschkowski gab den Hoffmann sowohl mit tenoraler Verve als auch mit nuanciertem Spiel. Seine Nebenbuhler in den einzelnen Akten wurden alle von Marian Pop verkörpert, der es mit seinem vollen Bariton schaffte, nicht „nur“ böse zu sein, sondern auch die Persönlichkeiten der jeweiligen Figur offenzulegen. Tenor Andrew Irwin zeigte in seinen Auftritten eine enorme Wandlungsfähigkeit: sei es als ein verschrobener „Big Bang Theory“-Nerd bei der Erschaffung von Olympia, als voluminös-robuste Haushälterin bei Antonia oder als der exaltierte Assistent von Giulietta. Ulrich Burdack hatte in der kleinen Rolle als Antonias Vater Crespel leider nur sehr wenige Gelegenheiten, seinen warmen, volltönenden Bass zu präsentieren.

Auch wenn wir hier den Erzählungen eines Mannes lauschen, so steht das Weib (die Weiber) im Mittelpunkt dieser Oper: Victoria Kunze brilliert als Olympia, meistert die Koloraturen wieder mit Leichtigkeit und liefert ein komödiantisches Kabinettstückchen ab. Marie-Christine Haase überzeugt als totgeweihte Künstlerin, die an ihrer Kunst zerbricht, und singt mit empfindsamen Sopran. Signe Heiberg gibt das Vollblutweib Giulietta mit üppiger Erotik und triumphierender Stimme. Die Muse von Patrizia Häusermann ist kein zartes Vögelchen, vielmehr greift sie beherzt ins Geschehen ein, um „ihren“ Hoffmann vor Schlimmeren zu bewahren. Dass sie singen kann, muss sie niemanden mehr beweisen, und doch erfreut es mich immer, wenn innerhalb einer überzeugenden Inszenierung ein zusätzliches Highlight aufblitzt: Hier gestaltet sie die schon erwähnte Barcarole gemeinsam mit Signe Heiberg äußerst geschmackvoll und fern jeglicher Schlager-Seligkeit.

Im Stadttheater Bremerhaven wurde (wird) GROSSE Oper präsentiert, das vom Publikum absolut zu Recht mit einem frenetischen Schluss-Applaus gewürdigt wurde.


Wann HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN wieder präsentieren werden, erfahrt Ihr auf der Homepage vom Stadttheater Bremerhaven.

[Musical] John Kander – CHICAGO / Stadttheater Bremerhaven

Musik von John Kander / Gesangstexte von Fred Ebb / Buch von Fred Ebb und Bob Fosse  nach dem Stück Chicago von Maurine Dallas Watkins / Deutsch von Erika Gesell und Helmut Baumann / mit englischen Songs und deutschen Dialogen

Premiere: 19. September 2020/ besuchte Vorstellung: 27. September 2020

Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Felix Seiler
Choreographie: Andrea Danae Kingston
Bühne: Hartmut Schörghofer
Kostüme: Julia Schnittger
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Roxie Hart ist ihre Ehe mit dem soliden aber unscheinbaren Amos überdrüssig und stürzt sich in Affären. Als ihr Liebhaber Fred Casely sie abservieren will, greift sie zum Colt und schießt ihn über den Haufen. Denn: Eine Roxie Hart verlässt man(n) nicht so einfach. Eine Roxie Hart ist ein Mädchen mit Ambitionen. Sie will die große Show auf einer noch größeren Bühne, so wie ihr Idol Velma Kelly, die sie prompt im Frauenknast kennenlernt. Velma wartet auf ihren Prozess: Sie hat ihren Ehemann im Bett mit ihrer Schwester erwischt und in einem Anfall von geistiger Unzurechnungsfähigkeit (ihre Verteidigungsstrategie vor Gericht) beide kurzerhand getötet. Nun wartet sie im Gefängnis unter der eisernen Führung von Mama Morton auf ihre Verhandlung. Die Presse ist begeistert von den mörderischen Mädels: Besonders Klatschkolumnistin Mary Sunshine bringt immer neue haarsträubende Enthüllungen, die ihr von Staranwalt Billy Flynn charmant-skrupellos in die Feder diktiert werden. Geschickt manipuliert er die Presse und prägt so die öffentliche Meinung. Das Ergebnis: Velma und Roxie werden freigesprochen und starten gemeinsam eine fulminante Karriere auf der Vaudeville-Bühne.

Musical in Zeiten von Corona: Geht das überhaupt? Blechernd klingt das Orchester aus den Boxen. Roxie liegt in ihrem Bett, wartet auf ihren Liebhaber und träumt von ihren Idol Velma Kelly, die plötzlich aus dem Schrank hüpft und gemeinsam mit drei Tänzern zu „All That Jazz“ Roxie und ihren Lover umtanzt. Statt großer Shownummer sah dies für mich eher nach Kammerspiel aus. Statt mit einem grandiosen „BÄHM!“ begann die Show mit einem verhaltenen „Pling!“. Ich stellte mir ängstlich die Frage „Geht das nun so weiter?“.

Nein! Es ging nicht so weiter! Erst der Mord an Fred Casely ermöglicht es Roxie, der Enge ihrer kleinen, unbedeutenden Welt zu entfliehen. Und so öffnet sich die Bühne wie die Büchse der Pandora und präsentiert das Spiel um Mord, Korruption und Manipulation: Spätestens beim „Cell Block Tango“ hatte ich sie, meine große Show!

Musical in Zeiten von Corona: Geht das überhaupt? Ja, es geht, und dazu auch noch ganz großartig! Selten griffen die Künste von Regie, Choreografie, Bühne und Kostüm so ineinander wie in dieser Inszenierung. Regisseur Felix Seiler machte aus der Not eine Tugend und zauberte aus den vorgegebenen 90 Minuten Spielzeit ohne Pause eine straffe Inszenierung, in der ein Highlight vom nächsten Highlight abgelöst wird. Fein differenziert zeigte sich seine Personenführung und überraschte mit ungewöhnlichen und witzigen Ideen. Großes Lob: Trotz Kürzung bzw. Straffung der Handlung hatte ich nicht das Gefühl, dass mir wesentliche Inhalte gefehlt hätten. Andrea Danae Kingston bot eine kreative und anspruchsvolle Choreografie und sorgt so – trotz Abstandsregelung – für abwechslungsreiche Bewegungsabläufe. Seiler und Kingston scheinen ein eingespieltes Team zu sein: Häufig war nicht nachvollziehbar, wo die Regie aufhörte und die Choreografie begann. Das Bühnenbild von Hartmut Schörghofer schafft stimmige Spielebenen und unterstützt die vorgegebene Distanz zwischen den Darstellern ohne an Atmosphäre einzubüßen. Die ansprechenden Kostüme von Julia Schnittger glänzen im 20er-Jahre-Look mit einem Touch Modernität.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Vier von den sechs Hauptrollen sind mit Musical-Profis besetzt: Valentina Inzko Fink gibt das naive Blondchen Roxie Hart mit einer gehörigen Prise Durchtriebenheit. Die Velma Kelly von Jasmin Eberl trieft vor ordinärem Selbstbewusstsein, lässt durchaus hinter der taffen Fassade Verletzlichkeit durchschimmern. Beide Ladies punkten mit grandiosen Stimmen, tänzerischem Können und einer Menge Sex-Appeal. Frank Winkels als Billy Flynn ist ein absoluter WoMenizer (😉) mit markantem Charme und markiger Stimme. Mona Graws Mama Morton ist als Oberaufseherin im Frauengefängnis Puff- und Beichtmutter in Personalunion mit dem Herz am rechten Fleck.

Aber auch die hauseigenen Kräfte aus dem Opernensemble verstehen sich in diesem Musical zu behaupten: MacKenzie Gallinger gibt seinen trotteligen, bemitleidenswerten Amos Hart mit nuancierter Stimme. Victoria Kunze glänzt mit Spielfreude und tiriliert sich bravourös durch die Koloraturen der Mary Sunshine. Die Damen vom Opernchor überraschen herrlich überdreht beim „Cell Block Tango“, während ansonsten der Opernchor dank der versierten Leitung von Mario Orlando El Fakih Hernández aus dem Off für stimmlich-stimmige Unterstützung sorgt.

In dieser Inszenierung, die aus einem Guss erscheint und voller Höhepunkte steckt, fällt es schwer, einzelne Leistungen hervorzuheben. Doch ich muss einfach das wunderbare Ballett-Ensemble loben, dass die Choreografie von Andrea Danae Kingston mit einer absoluten tänzerischen Brillanz umsetzte und auch in ihren Solis glänzte: BRAVO!

Corona-bedingt sitzt das (reduzierte) Orchester nicht im Graben vor der Bühne sondern wird live von der großen Probenbühne in den Zuschauerraum übertragen und dies mit einer für mich überraschend guten Ton-Qualität. Davide Perniceni führt seine Musiker mit straffen Dirigat und sorgt so für einen satten Music Hall-Sound.

Auch wenn ich bei einem Blick in den Zuschauersaal mit den massiv reduzierten Plätzen kurzzeitig einen Kloß im Hals verspürte und mir die Augen feucht wurden, konnte dies meine Freude an diesem ersten Theaterbesuch nach Monaten des Vermissens nicht mindern: Es geht weiter! HURRA!

So verließ ich nach der Show beschwingt das Theater und machte mich gut gelaunt einen Song pfeifend mit meiner Begleitung auf den Weg ins nahe Theater-Restaurant: Lasst uns (besonders in diesen Zeiten) das Leben genießen!


Wer einen Blick hinter die Kulissen des Musicals Chicago werfen möchte, dem kann ich nur wärmstens den Beitrag von Ilka D’Alessandro, Leiterin Marketing und Öffentlichkeitsarbeit am Stadttheater Bremerhaven, ans Herz legen. Zudem gibt es auf musicalzentrale ein lesenswertes Mini-Interview mit Regisseur Felix Seiler zu entdecken.


Bis zum Ende des Jahres sind vorerst weitere Aufführungstermine für CHICAGO am Stadttheater Bremerhaven geplant. Hoffen wir, dass es danach mit den mörderischen Mädels weitergeht…!

[Operette] Carl Millöcker – DER BETTELSTUDENT / Stadttheater Bremerhaven

Operette von Carl Millöcker / Text von Friedrich Zell und Richard Genée

Premiere: 1. Februar 2020 / besuchte Vorstellung: 16. Februar 2020

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Hartmut Brüsch
Inszenierung: Eike Ecker
Bühne & Kostüme: Ulrich Schulz
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Ohje, die Operetten-Puristen werden bei dieser Inszenierung erschüttert aufschreien: Alles – und wenn ich schreibe „alles“, dann meine ich wirklich „ALLES“ – wurde durch die Regisseurin Eike Ecker gegen den Strich gebürstet – und es war köstlich albern und herrlich überzeichnet! Aber nur so kann Operette heutzutage funktionieren: Entweder du nimmst als Regisseur*in die Handlung einer Operette ernst (wenn es das Sujet hergibt!) oder du machst – nachdem du einen Blick auf die oftmals hanebüchene Story geworfen hast – das genaue Gegenteil.

Ecker fischt sich aus dem großen Topf der Unterhaltung all die Zutaten heraus, die sie für einen abwechslungsreichen Operetten-Cocktail benötigt: Ein ordentliche Portion „Boulevard“, eine reelle Prise „Revue“ und einen Hauch „Trash“, und fertig ist eine bunte Seifenblase ohne Inhalt aber schön-schillernd anzusehen.

Die Irrungen und Wirrungen dieser Operette beginnen mit einem Kuss auf die Schulter einer jungen Dame und deren Schlag mit dem Fächer gegenüber dem Übeltäter, und schon ist die schönste Verwicklung im Gang. Einzelheiten erspare ich Euch und mir, denn auch die Handlung dieser Operette lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Sie lernen sich kennen! Sie verlieben sich! Sie trennen sich! Sie finden wieder zueinander! Sie leben glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende! ENDE!

Was bleibt ist eine locker-leichte Unterhaltung, die den Zuschauern eine ordentliche Portion Spaß bereitet, und alle Abteilungen eines Stadttheaters fordert. Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Hartmut Brüsch lässt Millöckers Musik so herrlich süffig erklingen. Auch optisch erstrahlt diese Inszenierung dank der Kreativität von Ulrich Schulz im satten Technicolor und punktet neben der Ausstattung mit farbenfrohen Kostümen und gewagten Frisuren.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Rainer Zaun gibt als vom Fächer getroffenen und Intrigen spinnenden Oberst Ollendorf eine imposante Figur, überzeugt mit schelmischen Spiel und seinem sonoren Bass. Cornelia Zink singt die auf der Schulter geküsste Komtesse Laura naiv-blond mit brillierendem Sopran. Als ihre Schwester Komtesse Bronislawa überzeugt Victoria Kunze nicht nur mit Stimme sondern auch mit einer immensen Spielfreude und ihrem ausgeprägten Talent für Komik. Deren Mutter, die Gräfin Nowalska mimt Sünne Peters mit witzigen Anleihen einer bösen Stiefmutter aus dem Märchen. Die beiden Bettelstudenten, scheinbaren Grafen und somit Objekte der Begierde für die Komtessen werden von MacKenzie Gallinger und Christopher Busietta mit tenoralem Verve und einem Hang zum Broadway verkörpert. Patrick Ruyters, Róbert Tóth, Shin Yeo und Patrizia Häusermann (in einer Hosenrolle) warfen sich mit Elan in ihre Rollen als dusseliger Sidekick von Oberst Ollendorf. In doppelter Funktion als Kerkermeister Enterich und Diener Onuphrie gefiel Schauspieler Guido Fuchs, der viele Lacher auf seiner Seite hatte.

Wenn ich mir eine Operette im Theater anschaue, dann erwarte ich keine intellektuelle Herausforderung. Im Gegenteil: Ich möchte mich schlicht und ergreifend „nur“ amüsieren. So kann ich dem Stadttheater Bremerhaven aus Überzeugung attestieren:

Bei Eurem „Bettelstudenten“ kommt das Amüsement wahrlich nicht zu kurz!


DER BETTELSTUDENT bietet noch bis zum Ende der Spielzeit „Schmalz“ vom Feinsten.

[Oper] Pietro Mascagni – CAVALLERIA RUSTICANA & Ruggero Leoncavallo – DER BAJAZZO / Stadttheater Bremerhaven

Cavalleria Rusticana: Oper von Pietro Mascagni / Libretto von Giovanni Targioni-Tozzetti und Guido Menasci / Der Bajazzo (Pagliacci): Oper von Ruggero Leoncavallo mit dem Libretto vom Komponisten / in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 2. November 2019 / besuchte Vorstellung: 19. Januar 2020

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Martin Schüler
Bühne & Kostüme: Gundula Martin
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Als „die ungleichen Zwillinge“ werden sie genannt, diese beiden Kurz-Opern. Schon bald nach ihrer Uraufführung etablierte sich die Praxis, beide an einem Abend aufzuführen. Regisseur Martin Schüler verbindet sie Dank eines raffinierten Kniffs geschickt miteinander: Bei beiden Opern bilden die Zimmer in einem Altenheim den formalen Rahmen.

Bei „Cavalleria Rusticana“ denkt die alte Santuzza, am Rollstuhl gefesselt und auf Hilfe des Pflegepersonals angewiesen, an ihre verlorene Liebe Turiddu, der Alfios Gattin Lola liebte und ein Verhältnis mit ihr hatte. Aus Eifersucht informierte sie Alfio über diese Liebschaft, der Turiddu zum Duell aufforderte und ihn daraufhin tötete. Nun lebt Santuzza mit der Schuld, am Tod ihres Liebsten mitverantwortlich zu sein…!

Im Nachbarzimmer bei „Der Bajazzo“ erwacht der verkrüppelte Schauspieler Tonio und denkt an vergangene Erfolge bei einer Wanderbühne. Seiner heimlichen Liebe galt der damaligen Darstellerin der Colombine Nedda. Als er ihr seine Liebe offenbarte, wurde er nur ausgelacht und verspottet. Obwohl sie mit dem Direktor der Wandertruppe Canio verheiratet war, flirtete sie hemmungslos mit dem Darsteller des Harlekins und traf sich heimlich mit dem jungen Silvio. Tonio übte Rache: Er informierte Canio über die vielfältigen Liebschaften seiner Frau. Auf offener Bühne forderte der wütende Canio seine Frau Nedda auf, ihm die Namen ihrer Liebhaber zu nennen. Als diese sich weigert, stach er sie vor den Augen des Publikums nieder…!

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Martin Schüler lässt in beiden Opern die Hauptakteuer auf ihr jeweiliges Leben zurück blicken: Jeweils am Lebensende ziehen die Bilder der Vergangenheit vor ihren geistigen Auge vorbei und quälen sie…! Die Regie zielt ganz auf das feine Herausarbeiten der inneren Zwiespälte der Protagonist*innen. Dunkler als gewohnt ist Schülers Inszenierung, und plakative Folklore sucht der Zuschauer vergebens.

Jadwiga Postrozna gibt eine mitleiderregende Santuzza mit warmen Sopran. Marco Antonio Rivera brilliert mit metallenem Tenor als Turiddu ebenso wie als Canio. Die Nedda von Tijana Grujic ist eine verführerische aber auch unbedacht wirkende junge Frau. Am wandlungsfähigen war allerdings Marian Pop, der als in sich gekehrter Alfio ebenso überzeugte wie als extrovertierter Possenreißer und verschlagener Störenfried Tonio. In kleineren Rollen überzeugten Patrizia Häusermann, Brigitte Rickmann, MacKenzie Gallinger und Vikrant Subramanian.

Dirigent Davide Perniceni lässt das Philharmonische Orchester Bremerhaven genügend Freiraum für Dramatik und Melodik. Schwelgerische Chorpassagen (fulminant vom Opernchor dargeboten) wechseln mit symphonischen Zwischenspielen und dramatischen Arien.

Verismo für Auge & Ohr, für Herz & Hirn…!


Die UNGLEICHEN ZWILLINGE der Opernliteratur tauchen nur noch für wenige Termine im Stadttheater Bremerhaven auf.

[Musical] Frank Wildhorn – DER GRAF VON MONTE CHRISTO / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Frank Wildhorn / Buch und Songtexte von Jack Murphy / Orchestrierung und Arrangements von Kim Scharnberg und Koen Schoots / Deutsch von Kevin Schroeder

Premiere: 21. September 2019 / besuchte Vorstellung: 26. Oktober 2019

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Felix Seiler
Bühne & Kostüme: Hartmut Schörghofer
Choreographie: Andrea Danae Kingston
Fechtchoreographie: Jean-Loup Fourure
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Bombastisch wie eine Welle rollt die Musik vom Philharmonischen Orchester unter dem dynamischen Dirigat von Davide Perniceni aus dem Graben Richtung Publikum. Der Chor eröffnet mit einem dramatischen Sopran-Solo, und schon sind wir mitten im Intrigenspiel rund um den jungen Seemann Edmond Dantès, das im Original vom Romancier Alexandre Dumas erdacht wurde.

Eine schändlichen Intrige von Fernand Mondego, Gérard von Villefort und dem Baron Danglars, die alle selbstsüchtig aus persönlichen Beweggründen (Begierde, politisches Kalkül, Geldgier) agieren, trennt Edmond Dantè von seiner Angebeteten Mercédès. Er wird unschuldig zu lebenslanger Haft im Kerker Château d’If verurteilt. Mit der Hilfe seines Mitgefangenen, dem alten Abbé Faria gelingt ihm nach 14 Jahren die Flucht. Der sterbende Abbé verrät ihm das Versteck eines sagenhaften Schatzes auf der Insel Monte Christo. Ein Piratenschiff unter der Führung der Kapitänin Luisa Vampa bringt ihn dorthin. Mit einer neuen Identität als wohlhabender Graf von Monte Christo kehrt Dantè in seine Heimat zurück, um zu erkennen, dass seine große Liebe Mercédès mit seinem Widersacher Fernand Mondego unglücklich verheiratet ist. Deren gemeinsamer Sohn Albert steht kurz vor der Verlobung mit der reizenden Valentine. Die Freundschaft mit ihm nutzt der Graf von Monte Christo um sich seinen Widersachern zu nähern. Sein Spiel aus Rache und Richten beginnt…!

Komponist Frank Wildhorn hat sich im Laufe der Jahrzehnte einen Namen mit der Vertonung klassischer Stoffe (Jekyll & Hyde, The Scarlet Pimpernel, Cyrano de Bergerac, Carmen, Bonnie & Clyde) gemacht. Sein kompositorischer Stil passt auch hervorragend zu diesen Sujets und bietet eine Mischung aus symphonischen Klang und üppigen Chorsätzen, filmischen Underscore und emotionalen Balladen. Dabei liefert er immer wieder eine effektvolle Musik, die der Handlung durchaus dient, aber leider auch innerhalb seiner Werke austauschbar erscheint. Trotz aller Gefälligkeit gibt es kaum Melodien, die länger im Ohr bleiben. Auch in Bremerhaven ist er kein Unbekannter: In der Saison 2016/17 zeigte das Stadttheater eine moderne Inszenierung von „Dracula“ mit Anna Preckeler als Mina, Maximilian Mann als Jonathan Harker und Christian Alexander Müller in der Titelrolle.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Regisseur Felix Seiler bietet mit Bühnenbildner Hartmut Schörghofer dem Publikum eine sensationelle Inszenierung. Seiler lotet mit seinem Ensemble die Beziehungen der Protagonisten zueinander aus und kreierte so eine dichte Inszenierung mit einer überzeugenden Personenführung. Er erlaubte sich den Spaß und versteckte kleine „Easter Eggs“ aus Film (Titanic) und Musical (The Phantom oft he Opera) in die Handlung (Zumindest war ich der Meinung, diese dort entdeckt zu haben!).

Vikrant Subramanian überzeugte in der Titelrolle mit klassischem Bariton, den er musical-like zurücknahm, um so mit flexibler Stimme zu glänzen. Auch darstellerisch hat er sich in den letzten Jahren zu einem „Leading Man“ des Hauses gemausert. Sein Widersacher Fernand Mondego wurde von Marco Vassalli beinah unangenehm schmierig verkörpert: In seinem dunkel-gefärbten Bariton schwang immer ein gehöriges Maß an Gefährlichkeit mit. Anna Preckeler glänzte als Gast (nach Dracula) wieder in einem Wildhorn-Musical, sei es als junge leidenschaftliche Frau oder als ältere verzweifelte Mutter, und bot auch gesanglich große Momente. Die größte Überraschung präsentierte allerdings Victoria Kunze in der Doppelrolle Luisa Vampa/ Valentine: Während sie die Piratenkapitänin rollendeckend robust-vulgär mit einem Hang zur Komik anlegte, gestaltete sie die Rolle der Valentine sehr zart mit lyrischem Sopran und emotionalem Spiel.

Seiler versteht es nicht nur seine Protagonisten sondern auch den Opernchor geschickt zu führen. Selten habe ich den Chor so spielfreudig und variabel erlebt. Mein besonderes Lob gilt hierbei den Damen, die nicht nur als Piratinnen und Ladies der feinen Gesellschaft gefielen: Auch als „Mädchen der Nacht“ waren sie ungewohnt kokett-frivol! Das Ballett des Hauses zeigte in der Choreografie von Andrea Danae Kingston sein Können und war weit mehr als „nur“ schmückendes Beiwerk, während Jean-Loup Fourure für die Einstudierung der rasanten Fechtchoreografie verantwortlich war.

Ein weiterer „Hauptdarsteller“ war das Bühnenbild von Hartmut Schörghofer: Er schafft auf der variablen Drehbühne immer wieder neue Spielebenen, arbeitet mit dem Wechsel der Perspektiven, bei denen auch Licht und Schatten eine besondere Bedeutung spielten, und nutzt alle Möglichkeiten der Bühnentechnik. Auf der rechten Bühnenseite wurden mit Hilfe von Vorhängen, Versatzstücken und dem geschickten Einsatz von Projektionen die unterschiedlichen Handlungsorte dargestellt. Die linke Bühnenseite sowie die spiralförmig ansteigende Drehbühne erschienen dagegen wie aus Stein: Auf der Drehbühne führten lange Kreidestriche in verschiedene Richtungen und wirkten wie Verbindungen innerhalb eines Beziehungsgefüges bzw. einer Figurenkonstellation. Die linke Wand war dafür übersät mit vielen kleinen Strichen, die die Tage/ Monate/ Jahre symbolisieren sollten, die Edmond Dantè in Château d’If verbrachte.

Es war erstaunlich und eine Freude zu erleben, wie sich aus allen Einzelteilen dieser Inszenierung ein großes, fulminantes Ganzes formte. Das Stadttheater Bremerhaven hat (wieder) nachdrücklich bewiesen, dass durchaus auch ein kleines Haus in der Lage ist, seinem Publikum exzellente Musical-Unterhaltung zu bieten.


DER GRAF VON MONTE CHRISTO kämpft noch bis zum Ende der Spielzeit um Rache und Gerechtigkeit.