[Oper] Richard Strauss – DER ROSENKAVALIER / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Richard Strauss / Libretto von Hugo von Hofmannsthal / in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 4. Mai 2024 / besuchte Vorstellung: 10. Mai 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann / Hartmut Brüsch (10.05.)
INSZENIERUNG & BÜHNE Julius Theodor Semmelmann
KOSTÜME Carola Volles
DRAMATURGIE Markus Tatzig
CHÖRE Mario Orlando El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
ASSISTENZ BÜHNE & KOSTÜM María del Mar Sánchez Expósito
ORGANISATION & STIMMBILDUNG KINDERCHOR Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Mahina Gallinger


Da saßen wir am Montag vor der Premiere bei der „Kostprobe“ im oberen Rangfoyer, blickten auf die kleine Bühne und staunten: Die Kostümabteilung hatte dort zur Anschauung drei Schneiderpuppen mit traumhaften Roben drapiert. Mit Ehrfurcht betrachteten wir die detailreiche und filigrane Arbeit, bevor Regisseur Julius Theodor Semmelmann sich den Fragen von Dramaturg Markus Tatzig stellte, die uns Einblicke in den Entstehungsprozess von DER ROSENKAVALIER gaben. Es ist Semmelmanns erste Regiearbeit, und er schwärmte in den höchsten Tönen über die Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Bremerhaven. „Musste“ er sich als Bühnenbildner und Ausstatter bisher den Wünschen und Vorstellungen anderer Regisseure fügen, durfte er hier „in die Vollen gehen“ und ein Rokoko-Ambiente par excellence kreieren, wie er uns auch anhand von Bühnenbildentwürfen und Arbeitsproben vermittelte.

Die Frage aus dem Auditorium, ob sich ein solch großer Aufwand für nur 5 Vorstellungen überhaupt lohne, konterte er charmant mit „Es ist doch alles da!“. Oftmals können die Kolleg*innen in den Werkstätten ihr Können und ihre Kunst nicht gänzlich zeigen, da der verantwortliche Regisseur dies für seinen Inszenierungsstil nicht einfordert. Semmelmann berichtete von der Kollegin aus dem Malersaal, der vor Freude die Tränen kamen, da sie nun endlich einmal zeigen durfte, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte. Auch bei den üppigen Kostümen griff man auf Stücke aus dem Fundus zurück und änderte diese entsprechend um, bzw. bei der Neu-Anfertigung wurden passende Stoffe verwendet, die schon vorhanden waren. Stichwort: Nachhaltigkeit!

Auch bzgl. einer Kuriosität in DER ROSENKAVALIER, die der Entstehungszeit der Oper geschuldet aber heute nicht tolerierbar ist, konnte Semmelmann uns beruhigen: Es wird kein Mohr auftreten. Stattdessen flattert ein kleiner Putto namens Cupiderl durch die Szenerie.

Eingedeckt mit diesen und vielen weiteren Informationen schlichen wir leise in die Sitzreihen des Rangs, um der laufenden Probe von DER ROSENKAVALIER zu lauschen…

Feldmarschallin Fürstin Werdenberg vergnügt sich in ihrem Schlafzimmer mit ihrem jungen Geliebten Octavian. Ihr Techtelmechtel wird durch das überraschende wie taktlose Eintreffen ihres Vetters, den Baron Ochs auf Lerchenau jäh unterbrochen. Octavian gelingt es im letzten Moment in die Kleider einer Kammerzofe zu schlüpfen. Dadurch entgeht er zwar den verdächtigen Blicken des Barons, muss stattdessen aber seine plumpen Annäherungsversuche über sich ergehen lassen. Um seine ständigen Geldnot zu lindern, gedenkt Baron Och die Tochter des wohlhabenden und frischgeadelten Herrn von Faninal zu ehelichen. Die Feldmarschallin schlägt vor, dass Octavian (von dessen Anwesenheit der Baron nichts ahnt) als Bräutigamsführer – den sogenannten Rosenkavalier – auftreten soll. Als Baron Ochs das Bild des Erwählten betrachtet, ist er von der Ähnlichkeit mit der Kammerzofe überrascht und vermutet, dass sie eine uneheliche Schwester des Grafen sei. Auch an diesem Tag strömen Massen an Bittsteller in die Gemächer der Feldmarschallin in der Hoffnung auf Zuwendung. Nach einer anstrengenden Audienz bleibt sie allein in ihren Gemächern zurück. Müde und erschöpft fühlt sie sich alt. Ihre Jugend scheint sie zunehmend zu verlassen, und so fürchtet sie, dass sie ihrem jungen Liebhaber bald nicht mehr genügen wird. Im Haus des Herrn von Faninal erwartet seine Tochter Sophie die Ankunft des Rosenkavaliers. Octavian erscheint in dieser Funktion, überreicht ihr die silberne Rose und verliebt sich augenblicklich in sie. Auch Sophie ist von dem charmanten Jüngling angetan. Kurz darauf stößt Baron Ochs dazu, der Manieren vermissen lässt und sich gegenüber Sophie ungehobelt verhält. Sophie fühlt sich von ihrem zukünftigen Ehemann regelrecht abgestoßen. Als sich Octavian und Sophie heimlich küssen, werden sie von Valzacchi und Annina, zwei italienischen Intriganten, verraten: Der Baron schenkt dieser Angelegenheit keine große Aufmerksamkeit, schließlich nimmt er es selbst mit der Treue nicht so genau. Doch Octavian fordert ihn auf, von Sophie abzulassen. Im Handgemenge verletzt er den Baron mit seinem Degen. Sophies Vater greift ein und droht, sie auf ewig ins Kloster zu schicken, sollte sie sich der Heirat verweigern. Hier kann nur eine List helfen: Kurz darauf überreicht Annina dem Baron einen Brief, durch den ihn die „Kammerzofe“ der Feldmarschallin zu einem geheimen Treffen in einem Wirtshaus einlädt. Der Baron hofft auf ein amouröses Techtelmechtel und nimmt die Einladung nur allzu gerne an. Allerdings haben Octavian, Valzacchi und Annina ihm eine Falle gestellt: Während der Baron gegenüber der „Kammerzofe“ wieder aufdringlich wird, erscheint die verkleidete Annina mit diversen Kindern im Schlepptau und behauptet, der Baron wäre der Vater und hätte sie und die Kinder schändlich im Stich gelassen. Der Baron gerät so sehr in Rage, dass sogar die Polizei einschreiten muss. In diesem Tumult tauchen – wie verabredet – Sophie und ihr Vater auf. Herrn von Faninal ist entsetzt über das Verhalten von Baron Ochs und verweigert ihm die Ehe mit seiner Tochter. Doch erst die eintreffende Feldmarschallin kann endgültig für Ruhe sorgen: Sie beschwichtigt die Polizei und sorgt dafür, dass der lüsterne Baron verschwindet. Ihr selbst bleibt nichts anderes übrig, als Octavian für die Hochzeit mit seiner geliebten Sophie freizugeben.

12 Tage später: Ich hatte mir sagen lassen, dass die Premiere glanzvoll über die Bühne gegangen war. Die Kritiker*innen waren danach nur voll des Lobes. Nun saß ich (an-)gespannt im Zuschauersaal des Stadttheaters Bremerhaven und wartete auf den Beginn der 2. Aufführung. Gespannt: Ich war voller Vorfreude, auf das, was ich in wenigen Minuten zu sehen und zu hören bekomme sollte. Angespannt: Mehrfach hatte ich vorab versucht, mich dem Werk rein akustisch anzunähern und bisher keinen befriedigenden Zugang bekommen. Da halfen mir bedauerlicherweise auch keine liebgemeinten Insider-Tipps. Und so tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass ich vielleicht erst die theatralische Umsetzung benötigte, um so Verknüpfungen zwischen der Handlung, den Personen und der Musik herstellen zu können.

Von der Musik würde es überreichlich geben, wie mir ein staunender Blick in den Orchestergraben offenbarte. Dicht an dicht saßen die Musiker*innen neben- und hintereinander und wirkten, als hätte jemand mit ihnen Tetris gespielt, um jede noch so kleine Lücke auszufüllen. Der Dirigent erschien und hob seinen Taktstock. Schwelgerisch tobten Strauss’ Kompositionen aus dem Orchestergraben über den Bühnenrand zum Publikum hinauf in den Rang. Der rote Samtvorhang öffnete sich langsam und offenbarte eine Inszenierung mit Humor, Witz und Ironie, einen wahrgewordenen Opern-Traum, eine bunt-schillernde Seifenblase, einen überschäumenden Theater-Zauber voller Raffinesse, Stil und Klasse…


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Der rote Samtvorhang öffnete sich, und eine fiebrige Faszination nahm von mir Besitz und sollte auch den ganzen Abend über nicht weichen. Ja, ich war fasziniert – allerdings weniger von der Musik. Ich habe durchaus schon Abende im Musiktheater erlebet, da tröstete mich die Musik über so manchen inszenatorischen Firlefanz des modernen Regietheaters hinweg. Hier war es genau umgekehrt.

Sorry, Richy, doch ich fürchte, wir werden musikalisch nicht die besten Freunde werden.“

Julius Theodor Semmelmann kann sein ursprüngliches Metier nicht verleugnen (und sicher will er es auch nicht). Genauso akribisch und bis ins kleinste Detail ausgefeilt wie er seine Bühnenbilder gestaltete, ging er auch bei seiner ersten Regie-Arbeit vor: Nichts schien dem Zufall überlassen, jede Geste und jeder Blick wirkte begründet, jede Handlung war wohldurchdacht. Da meinte ich sogar ein paar neckische „Easter Eggs“ mit Bezug zum Haus bzw. zur Stadt, die vielleicht nur Kennern auffallen könnten (wenn überhaupt), zu entdecken: Flatterte zwischen all den exotischen Vögeln in die Voliere der Feldmarschallin nicht auch eine Möwe herum? Und steckte unter der rosa gepuderten Perücke vom Frisör nicht Chefmaskenbildner Henrik Pecher höchstpersönlich, um der Feldmarschallin die Haare hingebungsvoll zu ondulieren?

Dabei wirkte es auf mich, als hätte Semmelmann sich bei seinem Konzept von den Motiven „Aufbruch“ und „Vergänglichkeit“ leiten lassen. Da haben wir auf der einen Seite die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg, die – zwar noch jung an Jahren – ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst ist und deren Halten an bestehenden gesellschaftlichen Normen nicht nur Bürde sondern auch Schutz darstellt. Auch Herr von Faninal klammert sich an diese gesellschaftlichen Normen, da sie Ansehen, Ruhm und ein sicheres Leben für sich und seine Familie bedeuten. Baron Ochs auf Lerchenau ist es egal, von welcher Gesellschaft er schmarotzt, da er sich überall und nirgends zurechtfinden würde. Auf der anderen Seite stehen die jungen Leute Sophie und Octavian, die bereit sind, in eine neue, noch unsichere Welt aufzubrechen. Sophie ist da deutlich wagemutiger als Octavian: Allzu gerne hätte sie den Geliebten an ihrer Seite, doch sie wäre nicht bereit, ihre Prinzipien abermals einem Mann unterzuordnen. Octavian steht zwischen der alten und der neuen Welt und fühlt sich hin und her gerissen zwischen seiner Zuneigung (oder ist es doch eher Loyalität?) zur Fürstin und seiner frischen, reinen Liebe zu Sophie. Er muss sich entscheiden…!

Auch an den Kostümen von Carola Volles ist die Haltung bzw. Entwicklung der Figuren wahrnehmbar: Da überraschen zwischen all der farbigen Üppigkeit des Rokokos moderne Kostümteile und Accessoires und lassen so Rückschlüsse auf die Haltung der Figuren zu – seien es die sportiven Trekkingschuhe an den Füßen von Ochs oder die feschen Hipster-Sonnenbrillen bei Valzacchi und Annina. Besonders auffällig wird es beim Schlussbild, in dem die Feldmarschallin und Herr von Faninal im vollen Ornat auftreten, Octavian einen Mix aus Kleidungsstücken der unterschiedlichen Welten trägt und Sophie das Rokoko-Gewand abgestreift hat und sich als moderne und selbstbewusste junge Frau präsentiert. Ansonsten gelang Volles das bewundernswerte Kunststück, dass sie für jede aber wirklich absolut jede Figur das passende Kostüm kreierte, das den jeweiligen Charakter gar trefflich und höchst individuell porträtierte.

Selbst die Bühnenbilder werden Opfer des Motivs „Vergänglichkeit“: Wie ein Kaleidoskop sich dreht und immer wieder neue Bilder zusammensetzt, so dreht sich auch die Bühne. Das Boudoir der Feldmarschallin aus dem 1. Akt wird in seine Einzelteile zerlegt und für die Wirtschaft im 3. Akt wieder „anders“ zusammengefügt. Die üppige Pracht im 2. Akt besteht „nur“ aus bemalten Leinwänden, zwischen denen sich – einer Spieluhr gleich – die Möbelstücke in Position drehen und somit zeigen „Es ist alles nur Fassade!“. Dabei kann das Publikum stets an jedem Bühnenbild vorbei in den hinteren Bühnenraum schauen, so als wollte Semmelmann betonen, dass in dieser Gesellschaft mehr „Schein“ als „Sein“ vorherrscht.

Die Bühne war mit Solisten, Opernchor, Kinderchor und Extrachor nebst Statisterie reichlich bevölkert, und so befürchte ich beinah, dass ich bei meiner nun folgenden Lobhudelei mit Sicherheit jemanden vergessen werde: Ich bitte vielmals um Entschuldigung!

Die Chöre waren nicht nur zahlenmäßig groß, auch stimmlich und darstellerisch waren sie mächtig und gestalteten ihre jeweiligen Partien mit Agilität und Spielfreude. Katharina Diegritz war eine entzückend flatterhafte „Jungfer Marianne Leitermeisterin“ und nahm zudem die reizenden Kinder des Kinderchores sanft unter ihre Fittiche. Miloš Bulajić stattete den „Sänger“ mit den wichtigsten Attributen seiner Zunft aus: große Geste und tenoralem Schmelz. Andrew Irwin und Eva Maria Summerer füllten die Buffo-Partien „Valzacchi“ und „Annina“ mit Charme und Esprit aus. Marcin Hutek amüsierte als „Herr von Faninal“ mit Ahnungslosigkeit und wirrer Überforderung. In der stummen Rolle „Cupiderl“ tobte Laura Gabrielli voller überschäumender Clownerie über die Bühne und war Amor, Hermes und Luzifer in Personalunion. Philipp Mayer gab den „Baron Ochs auf Lerchenau“ mit lakonischem Witz und einer gehörigen Portion Bauernschläue. Bis ins tiefste Register ließ er seinen voluminösen Bass ertönen, ohne an Flexibilität einzubüßen.

Doch an diesem Abend standen abermals die drei Künstlerinnen auf der Bühne, die schon im vergangenen Jahr gemeinsam in BREAKING THE WAVES für Furore sorgten:

Victoria Kunzes schlanker, wendiger Sopran erklang silbrig-fein bis in die höchsten Töne. Ihre Sophie erduldet nicht sittsam, was über ihren Kopf hinweg entschieden wird. Vielmehr zeigt sie eine deutliche Haltung mit klaren Moralvorstellungen. Doch durch die Hülle der Jugend lässt Kunze auch eine gefestigte Ernsthaftigkeit schimmern, die der Figur die nötige Tiefe verleiht.

Signe Heibergs Stimme scheint über ein schier unendliches Volumen zu verfügen, das sie aber nur äußert geschmackvoll und mit einem feinen Gespür für Nuancen einsetzt. Ihre Feldmarschallin ist ganz Menschenfreundin, die voller Güte und Fürsorge auf die Ihren achtet. Doch sie ist nicht nur Herrscherin, sie ist auch Frau und weiß um ihre Vergänglichkeit. So zieht ein feiner Hauch von Melancholie und Traurigkeit durch Heibergs Rollenporträt.

Titelgebend und somit in der Partie, die die Fäden in der Hand behält, brilliert Boshana Milkov mit ihrem warmen, üppigen Mezzo mit samtenen Timbre. Bei ihr ist Octavian einerseits der Jungspund, der zum ersten Mal die Liebe überschwänglich kostet und beinah darin zu ertrinken droht. Gleichzeitig lässt Milkov die innere Zerrissenheit der Figur erahnen, die zwischen der Zuneigung zweier Frauen schwankt. Jede liebt er auf seine sehr individuelle Weise, und jede verdient seinen Respekt. Hier zeigt Milkovs Octavian eine charakterliche Reife, die allen anderen Männern in diesem Stück fehlt.

Und abermals ergänzten sich Victoria Kunze, Signe Heiberg und Boshana Milkov gar wunderbar in ihrem Zusammenspiel und vereinten ihre Stimmen ganz exquisite in einer berührenden Harmonie.

„Okay, Richy, das muss ich dir lassen: Die Final-Szene hast Du echt klasse hingekriegt!“

Da saß ich nun im Theater, lauschte dem Gesang dieser drei großartigen Künstlerinnen, ein Schauer strich über meine Haut, und eine erste Träne rann mir über die Wange. So schön…!

❤️


Wer nun die unbändige Lust verspürt, mehr von DER ROSENKAVALIER zu erfahren, der/die…

…lauscht den Worten von Regisseur  Julius Theodor Semmelmann,…

…kann den talentierten Bühnenmaler*innen dank dem Bericht Detailverliebt – die wundervolle Bühnenmalerei für „Der Rosenkavalier“ von Björn Gerken auf LOGBUCH BREMERHAVEN bei der Arbeit über die Schultern schauen,…

…oder lässt sich bei #angeklopft von Boshana Milkov und Marcin Hutek Interessantes zu ihren Partien berichten.


Hurtig, hurtig! DER ROSENKAVALIER lässt sich im Stadttheater Bremerhaven nur für einige wenige Vorstellungen im Mai in amouröse Abenteuer verstricken.

[Musical] Jerry Bock – THE APPLE TREE (DSE) / Stadttheater Bremerhaven

Musik von Jerry Bock / Liedtexte von Sheldon Harnick / Buch von Jerry Bock, Sheldon Harnick und Jerome Coopersmith / Nach Geschichten von Mark Twain, Frank R. Stockton und Jules Feiffer / deutsche Textfassung von Hartmut H. Forche / Deutschsprachige Erstaufführung

Premiere: 16. März 2024 / besuchte Vorstellung: 28. März & 9. Mai 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni / Tonio Shiga (28.03.)
INSZENIERUNG Rennik-Jan Neggers
BÜHNE & KOSTÜME Alexander McCargar
CHOREOGRAFIE Nele Neugebauer
DRAMATURGIE Torben Selk
CHÖRE Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Wenn es etwas gibt, was ich an „meinem“ Stadttheater Bremerhaven sehr schätze (neben vielen anderen Dingen), dann ist es der Umstand, dass das dortige Team immer wieder sehr rührig ist, um wenig gespielte Stücke von Autor*innen oder Werke von kaum beachteten Komponist*innen wieder für das Publikum ins Rampenlicht zu rücken. So hat das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann zwei wundervolle Symphonien der „vergessenen“ Komponistin Emilie Mayer auf CD eingespielt, die sogar für die renommierten Musikpreise INTERNATIONAL CLASSICAL MUSIC AWARD und OPUS KLASSIK nominiert war. Ebenso stand im vergangenen Jahr mit der Oper BREAKING THE WAVES eine deutsche Erstaufführung auf dem Spielplan, mit der mir ein absolut aufregender und zutiefst bewegender Opern-Momente geschenkt wurde.

Auch in diesem Jahr gibt es auf dem Spielplan eine von diesen in Vergessenheit geratenen Werken zu entdecken: Mit dem Musical THE APPLE TREE präsentiert das Stadttheater sogar eine deutschsprachige Erstaufführung. Die Namen des Komponisten-Texter-Duos ließen mich aufhorchen: Jerry Bock und Sheldon Harnick schufen zwei Jahre vor der Premiere von THE APPLE TREE mit dem warmherzigen FIDDLER ON THE ROOF (bei uns besser bekannt als: ANATEVKA) eines der populärsten und meistgespielten Musicals auf deutschen Bühnen. Eingedeckt mit diesem Hintergrundwissen machte ich mich voller Neugierde und mit hohen Erwartungen auf den Weg Richtung Bremerhaven.

THE APPLE TREE setzt sich aus drei Teilen zusammen: „Das Tagebuch von Adam und Eva“ ist eine ungewöhnliche Variante der Geschichte vom ersten Menschenpaar, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Mark Twain. „Die Lady oder der Tiger?“ ist eine Rock-n-Roll-Geschichte über die Unbeständigkeit der Liebe, angesiedelt in einem mythischen, barbarischen Königreich. „Passionella“ geht auf die Aschenputtel-Variation von Jules Feiffer zurück und handelt von einer Schornsteinfegerin, deren Träume vom Ruhm als Filmstar beinahe ihre Chance auf die wahre Liebe vereiteln.

(Inhaltsangabe der Homepage des Theaterverlages entnommen.)

Leider wirkte das Stück – wahrscheinlich aufgrund dieser Drei-Teilung – sehr wenig homogen auf mich, zumal der Komponist zu den „Variationen über die Versuchung“ (so der Untertitel des Musicals) ebenfalls Variationen im Musik-Stil schuf, die ein verbindendes Leitmotiv vermissen ließen. Da genügte es mir nicht, dass im zweiten wie auch im dritten Teil die Melodie „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“, die die Schlange beim Sündenfall im ersten Teil zum Besten gibt, abermals erklang. Auch zeigte das Stück sowohl im dritten aber vor allem im ersten Teil deutliche Längen, die die Konzentration des Publikums durchaus herausfordern könnte. Leider wurden diese Längen vom Bremerhavener Produktions-Team nicht ausgemerzt, bzw. wahrscheinlich durfte das Team sie nicht ausmerzen, da es Vorgaben vom Verlag gab, die eingehalten werden mussten. Dabei hätten sensible Kürzungen dem Fluss der jeweiligen Geschichte sicherlich äußerst gutgetan.

Ist THE APPLE TREE ein Werk, das im Musical-Kanon eine große Rolle spielt und man somit unbedingt kennen sollte? Nein! Ich wage sogar die dreiste Vermutung zu äußern, dass, würde es nicht vom Glanz ANTAVEKAs profitierten, es schon längst in der Versenkung verschwunden wäre.

Sollte man allerdings die Inszenierung in Bremerhaven gesehen haben? Ja! Was auf dem ersten Blick wie ein Widerspruch anmutet, ist allein einer differenzierten Sichtweise geschuldet. Auch wenn mir einige Aspekte an einem Theaterbesuch weniger zusagen, kann ich doch trotzdem die guten Anteile würdigen, oder?

Regisseur Rennik-Jan Neggers setzt auf nuancierte Rollenporträts, wagt sich auch an die stillen Momente, amüsiert mit kleinen Details „am Rande“ und poliert an der Oberfläche der Dialoge, bis eine feine Ironie zum Vorschein kommt. Zum Glück steht ihm im Stadttheater Bremerhaven eine talentierte Solistenriege wie ein variabler Opernchor zur Verfügung, die alle schon in so manchen Produktionen ihre Vielseitigkeit gezeigt haben. Zumal dieses Musical den Gesangssolisten reichlich Möglichkeiten bietet, sich in den Solos und Duetten von ihrer besten Seite zu zeigen.


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Schon beim ersten Zusammentreffen des pragmatischen Adams von Andrew Irwin mit der quirligen Eva von Victoria Kunze ahnt das Publikum, dass hier viel Potential für sowohl witzige wie auch rührende „Szenen einer Ehe“ zu finden ist. So wird amüsant unterstellen, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau schon in der Schöpfungsgeschichte begründet liegen. Männer und Frauen passen eben nicht zusammen (Eine Tatsache, die mir als schwuler Mann schon seit langem bewusst war!). Und so zeigen Kunze und Irwin eine Vielzahl an Facetten einer zwar durch göttliche Fügung entstandenen aber ansonsten sehr weltlichen Beziehung. Dabei präsentieren sich bei den Songs so manche kleine Perlen, die durch die Interpretation der Künstler*innen einen zarten Lüster erhalten: So entzückte zum Beispiel Victoria Kunze bei „Here in Eden / Hier in Eden“ in ihrem Erstaunen über den ersten Tag auf Erden. Adams Klagelied über „Eve / Eva“ wurde von Andrew Irving so fein akzentuiert gestaltet, dass es die reine Freude war, ihm zu lauschen. Als verführende wie verführerische Schlange trat Marcin Hutek in Erscheinung, um „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“ erfolgreich an die Frau zu bringen. Besonders dem intensiven Zusammenspiel von Kunze und Irwin ist es zu verdanken, dass die Längen beim Einakter Das Tagebuch von Adam und Eva keinen Einfluss auf die Konzentration des Publikums nahmen.

Mit Die Dame oder der Tiger? präsentiert sich der kürzeste Part dieser Trilogie. Diese Kürze scheint der Geschichte durchaus gut zu bekommen, da alles viel komprimierter, viel kompakter wirkt. Die Handlung kommt schneller auf den Punkt und ermöglicht so den Solisten, genüsslich voller Witz und Ironie zu agieren. Hatte ich bei HÄNSEL UND GRETEL noch die mangelnde Textverständlichkeit bei Marcin Huteks Vortrag bedauert, muss er seitdem fleißig an seiner Diktion gearbeitet haben. Brilliert er doch nun gut verständlich als kerniger Hauptmann Sanjar und liefert gemeinsam mit Boshana Milkow als Prinzessin Barbra bei „Forbidden Love / Wenn man verboten liebt“ ein humoristisches Kabinettstückchen ab. Milkow lässt zudem mit lüstern vibrierenden Mezzo beim Song „I’ve Got What You Want / Ich hab’, was du willst“ keinen Zweifel aufkommen, dass es nur eine Frau gibt, die die Krallen ins männliche Objekt der allgemeinen weiblichen Begierde schlagen darf. Diesmal taucht die Schlange/die Verführung in Person des Balladensängers auf, den Patrick Ruyters mit hellem Bariton in „I’ll Tell You a Truth / Das Lied, das ich sing“ die Strippen ziehen lässt. War er beim ersten Teil „nur“ die Stimme Gottes, tänzelt Ulrich Burdack nun als Papa Schlumpf-Lookalike huldvoll winkend über die Bühne oder echauffiert sich entrüstet über die Amouren seiner Tochter Barbra.

Wesentlich mehr hat Burdack im dritten Part Passionella. Eine Romanze aus den Sechzigern zu tun. Es scheint keine Szene zu geben, in der er nicht präsent ist – entweder fungiert er als sympathischer Erzähler, oder er schlüpft pointiert in die diversen Rollen und zaubert dazu aus seiner schier unerschöpflichen magischen Tasche so manche Kostümteile und Requisiten hervor. Im Mittelpunkt der Handlung steht Victoria Kunze als Titelheldin Ella/Passionella, eine einfache Kaminkehrerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein großer Star zu sein. Hier erscheint die Schlange/die Verführung in Form der lieben guten Fee, die Katharina Diegritz scheinbar harmlos verkörpert, aber voller Niedertracht für Verwirrung im Leben von Ella sorgt. Kunze darf u.a. in „Gorgeous / Wahnsinn“ ihre Star-Qualitäten unter Beweis stellen. Ihr zur Seite überzeugt abermals Andrew Irwin, der mit lässigem Hüftschwung als smarter Rock ’n’ Roller Flipp gegenüber Passionella behauptet „You Are Not Real / Du bist nicht real“.

Ausstatter Alexander McCargar designte eine schräge Rampe, die dank einiger strategisch einsetzbarer Bühnenteile und prägnanter „Extras“ sich in die jeweiligen Handlungsorte verwandelte. Mit den Kostümen unterstreicht er den jeweiligen Charakter der Figur: Adam und Eva sind im schlichten Weiß gekleidet, wobei der Alterungsprozess durch graue Kleidungsstücke angedeutet wird. Die an Sandalen-Filme erinnernde Handlung des zweiten Teils wird mit der Farbwahl der Kostüme relativiert bzw. karikiert: Beim Anblick der blau-weißen Kostüme musste ich unwillkürlich an „Die Schlümpfe“ denken. Im dritten Teil trägt der Chor biedere Kleidung in allen Facetten von Beige, während Passionella und Flipp ausgefallene Roben tragen, die die Charaktere der Figuren eher ein wenig überhöhen.

Tonio Shiga und das Philharmonische Orchester Bremerhaven lassen die Melodien von Jerry Bock mit einem Gespür für feine Nuancen aus dem Graben erklingen und verleihen so den bereits erwähnten Song-Perlen einen zusätzlichen Glanz.


Nachtrag zum 9. Mai 2024: Da hatte ich nach meinem ersten Besuch des Musicals THE APPLE TREE, das das Stadttheater Bremerhaven als deutschsprachige Erstaufführung zeigte, doch tatsächlich ein wenig geunkt. So bemängelte ich u.a., dass mir bei der Musik ein verbindendes Leitmotiv fehlte. Zudem empfand ich die Lieder beim ersten Anhören als wenig eingängig. Doch nun saß ich heute in der Dernière und freute mich schon sehr auf einige Songs, die sich im Laufe der Zeit langsam aber stetig in mein Herz geschlichen hatten. Erst beim wiederholten Hören entblätterten sie wie eine Blüte ihre schlichte Schönheit. Daran waren natürlich die tollen Künstler*innen am Stadttheater Bremerhaven nicht ganz unschuldig.

Zumal ich beim THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT am 3. April die wunderbare Gelegenheit hatte, mit Tenor Andrew Irwin, Kapellmeister Tonio Shiga, Dramaturg Torben Selk und dem Leiter des Musiktheaters Markus Tatzig ins Gespräch zu kommen. THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT ist eine Kooperation des Stadttheaters mit der Stadtbibliothek Bremerhaven: An jedem ersten Mittwoch im Monat haben Interessierte die Gelegenheit, ihre Mittagspause in der Stadtbibliothek zu verbringen. Während herzhaft ins Pausenbrot gebissen wird, hört und sieht man auf der dortigen Standkorbbühne Ausschnitte aus dem aktuellen Programm und erhält nebenbei noch einige Hintergrundinformationen.

So bestens präpariert eröffneten sich mir bei meiner heutigen Stippvisite im „Garten Eden“ ganz neue Perspektiven. 🍎


Doch lassen wir bei #angeklopft Victoria Kunze und Andrew Irwin gerne selbst zu Wort kommen.


Ihr möchtet Euch auch der Versuchung hingebe? Dann müsst Ihr Euch beeilen: Es gibt leider nur noch wenige Termine für THE APPLE TREE am Stadttheater Bremerhaven.

[Oper] Antonín Dvořák – RUSALKA / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Antonín Dvořák / Libretto von Jaroslav Kvapil / in tschechischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 25. Dezember 2023 / besuchte Vorstellung: 7. Januar 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann
INSZENIERUNG Johannes Pölzgutter
BÜHNE & KOSTÜME Michael Lindner
DRAMATURGIE Markus Tatzig
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Katharina Konopka

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
INSPIZIENZ Mahina Gallinger


Wenn das nicht der Trend für den Städte-Tourismus 2024 wird: Nicht nur Kopenhagen hat eine Meerjungfrau, auch andere Hafenstädte können mit einer eigenen Version aufwarten. Nun schickt auch Bremerhaven eine Meerjungfrau ins Rennen um die Gunst des Publikums. Allerdings sitzt diese nicht auf einem Stein im Hafenbecken und schaut verträumt in die Ferne. Vielmehr robbt sie höchst athletisch über die Bühne des Stadttheaters und hört auf den Namen RUSALKA.

An einem nächtlichen Waldsee necken drei Waldelfen den alten Wassermann. Doch der hat ganz andere Sorgen: Seine Tochter Rusalka träumt von einer Seele, die sie fühlen, vor allem aber lieben lässt, und die den Wasserwesen nicht gegeben ist. Rusalka hat sich in einen Prinzen verliebt, den sie bei einer nächtlichen Jagd gesehen hatte. Ihr Vater ist entsetzt und warnt sie vor der Menschenwelt, bevor er wieder zum Grund des Sees abtaucht. Doch Rusalkas Sehnsucht nach Liebe ist so groß, dass sie die heimtückische Hexe Ježibaba um Hilfe bittet. Diese macht aus ihrem Fischschwanz zwei Beine, nimmt ihr aber die Sprache. Auf der Jagd ist der Prinz vom Weg abgekommen und findet sich schließlich am Ufer des Sees wieder. Hier trifft er auf die stumme, hilflose Rusalka. Er nimmt sie, bereits in sie verliebt, mit auf sein Schloss. Dort löst die stumme Unbekannte mit ihrem eigentümlichen Benehmen bei der Schloss-Gesellschaft Befremden aus. Als Wasserwesen ist sie für die Liebe nicht geschaffen und kann den Avancen des Prinzen nicht nachgeben. Dieser tröstet sich mit einer fremden Fürstin, die den Prinzen nur aus Eitelkeit, nicht aus Liebe verführt. Diese Untreue bricht Rusalka das Herz, und sie wünscht sich zurück in die Wasserwelt. Ihr Vater erscheint und erlaubt ihr, ihm in die Wasserwelt zu folgen. Doch aufgrund ihrer Verzauberung kann sie kein Wasserwesen mehr sein, vielmehr ist sie gezwungen, als ein todbringendes Irrlicht umherzuwandern. Dem Prinzen quält die Reue über seinen Verrat, und obwohl er nun weiß, dass Rusalka kein menschliches Wesen ist, liebt er sie weiterhin. Der Jäger und der Küchenjunge wagen sich zur Hexe Ježibaba mit der Bitte, ihren scheinbar von Rusalka verhexten Prinzen von diesem Fluch zu befreien. Die Hexe verspottet sie und jagt sie davon. Dann erscheint der Prinz persönlich am See und bittet Rusalka reumütig um einen Kuss als Vergebung. Rusalka, die ihn immer noch liebt, warnt ihn, dass ihr Kuss ihn töten würde. Doch der Prinz verzehrt sich so sehr nach ihr, dass er sie abermals um diesen Kuss bittet. Rusalka erfüllt die Bitte und küsst den Prinzen, der darauf stirbt. Sie entschwindet daraufhin auf ewig in den dunklen Wald.

Märchenseligkeit á la Disney?! Nein, damit erfreut Regisseur Johannes Pölzgutter das Publikum nicht. Er lässt durchaus das Märchenhafte der Geschichte in seiner Interpretation durchschimmern, kredenzt aber auch sehr vieles, was kantig, sperrig, beinah urwüchsig anmutet. Seine Inszenirung besticht durch eine präzise Personenführung und der Fokussierung auch auf die Nebenrollen, die dadurch deutlich an Profil gewinnen. Klar voneinander abgegrenzt zeigt er die Menschen- gegenüber der Mythenwelt. Rusalka wünscht sich eine Seele: In der Interpretation von Pölzgutter werden die Menschen oberflächlich und gefühlskalt dargestellt, denen Prestige und eine öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung über alles geht. Im Vergleich dazu konzentrieren sich die Wasserwesen auf das Wesentliche, auf die inneren Werte. Da zeigen die angeblich kalten „Fische“ viel mehr Seele als die ach so gefühlvollen Menschen.

Stichwort „Fische“: Ausstatter Michael Lindner schuf ein stimmiges Ambiente, bei dem die Welt der Wasserwesen permanent präsent war, sei es bei den schuppenartigen Kleidern von Rusalka und der Hexe, dem Neoprenanzug des Jägers, der Wandgestaltung im Schloss oder mit einem überdimensionalem Glaskasten, der an ein Aquarium erinnerte.


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In der Titelrolle überzeugte abermals Sopranistin Signe Heiberg auf ganzer Linie. Es gelang ihr mit Haltung, Gestik und Mimik, aber vor allem mit ihrem seelenvollen Blick ihrer Rusalka mit einer Aura der andauernden Melancholie zu umgeben. Mit nuanciert-geführter Stimme brillierte sie beim „Měsíčku na nebi hlubokém / Lied an den Mond“, mit expressiven Sopran gestaltete sie bei „Necitelná vodní moci / Unendlich Herzeleid“ die Empfindungen Rusalkas von Resignation bis Schmerz. Zudem zeigte sie in dieser Partie erneut, welch exzellente Schauspielerin sie ist.

Rein Optisch entsprach Konstantinos Klironomos dem Idealbild eines Prinzen aus dem Märchen. Dabei ist dieser Prinz ein oberflächlicher Fatzke, ein egoistisches und verwöhntes Bürschchen, gewohnt, das Bedienstete hinter ihm herräumen und Bewunderer ihn schmeichelnd umgarnen. Es verwundert kaum, dass die gefühlvolle Rusalka mit diesem „schönen Schein“ wenig anzufangen weiß. Auch hier sorgt Pölzgutter mit einer kleinen Änderung, dass die Figur ein differenzierteres Profil erhält: In dieser Inszenierung lässt sich der Prinz nicht von Rusalka den todesbringenden Kuss geben, vielmehr greift er zum Messer und sticht sich selbst in die Brust. Meine Interpretation: Er möchte Rusalka nicht die Schuld aufbürden, für seinen Tod verantwortlich zu sein, und zeigt hier erstmals ein selbstloses Verhalten. Klironomos sang diese Partie anfangs mit protziger tenoraler Kraft, um im emotionalen Finale dann schöne lyrische Töne anzuschlagen.

Charakterlich würde die fremde Fürstin viel besser zum Prinzen passen, die Julia Mintzer mit üppigen Sopran und reichlich Sex-Appeal ausstattet. Dabei wirkte sie berechnend und emotionslos und war so viel mehr eine Antipathie-Trägerin als die böse Hexe Ježibaba.

Boshana Milkov punktete schon bei ihrer ersten Arie „Čury mury fuk / Abra, cabra, fort“ mit ihrem satten Mezzo-Sopran, zeigte in ihrer Rollengestaltung der Hexe alle Attitüden einer Bösewichtin und spielte diese genüsslich aus. Trotzdem blitzten immer wieder hinter der Fassade der Bosheit auch tragische Züge hervor, die diese Figur so ambivalent machten. Johannes Pölzgutter schuf ein unsichtbares Band zwischen Rusalka und Ježibaba, indem er die beiden Sängerinnen sich teilweise synchron zueinander bewegen ließ. Dann wieder schienen sich die Bewegungen der Beiden zu spiegeln, als würde die Jüngere das Schicksal der Älteren wiederholen.

Der Regisseur arbeitete mit Doppelsymbolik: So reproduzierte sich Rusalkas Verlust ihrer Flosse durch das Messer der Hexe mit der Häutung eines erlegten Tieres durch den Jäger. Charisma und Maskulinität (Attribute, die gemeinhin bei der Rolle eines Prinzen vermutet wird) zeigte Marcin Hutek mit warmen Bariton als Jäger, der zwar unter den Allüren seines Herren litt, trotzdem loyal hinter ihm stand und so seine edle Haltung zeigte. Ansonsten kann ich hier nur nochmals meinen Wunsch anbringen, den ich schon bei TOSCA geäußert hatte: Wann darf ich Marcin Hutek endlich in einer großen Partie erleben? Victoria Kunze sorgte als drolliger Küchenjunge für die wenigen humorigen Momente des Stücks,  amüsierte mit quirligem Spiel und überzeugte mit ihrem blendenden Sopran. Als Waldelfe war sie zudem – gemeinsam mit Minji Kim und Maria Rosenbusch – ganz und gar entzückend.

Ulrich Burdack verbrachte in der Rolle des Wassermanns ca. 90% seiner Spielzeit – körperlich sicherlich sehr herausfordernd – robbend und rollend auf dem Bühnenboden. Mit deformiertem Schädel und einem Körper, der übersäht war mit Warzen und Haaren, glich er eher einer Kröte als einem stattlichen Meermann. Bei dieser anspruchsvollen Bass-Partie gibt es ungewöhnlich hohe Passagen, mit denen sich Burdack außerhalb seiner gesanglichen Komfortzone wagte. „Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ lautet ein Sprichwort. Würden wir alle immer auf Nummer sicher gehen, gäbe es keine Weiterentwicklung. Dies gilt für Sänger*innen ebenso wie für mich als Krankenpfleger. Mit lyrischem Bass beklagte er mitleidsvoll in „Celý svět nedá ti, nedá / Wehe dir, Rusalka, wehe“ das Schicksal seiner Tochter. Durch sein nuancenreiches und sensibles Spiel schaffte es Burdack, dass der noble Charakter des Wassermanns die weniger ansprechende Optik überstrahlte und diese vergessen machte.

Getragen wurden die Stimmen der Sänger*innen durch das bestens disponierte Philharmonische Orchester Bremerhaven unter der musikalischen Leitung von Marc Niemann. Niemann schuf mit den Musiker*innen eine enorme Klangfülle. Er lässt er das Orchester bei den dramatischen Szenen musikalisch auftrumpfen, um wenige Augenblicke später die filigranen Arien sensibel zu untermalen. Dabei besticht das Orchester durch seine instrumentale Feinheit.

Anmerkung: Die Oper wird auf Tschechisch vorgetragen. Als ich dies erfuhr, war auch ich nicht vor Vorurteilen gefeit. Erwartete ich doch ein eher ungewohntes, wenn nicht sogar irritierendes Hör-„Vergnügen“. Umso mehr überraschte mich die Melodik dieser Sprache, die zusammen mit Dvořáks Musik eine wunderbare Einheit bildete.


Leider steht RUSALKA nur noch für einige wenige Vorstellungen auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven.

[Oper] Engelbert Humperdinck – HÄNSEL UND GRETEL / Stadttheater Bremerhaven

Märchenoper von Engelbert Humperdinck / Libretto von Adelheid Wette

Premiere: 4. November 2023 / besuchte Vorstellungen: 11. und 23. November 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
INSZENIERUNG Marie-Christine Lüling
BÜHNE & KOSTÜME Judith Philipp
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Katharina Konopka

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Elisabeth Schneider


Als im vergangenen Jahr im digitalen Adventskalender des Stadttheaters Bremerhaven gleich zwei Versionen des „Abendsegens“ aus HÄNSEL UND GRETEL erklangen, wagte ich dreist, Intendant Lars Tietje via Instagram die Frage zu stellen, wann mit dieser Oper endlich am Stadttheater zu rechnen wäre. Seine Antwort fiel knapp aber äußerst vielversprechend aus:

„Bald!“

Kaum ein Jahr später verirrt sich dieses berühmte Geschwisterpaar auch schon im Bremerhavener Watt – Äh! – Wald…! 😄

HÄNSEL UND GRETEL ist – neben LA BOHÈME – die Oper, die ich am häufigsten auf der Bühne anschauen durfte. Kaum ein anderes musikalisches Werk trifft so sehr meinen romantischen Nerv. Schon beim Klang der Ouvertüre beginne ich dahin zu schmelzen, und spätestens beim „Abendsegen“ habe ich mich emotional völlig verflüssigt. „Schuld“ daran ist diese unwiderstehliche Mischung aus bekannten Volksweisen, träumerischen Melodien und großen orchestral-üppigen Kompositionen, die Engelbert Humperdinck hier so vortrefflich miteinander vereint hat. Leider scheint dieses Werk aber auch prädestiniert zu sein, die Phantasie von einigen (über-)ambitionierten Regisseur*innen herauszufordern: Da präsentierten sich Hänsel und Gretel in der Vergangenheit durchaus auch mal als Punks, die in der Drogenhöhle der Hexe keine Lebkuchen sondern Joints „naschten“. Oder die beiden Partien von Mutter und Knusperhexe wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert, um so im Sinne der Sozialpsychologie die Ambivalenz in der Beziehung zwischen der Mutter und den Kindern zu verdeutlichen… …bla bla bla! Wer es darauf anlegt, könnte in jeden Text und jedes Libretto je nach Intention so allerlei hineininterpretieren. Wobei ich der Meinung bin, dass es – insbesondere bei einem musikalischen Werk – Grenzen in der Interpretation gibt, die von der Musik vorgegeben werden.

Marie-Christine Lüling überzeugt bei ihrer Inszenierung mit einer charmanten und wohltuend unaufdringlichen Modernisierung, ohne den märchenhaften Charakter des Werkes zu vernachlässigen. Es beginnt schon mit der fein inszenierten Ouvertüre, die sich wortlos vor dem geschlossenen Vorhang abspielt. Hänsel und Gretel sind anfangs zwei hyperaktive Gören mit einer Tendenz zum ADHS, die sich rüpelhaft gegenüber der alten Nachbarin verhalten und ihre Eltern beinah in den Wahnsinn treiben. So war es mehr als verständlich, dass die beiden überforderten Erziehungsberechtigten (erfolglos) versuchen, ihren Nachwuchs ins Bett zu scheuchen, um sich endlich eine wohlverdiente Pause gönnen zu können. Im verwunschenen Wald gleiten die Geschwister im Schlaf hinüber in einen phantastischen Traum, der sie zu einer Hexe führt, die verdächtig viel Ähnlichkeit mit der Nachbarin aufweist. Lülings Konzept überrascht mit so manchen gut durchdachten, aufeinander aufbauenden Details, warf aber auch die eine oder andere Frage auf – insbesondere dann, wenn das Libretto etwas anderes aussagt als das, was auf der Bühne gezeigt wurde. Doch dieser Umstand störte absolut nicht das Gesamtbild, da die Inszenierung mit guten Ideen punktet und sehr viel fürs Auge zu bieten hat.

Ausstatterin Judith Philipp hat die Optik dieser Inszenierung deutlich aber dezent der Erlebniswelt und somit den Sehgewohnheiten der heutigen Kindergeneration angepasst. Bei ihr werden die Engel zu Waldgeistern und entspringen direkt aus dem Kinderzimmer von Hänsel und Gretel: Die Spielsachen und Plüschtiere entwickeln ein Eigenleben, und so wachen Rabe, Puschel, Dino, Nordchen und Friedel beschützend über den Schlaf der Geschwister. Bedauerlicherweise sind von den ursprünglich 14 Engeln nur noch 5 Waldgeister übrig geblieben, was für mich den Zauber in dieser Szene etwas minimierte. Der Wald wächst dschungelartig-üppig aus dem Schnürboden hinab zur Erde. Das Hexenhaus wirkt wie die Geschenkverpackung aus einer Confiserie. Hier knabbern Hänsel und Gretel nicht an Lebkuchen, vielmehr naschen sie an Donuts, Schaumzucker, Macarons und Lollis. Auch die verzauberten Kinder bestehen nicht aus Lebkuchen sondern sind zuckersüße Marshmallow-Männchen.

Ⓒ Foto Stadttheater Bremerhaven. HÄNSEL UND GRETEL

Das Taumännchen: Von der Kinderzeichnung über die Figurine zum Kostüm auf der Bühne.

Im Vorfeld fand ein Workshop mit Grundschul-Kindern statt, bei dem die Schüler*innen unter der Anleitung der Theaterpädagoginnen eigene Figuren zu Taumännchen, Sandmännchen und den Engeln/Waldgeistern entwickeln konnten. Die phantasievollen Kreationen sind dann in die Entwürfe von Judith Philipp eingeflossen. Eine großartige und nachahmenswerte Vorgehensweise, um in einer Inszenierung die Ideen von Kindern für Kinder sichtbar zu machen.


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Unter der musikalischen Leitung des 1. Kapellmeisters Davide Perniceni bot das Philharmonische Orchester Bremerhaven genau das, was ich eingangs bereits erwähnt und mir so sehr erhofft hatte: Schwelgerisch strömten die Melodien aus dem Orchestergraben. Dramatisch akzentuiert lässt Perniceni die Musiker das Geschehen auf der Bühne kommentieren, um im nächsten Augenblick die Gesangsstimmen der Sänger*innen fein nuanciert unterstützen zu lassen. Schön!

Das Stadttheater Bremerhaven gönnt sich den Luxus und besetzt die Partien von Sandmännchen und Taumännchen jeweils mit einer Sängerin. Aufgrund der Überschaubarkeit der Rollen (oder aus Kostengründen) werden diese auch gerne von nur einer einzigen Sopranistin verkörpert, was allerdings durchaus zur Folge haben kann, dass die Partien sehr ähnlich interpretier werden. Doch manchmal gibt es auch für Sänger*innen Termine, die unaufschiebbar sind: In der besuchten Vorstellung übernahm Marlene Mesa neben ihrer Rolle als Sandmännchen auch für die verhinderte Kollegin die Rolle des Taumännchen und verlieh beiden Partien ein eigenständiges Profil. Ihr Sandmännchen amüsierte mit einer sympathisch-drolligen Gemütlichkeit, während sie das Taumännchen vor positiver Energie überschäumen ließ. Die junge Künstlerin gestaltete ihre Solis mit sehr viel Wärme und erfreute mit einer individuellen Klangfarbe in ihrer Stimme.

Die gestressten Eltern werden von Eva Maria Summerer und Marcin Hutek verkörpert. Die Hektik, Überforderung und Anspannung der Mutter spiegeln sich passenderweise in der Stimme von Eva Maria Summerer wider: Ein klassischer Schöngesang wäre auch völlig fehl am Platze wäre. Der Vater von Marcin Hutek wirkt da deutlich gemächlicher und versucht im chaotischen Haushalt für Ruhe zu sorgen. Dabei sind seine Maßnahmen, um die Kids zur Räson zu bringen, nicht unbedingt „pädagogisch wertvoll“. Bei „Wenn sie sich verirrten im Walde“ zitiert Hutek mit seinem warmen, flexiblen Bariton beinah ein Horrorszenario herauf, nur um die Gören im Bett zu halten. Einziger Kritikpunkt sowohl bei Summerer als auch bei Hutek: Bei Beiden hätte ich mir eine bessere Textverständlichkeit gewünscht.

Andrew Irwin zeigt – auch dank Maske und Kostüm – abermals sein Wandlungsfähigkeit: Doch was nützt die schönste Maske, wenn der Künstler ihr kein Leben einhauchen könnte. Anfangs als alte Nachbarin war er noch bemitleidenswert unsicher auf den Beinen, ließ da aber schon nur mit einem Blick die Bedrohung erahnen. Bei seinem ersten Auftritt im Wald schwebt er spektakulär vom Himmel herab, um sich dann in einen „Devil on Drag“ zu verwandeln, der die Bühne einem Laufsteg gleich für sich einnimmt. Dabei variiert er seine Stimme vom tenoralen Ausbruch bis zum verführerischen Gesäusel und bleibt trotz rollenbedingtem Gezicke und Gezeter der faszinierende Anti-Held.

Mit Boshana Milkow und Victoria Kunze verkörpern zwei talentierte Künstlerinnen die Titel-Partien, die ihre immense Spielfreude mit Feingefühl und Takt verbinden, sodass zu keinem Zeitpunkt der feine Grad zwischen kindlichem Enthusiasmus und peinlicher Übertreibung überschritten wurde. Vielmehr spielen sich die Beiden immer wieder schelmisch die Bälle aka die Pointen gegenseitig zu. Von kleinen Gesten über gegenseitige Frotzelei bis zum liebevollen Gute-Nacht-Kuss zeigen sie ganz und gar entzückend die innige Verbundenheit des Geschwisterpaares. Dass sie zudem wundervolle Sängerinnen sind, habe ich in der Vergangenheit schon häufig und ausführlich erwähnt. Hier überzeugen sie abermals in ihren Solis mit fein geführten Gesangslinien und harmonieren ausgesprochen stimmschön in den reichlich vorhandenen Duetten. Stichwort: „Abendsegen“: Seufz!

Apropos „kindlicher Enthusiasmus“: Nicht nur der Opernchor erfuhr durch Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández in den letzten Jahren eine Frischzellenkur. Gemeinsam mit Katharina Diegritz formte er ebenfalls einen ganz und gar wunderbaren Kinderchor, dessen jugendliche Mitglieder so entzückend natürlich agierten und dabei auch noch ganz famos sangen. Bravo!

In diesen verrückten Zeiten schenkt das Stadttheater Bremerhaven seinem Publikum mit dieser Inszenierung eine Rundum-Wohlfühl-Packung: 2 Stunden lang durfte ich mich einfach nur fallen lassen und konnte so meine Sorgen um mich herum sowie das Chaos auf dieser Welt vergessen. Danke! 💖


Nachtrag zum 23. November 2023: Manchmal komme ich in den luxuriösen Genuss und darf mir eine Inszenierung mehrmals anschauen. In diesem Fall habe ich es meinem Gatten zu verdanken, der beim ersten Besuch malade daheim bleiben musste. Doch dann hat er so sehr gequengelt, dass ich des lieben Friedens willen abermals Karten orderte.

So saßen wir gestern im Stadttheater Bremerhaven in einer Aufführung der Märchenoper HÄNSEL UND GRETEL. Und während für meinen Gatten alles aufregend neu war, konnte ich mich entspannt zurücklehnen, da ich mich weniger auf die Haupthandlung konzentrieren brauchte. Dafür durfte ich mehr die vielen, kleinen charmanten Details genießen, die mir teilweise beim ersten Anschauen völlig entgangen sind (Hat der Mond mir bei meinem ersten Besuch auch schon vom Bühnenhimmel zugeblinzelt?). Diesmal stand als Taumännchen die junge Sopranistin Annemarie Pfahler auf der Bühne, die diesen Part entzückend gestaltete. Für den erkrankten Kollegen übernahm Bariton Patrick Ruyters die Partie des Vaters. Ruyters ist Mitglied des Opernchores und bewies nachdrücklich, dass die dortigen Sänger*innen weit mehr sind als nur „die 2. Reihe“. Naja, und das vokale Dreigestirn, bestehend aus Hänsel, Gretel und Knusperhexe, war abermals exquisit…!

Ich bin so froh, dass ich als Zuschauer in meiner Sichtweise und Wahrnehmung nicht so festgefahren bin, dass ich ungewöhnliche Regie-Konzepte nicht zu schätzen wüste. Vielmehr empfinde ich es als eine wunderbare Chance, dass ich in einem mir bekannten Werk überraschend neue Aspekte entdecken darf.

Ich glaube, dass es gerade bei HÄNSEL UND GRETEL schier unmöglich ist, den Geschmack aller zu treffen, da viele Erinnerungen mit diesem Werk verknüpft werden. Diese Erinnerungen können es durchaus erschweren, sich unvoreingenommen einer Inszenierung zu nähern. Der daraus resultierende Unmut wird dann von einigen „Theater-Fans“ ungefiltert in die Hemisphäre gepustet. Da tauchen dann so manche „kritische“ Kommentare in den sogenannten sozialen (!) Medien auf, die weit weniger etwas über die Inszenierung als vielmehr etwas zur Geisteshaltung des Verfassers aussagen. Da gab/gibt und wird es bedauerlicherweise wohl immer geben die ewig Gestrigen und permanent Traditionellen, die eine starre Vorstellung davon haben, wie eine gelungene HÄNSEL UND GRETEL-Inszenierung auszusehen hat. Abweichungen unerwünscht! Entsprechen besagte Abweichungen nicht ihren Vorstellungen, dann taugt die gesamte Aufführung nichts, und selbst die musikalischen Qualitäten von Orchester und Sänger*innen-Ensemble verschwinden hinter dem vernichtenden Urteil. Da wird von der „schrecklichsten Produktionen, die ich je gesehen habe“ gepoltert, und Forderungen nach „Subventionen streichen“ werden laut. Ein differenziertes, faires und vor allem respektvolles Feedback scheint nicht möglich!

Wenn ich eine solche „Kritik“ lese, frage ich mich immer ernsthaft, ob ich tatsächlich genau dieselbe Inszenierung wie der Verfasser gesehen habe. Auch ich habe durchaus die eine oder andere kritische Anmerkung in meinem obigen Beitrag hinterlassen. Doch ich konnte nichts feststellen, was diese geballte Masse an Negativität rechtfertigen könnte. Im Gegenteil: Ich fühlte mich ganz und gar wunderbar unterhalten! 😍

Ich persönlich möchte nicht die ewig, gleichen Inszenierungen, die nach einem vorgegebenen Schema entstehen, auf der Bühne sehen. Ich wünsche es mir nicht nur – Nein! – ich erwarte und fordere es regelrecht, dass mir ein buntes, lebendiges Theater geboten wird, das mich auch durchaus herausfordern und zum (Mit-)Denken animieren darf und muss.


Noch bis Mitte Januar 2024 besteht die Möglichkeit, sich mit HÄNSEL UND GRETEL am Stadttheater Bremerhaven märchenhaft verführen zu lassen.

[Ballett] Cayetano Soto & Alfonso Palencia – SEELEN / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Cayetano Soto und Alfonso Palencia / mit Musik von Bryce Dessner, Johann Sebastian Bach und Philip Glass

Premiere: 7. Oktober 2023 / besuchte Vorstellung: 29. Oktober 2023
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


TWENTY EIGHT THOUSAND WAVES

CHOREOGRAFIE Cayetano Soto
CHOREOGRAFISCHE EINSTUDIERUNG Mikiko Arai
BÜHNE & KOSTÜME Cayetano Soto

BEHIND THE WINDOW (URAUFFÜHRUNG)

CHOREOGRAFIE Alfonso Palencia
BÜHNE Christian Rinke, Alfonso Palencia
KOSTÜME Alfonso Palencia

ANIMA

CHOREOGRAFIE Alfonso Palencia
BÜHNE Christian Rinke
KOSTÜME Danielle Jost

CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Bobby M. Briscoe
DRAMATURGIE Alfonso Palencia, Markus Tatzig
INSPIZIENZ Mahina Gallinger


„Veröffentlichst du in dieser Woche noch deinen Beitrag?“ fragte mich ein Freund, als wir nach der Vorstellung auf dem Weg zum Auto waren. Geschmeichelt warf ich mich in Position und schmetterte mit dem Brustton der Überzeugung heraus „Aber natürlich!“. Besagter Freund strahlte mich voller Vorfreude an „Toll! Ich freu` mich!“. Dann verabschiedeten wir uns,…!

…und nun sitze ich hier vor der Tastatur des PCs und starre „auf ein leeres Blatt Papier“, will sagen: auf einen leeren Monitor. Denn wie soll ich etwas beschreiben, was unbeschreiblich wirkt? Welche profanen Wörter können die Emotionen ausdrücken, die ich empfunden habe? Wie definiere ich etwas, das nicht greifbar scheint?

Denn im Grunde geht es mir immer so, wenn ich einem Tanzabend im Theater miterleben durfte. Ballett ist die Form in der darstellenden Kunst, für die ich den größten Respekt empfinde, da sie dem Künstler ein Höchstmaß an Disziplin abverlangt. In meinem laienhaften Verständnis unterstelle ich, dass eine Geschichte einfacher durch Gesang oder Sprache vermittelt werden kann, als mit den Ausdrucksmöglichkeiten, die der Körper vorgibt. Im Tanz werden Empfindungen in Bewegungen übersetzt, die ihre wie selbstverständlich anmutende Leichtigkeit erst durch ein hartes Training erhalten. Niemand, der nicht selbst mit der Materie vertraut ist, kann auch nur annähernd erahnen, wie viele Tränen geweint, wie viele Blessuren verarztet und wie viel Schweiß vergossen wurde, bis auf der Bühne diese perfekte Einheit aus Emotionalität, Erotik und Ästhetik präsentiert werden kann.

In dieser Eröffnungsproduktion des Balletts am Stadttheater Bremerhaven gibt uns Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia in drei Tanz-Miniaturen intime Einblicke in die menschliche Seele.


TWENTY EIGHT THOUSAND WAVES

28.000 Wellen im Ozean bilden gemeinsam eine große imposante Welle. Doch sobald diese mit Wucht gegen einen Felsen prallt, löst sie sich wieder auf in 28.000 einzelne Wellen. Beinah scheint es so, als stände jede Welle für ein Menschenleben, das kurzfristig mit anderen Leben eine Verbindung eingeht, sich dann abermals von ihnen loslöst, um sich einsam auf die Suche nach Menschen und Orten zu begeben, bei denen sich heimisch gefühlt werden kann. Die treibenden Violinen in Bryce Dessners Komposition „Aheym“ unterstreichen diese hektische Suche: Die Tanzenden finden zueinander, harmonieren miteinander und werden wieder auseinandergerissen, um sich in neuen Paarungen zu finden…

Mikiko Arai re-kreierte die sowohl kraft- wie auch anspruchsvolle Choreografie von Cayetano Soto zusammen mit den Tänzer*innen des Bremerhavener Ballettensembles, das an diesem Abend aus Helena Bröker, Melissa Festa, Lucia Giarratana, Clara Silva Gomes, Arturo Lamolda Mir, Marco Marongiu, Melissa Panetta, Zoe Irina Sauer Llano, Ming-Hung Wenig und Dawon Yang bestand.

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BEHIND THE WINDOW (URAUFFÜHRUNG)

Hinter einem Fenster kann sich so vieles verbergen: Sehnsüchte, Erwartungen, Ängste oder Ungewissheit. Wir lernen eine Familie bestehend aus Vater, Mutter und Sohn kennen. Das Familienleben könnte so schön sein, doch der Sohn ist unheilbar krank und verstirbt. Die Eltern gehen sehr unterschiedlich mit der Trauer um. Während der Vater den Verlust nicht akzeptieren kann, versucht die Mutter im Alltag zu funktionieren. Plötzlich erscheint hinter dem Fenster eine Erscheinung, die nur der Vater als seinen Sohn wahrnimmt. Die Mutter leidet, da sie am Verstand ihres Mannes zweifelt. Erst als auch sie die Erscheinung hinter dem Fenster wahrnimmt, finden beide wieder zueinander. Die Heilung kann beginnen…!

Zur Musik von Johann Sebastian Bach schuf Alfonso Palencia eine beinah kammerspielartig anmutende und sehr intensive Choreografie bei der „nur“ eine Tänzerin und zwei Tänzer auf der Bühne stehen. Melissa Panetta (Mutter), Ming-Hung Weng (Vater) und Arturo Lamolda Mir (Sohn) bilden eine harmonische Einheit und erzählen äußerst einfühlsam die berührende Geschichte über Verlust, Trauer aber auch Hoffnung.

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ANIMA

Was passiert mit der Seele eines Menschen – im Dies- wie im Jenseits? Wie gestaltet sich der Übergang? Und wie nehmen persönliche Emotionen und Erfahrungen Einfluss auf den Zustand der Seele? Sehr abstrakt nähert sich Alfonso Palencia mit seiner Choreografie der Beantwortung dieser Fragen. Die verschiedenen Zustände der Seelen werden durch die Schattierungen (Weiß, Grau, Schwarz) der Kostüme symbolisiert.

Die Positionen der Tanzenden zueinander bzw. auf den unterschiedlichen Ebenen des Bühnenbildes verdeutlichen, auf welcher Stufe des „Übergangs“ sich die jeweilige Seele befindet. Dabei vermischen sich die Seelen immer wieder im innigen Tanz. Sie führen sich gegenseitig unterstützend von der einer Ebene zur nächsten Ebene, lassen so einst getrennte Seelen sich finden. Das Violinen-Konzert Nr. 2 von Philip Glas bildet bei dieser Choreografie den musikalischen Rahmen.

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Ich bin immer wieder gerührt, mit welcher Begeisterung die Bremerhavener „ihre“ Ballett-Kompanie feiern: Schon während der Vorstellung waren im Publikum bewundernde Rufe zu hören. Nach jeder Sequenz wurde üppig Applaus gespendet. Und trotzdem ließen es sich die Zuschauer*innen nicht nehmen, die Tänzerinnen und Tänzer mit frenetischem Jubel und Standing Ovation von der Bühne zu verabschieden. Großartig!



Informationen und Termine zu weiteren Vorstellungen von SEELEN findet ihr auf der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven.

[Lustspiel] Heinrich von Kleist – DER ZERBROCHNE KRUG / Stadttheater Bremerhaven

Lustspiel von Heinrich von Kleist

Premiere: 9. September 2023 / besuchte Vorstellung: 17. September 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Thomas Oliver Niehaus
BÜHNE & KOSTÜME Kathrin Kemp
MUSIK Patrick Schimanski
DRAMATURGIE Elisabeth Kerschbaumer
REGIEASSISTENZ Jens Bache
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
SOUFFLAGE Birgit Ermers
THEATERPÄDAGOGIK Schirin Badafaras
AUSSTATTUNGSHOSPITANZ Hannah Berki, Jana Rabofsky


Es war Saison-Auftakt am Stadttheater Bremerhaven mit dem Komödien-Klassiker DER ZERBROCHNE KRUG und gleichzeitig die erste Abo-Vorstellung für mich: Ich betrat also den Zuschauersaal, setzte mich auf meine gewohnten Plätze in der 2. Reihe und blickte auf fünf Kunsttannen, die üppig am Bühnenrand positioniert waren. Spontan lachte ich auf, da ich an das kleinliche Gemecker einiger Zuschauer*innen dachte, denen in der vergangenen Spielzeit in der sensationellen Inszenierung von DER FREISCHÜTZ der Wald fehlte. „Das habt ihr nun davon“, dachte ich voller Schadenfreude „Da habt ihr euren Wald!“. Doch dann blickte ich abermals auf die Bühne und langsam bahnte sich ein Gedanke seinen Weg in mein Gehirn. Meine schnöde Schadenfreude wich einer ernüchternden Erkenntnis, dass nicht nur die Meckerer im Wald stehen, auch mir würde eine freie Sicht auf die Bühne verwehrt bleiben.

Gerichtsschreiber Licht überrascht Richter Adam morgens beim Verbinden frischer Wunden. Adam erklärt, beim Aufstehen gestrauchelt und gegen den Ofen gefallen zu sein. Da lässt sich Gerichtsrat Walter melden. Er ist aus Utrecht entsandt, um Gerichtskassen und Akten zu prüfen. Adam gerät in Panik, zumal seine richterliche Perücke verschwunden und kein Ersatz zur Hand ist. Obendrein ist auch noch Gerichtstag, und Klägerin, Beklagter und Zeugen warten schon vor der Tür. Der Richter ahnt, weshalb sie gekommen sind, und dass er als Richter nun gezwungen sein wird, über eine Tat zu richten, die er selbst begangen hat. Entsprechend tut er alles, was in seiner Macht steht, um die Aufklärung des Falls, bei dem außer einem Krug auch ein Verlöbnis entzweiging, zu verhindern. Schlangengleich dreht und windet er sich, um den Verdacht auf andere zu lenken. Doch Gerichtsrat Walter und Schreiber Licht lassen sich davon nicht blenden, da beide, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, an der Aufklärung des Falls interessiert sind. Schwitzend vor Angst wird Richter Adam in die Enge getrieben. Schritt für Schritt enthüllt sich während der Verhandlung folgender Tatbestand: Der Unbekannte, der am Vorabend des Gerichtstags hastig durch das Schlafkammerfenster von Eve Rull entwich und dabei den Krug, der ihrer Mutter Marthe lieb und teuer ist, vom Sims stieß, war er, Richter Adam selbst. Es war nicht der Beklagte, Eves Verlobter Ruprecht, der mit seinem Vater Veit Tümpel erschienen ist. Dessen vermeintlicher Nebenbuhler Lebrecht kann es ebenfalls nicht gewesen sein, da dieser sich zu dem Zeitpunkt nicht im Dorf aufhielt. Alle Indizien sprechen gegen Richter Adam: Die beiden Kopfwunden, die Adam davontrug, als Ruprecht dem unerkannt Flüchtenden zweimal die Türklinke über den Kopf hieb; Adams Klumpfuß, der die Spur vom Tatort quer durchs Dorf zu seiner Wohnung erklärt; und die fehlende Richterperücke, die die Zeugin Frau Brigitte am Weinspalier hängend unter Eves Kammerfenster entdeckt hatte. Nun rät Walter dem Richter, abzutreten, da die Würde des Gerichts auf dem Spiel stehe. Aber dieser will nicht hören und fällt sein Urteil: Ruprecht soll wegen Ungebühr der Hals ins Eisen gelegt werden. Ruprecht bäumt sich so stark gegen diese Ungerechtigkeit auf, dass Richter Adam ängstlich aus seinem Haus flüchtet. Nun wo der Schändliche nicht mehr gegenwärtig, ist Eve bereit, die volle Wahrheit zu sagen: Adam hat Eve vorgelogen, ihrem Verlobten drohe der Militärdienst in Ostindien, und nur er, der Dorfrichter könne dies verhindern, wenn Eve eine Gegenleistung erbringt. Zum Äußersten ist es, auch dank Ruprechts Eingreifen, vermutlich nicht gekommen, obwohl Eve noch zum Zeitpunkt ihrer Beschuldigung Adams befürchtet, der Erpresser besitze Macht, ihr den Verlobten zu entreißen. Deshalb hat sie lange über das geschwiegen, was wirklich in ihrer Schlafkammer geschehen ist.

30 weiße Gartenstühle aus „Plaste“ nebst div. Tische und einiger Hocker aus eben diesem Material verteilten sich scheinbar wahllos gestapelt und zusammengestellt auf der Bühne. Zusammen mit einem großen Lamellenvorhang, der den Bühnenraum unterteilt, versprühte diese Ausstattung ein steriles Schlachthof-Ambiente. Zwangsläufig stellte sich mir bei diesem Anblick die Frage, wer hier von den Charakteren wohl zur Schlachtbank geführt wird. Richter Adam als Ober-Schlachter versucht gleich mehrere Unschuldige zu opfern, nur um von sich abzulenken, und wird am Ende dann doch selbst filetiert. Auch die weißen Kostüme können als Sinnbild für die Reinheit der beteiligten Personen gesehen werden. Selbst Richter Adam erscheint anfangs ganz in weiß gekleidet, wobei sein schlampiges Outfit bestehend aus Unterhemd und langer Unterhose schon auf seinen wahren Charakter schließen lässt. So agiert er in dieser Unschuldsherde als Wolf im Schafspelz, der dieses nach seiner Enthüllung abstreift und plötzlich in schwarz gewandet erscheint. Auch sonst bemüht Ausstatterin Kathrin Kemp gerne die Symbolik. So schwebt ein großer, fauler Apfel einem Mond gleich über dem Geschehen, und auch Eve darf gerne mal in einen Apfel beißen, sozusagen – Nomen est Omen – als personifizierte Verführung durch das ewig Weibliche. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den Kühlschrank, der in einem früheren Leben anscheinend eine Jukebox war. Beim Öffnen der Tür erklangen flotte Party-Rhythmen: ein netter Gag – mehr aber auch nicht.


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Für’s Auge bot dieser „Krug“ somit eher weniger (Da half auch nicht der „Wald“, der sich übrigens nach der Eröffnungsszene in den Orchestergraben absenkte.). Er hat solchen „Schnickschnack“ aber auch nicht nötig, da der Text mit seinen Dialogen brillant ist, und die Personen fein gezeichnet sind.

Glücklicherweise konnte Regisseur Thomas Oliver Niehaus über ein famoses Schauspielensemble am Stadttheater Bremerhaven verfügen. Wenn Frank Auerbach als Dorfrichter Adam protzt und duckmäusert, droht und säuselt, kriecht und schleimt, dann ist dies voller Komik. Er zeigt in seinen Versuchen des Vertuschens eine solche Verzweiflung, dass ich durchaus Mitgefühl für ihn empfand, und er so – trotz seiner ganzen Verderbtheit – ein absoluter Sympathie-Träger war. Eingekesselt wird Adam gleich von zwei Seiten durch moralische Instanzen: Henning Bäcker gibt den Gerichtsschreiber Licht als Mann mit Ambitionen und Prinzipien. Wohltuend unterlässt er ein übertriebenes Anbiedern und verhindert so, dass die Figur Sympathien einbüßt. Ambitionen und Prinzipien finden sind auch in der Person des Gerichtsrads Walter, wenn auch seine Beweggründe von denen des Gerichtsschreibers abweichen: Richard Feist verkörpert ihn als aufstrebende Führungskraft mit Geltungsbedarf und Hang zur Ordnung, dem der gute Ruf der Justiz über alles geht.

Wind von vorn gab es für Adam durch die Marthe Rull von Marsha Zimmermann, die schon rein optisch die Rolle vom allzu mütterlichen Gebaren befreite. Vielmehr porträtierte sie Marthe als eine gestandene und selbstbewusste Frau, die mit einer angeborenen Autorität die versammelten Männer in ihre Schranken weist. Isabell Zeumer wußte auch in der kleinen Rolle der Frau Brigitte zu gefallen, was ebenso auf Kay Krause als Veit Tümpel zutraf. Beide Rollen können als feine Farbschattierungen innerhalb eines Kunstwerkes betrachtet werden.

Herausragend sind auch die beiden jungen Neuzugänge im Schauspielensemble: Justus Henke spielt den Ruprecht Tümpel mit einer beinah tölpelhaften Naivität. Doch hinter der scheinbaren Schlichtheit versteckt sich ein aufrechter Geist mit einem Ur-Instinkt für Ehre und Gerechtigkeit. Hoch emotional agiert Anna Caterina Fadda als Eve. Ihre Verzweiflung drückt sie weniger durch Worte als vielmehr durch (Körper-)Haltung, Mimik und Blicke voller Emotionen aus und lässt ihr Leid in so mancher still vergossenen Träne gipfeln.

Für ein Lustspiel durchaus unüblich, wendete Kleist in den Dialogen die Vers-Form an und erhöhte dadurch seinen Anspruch an eine Komödie. Um dieser Vers-Form gerecht zu werden, stellte er die natürliche Wortfolge um. Dieser Umstand könnte allein schon beim Lesen für Schwierigkeiten sorgen. Wie tückisch wäre da erst das gesprochene Wort? Doch in Bremerhaven stehen Könner*innen auf der Bühne, die die Verse fein akzentuierten, wohldurchdacht Pausen setzten und so die Schönheit der Kleist’schen Sprache zum Erblühen brachten.

Kaum zu glauben, dass dieser Komödien-Klassiker aufgrund einer Wette entstand, die Kleist während eines Aufenthalts in der Schweiz mit seinen Freunden Ludwig Wieland und Heinrich Zschokke am Laufen hatte. Heinrich Zschokke berichtete über diesen Dichterwettstreit:

„In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich „La cruche cassée“. In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe einer Satire, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden,…

…Kleists zerbrochner Krug hat den Preis davon getragen.“


Hier findet Ihr die Termine zu weiteren Aufführungen von Kleists DER ZERBROCHNE KRUG am Stadttheaters Bremerhaven.