[Musical] Jerry Herman – HELLO, DOLLY! / Theater Bremen

Musik und Liedtexte von Jerry Herman / Buch von Michael Stewart / nach „The Matchmaker“ von Thornton Wilder / Deutsch von Robert Gilbert

Premiere: 25. November 2022 / besuchte Vorstellung: 9. Dezember 2022

Theater am Goetheplatz in Bremen / Großes Haus


Musikalische Leitung: William Kelley
Inszenierung: Frank Hilbrich
Choreografie: Dominik Büttner
Bühne: Volker Thiele
Kostüme: Gabriele Rupprecht
Choreinstudierung: Alice Meregaglia

Auf der offenen Bühne verteilt liegen diverse Paare Schuhe und warten auf ihre Besitzer*innen. Da ertönen die ersten Klänge der Ouvertüre, und im Kegel des Scheinwerfers beginnen plötzlich zwei Schuhpaare wie durch Zauberhand miteinander zu tanzen. Zum Eröffnungs-Song stürmt dann der Chor in Brautkleidung gewandet die Bühne, jede*r zuerst die passenden Schuhe suchend, um sich dann mit einem/r Partner*in in vielfältigen Konstellationen zu verbandeln. Sie alle scheinen zufriedene Kund*innen der wohl geschäftstüchtigsten Heiratsvermittlerin zu sein, die prompt mit Grandezza erscheint: Mrs. Dolly Levi…

…weiß alles, kann alles oder hat zumindest schon alles gesehen und erlebt. Als nunmehr Witwe und vormals selbst glücklich Verheiratete ist es ihr ein besonderes Anliegen, heiratswillige Einzelpersonen durch geschicktes Manipulieren und miteinander Verkuppeln in den Hafen der Ehe zu lotsen. Momentan hat sie allerdings einen schweren Brocken an der Angel: Der kauzige Horace Vandergelder, Besitzer eines Heu- und Futtermittelladens und Halbmillionär aus Yonkers, einem Vorort von New York, ist nur schwerlich zufriedenzustellen. Auch die amtierend Auserwählte Mrs. Irene Molloy, Besitzerin eines Hutladens in New York, scheint keine Gnade vor seinem strengen Blick zu finden. Dabei hat Dolly schon selbst einen Blick auf den liebenswerten Kauz geworfen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass Dolly absichtlich die beiden Mitarbeiter von Vandergelder, Cornelius Hackl und Barnaby Tucker, genau in dem Augenblick im Laden bei Irene und ihrer Assistentin Minnie Fay auftauchen und für Verwirrung sogen lässt, als der Bräutigam in spe vor der Ladentür steht, um seiner potenziellen zukünftigen Braut seine Aufwartung zu machen. Horace ist erbost und fühlt sich um sein Kuppel-Geld betrogen, doch Dolly verspricht ihm, am Abend im legendären Harmonia Gardens Restaurant endlich eine passende Partie zuzuführen. Als Horace pünktlich am vereinbarten Treffpunkt erscheint, wird er von Ernestina Money erwartet. Sie wurde von Dolly für diese Farce eingeweiht und zieht alle Register, um Horace in Dollys Arme zu treiben. Als dann zu seinem Schreck sowohl seine Nichte Ermengarde mit ihrem Künstler-Freund Ambrose als auch seine in Yonkers wähnenden Mitarbeiter Cornelius und Barnaby mit Irene und Minnie im Arm auf der Tanzfläche erscheinen, fühlt er sich dem Wahnsinn nah. Doch als schließlich Dolly selbst unter großem Jubel aller versammelten Kellner ins Harmonia Gardens Restaurant einzieht, schwand dem alten Dickkopf langsam, wer hier wohl die Richtige an seiner Seite wär…!


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Hach, das waren noch paradiesische Zeiten damals Anfang der 2000er, als Klaus Pierwoß noch Intendant am Bremer Theater war und sich mit Helmut Baumann für mehrere Jahre die Koryphäe des Musicals ans Haus holte, der einige seiner großen Berliner Erfolge hier an der Weser wiederholte. Seitdem wurde am Bremer Theater nicht mehr mit einer solch exquisiten Expertise dem klassischen Musical gefrönt – zumindest nicht in meiner Wahrnehmung. Ich warf über Jahre immer wieder einen hoffnungsvollen aber sinnlosen Blick zum Bremer Theater und war kurz davor, meinen Blick enttäuscht für immer abzuwenden, als plötzlich dieses Werk angekündigt wurde. Ich konnte mein Glück kaum fassen…!

In Bremen nahm sich Regisseur Frank Hilbrich diesem Musical-Fossil an und bemühte sich um eine Auffrischung. So stellte er die Vorzüge des Werkes in den Mittelpunkt, indem er die positive Energie, das Komödiantische und die brillante Musik hervorhob. Er entschlackte das Musical mit mal mehr, mal weniger überzeugenden Kürzungen im Text und verfrachtete die Handlung aus der Zeit der Jahrhundertwende heraus in die bunte Welt der 80er Jahre. Eine radikalere Modernisierung hätte dem Werk auch nicht gut getan, bzw. das Geschäftsmodel einer Dolly Levi in der heutigen Zeit ad absurdum geführt. Auch war in den 80ern die Emanzipation der Frau schon so weit vorangeschritten, dass ein Song wie „Motherhood/ Mutterschaftsmarsch“ hier nur mit einem ironischen Augenzwinkern von den Damen vorgetragen werden konnte. Hilbrichs Inszenierung setzt auf Tempo: Chor und Ballett scheinen bei den flotten Nummern ständig auf der Bühne zu sein, ohne das es hektisch wirkt. Gleichzeitig gönnt er den Balladen die nötige Ruhe, damit sie ihre Wirkung entfalten können.

William Kelley entfaltet mit den Bremer Philharmoniker einen satten Broadway-Sound, der geschickt zwischen Jazz, Swing und Schlager pendelt, sich süffig im Ohr verfängt und dort lange haften bleibt. Chordirektorin Alice Meregaglia besorgte die perfekte Disposition der agilen Sänger*innen des Opernchores, während Dominik Büttner die Tänzer*innen dank seiner abwechslungsreichen Choreografie mit flinken Füssen über die Bühne wirbeln ließ. Gemeinsam umrahmen sie alle auf das Allerbeste die feine Solistenriege.

Sie kam, sah und siegte: Gayle Tufts trat als Dolly Levi auf, und schon flogen ihr alle Sympathien zu. Sie „denglisht“ sich so herrlich authentisch und charmant durch ihre Dialoge und versprüht dabei so viel positive Energie. Kleingeister könnten durchaus auf den Gedanken kommen, ihr Defizite im Gesang und Schauspiel anzukreiden. Diese wären für mich nur einige von vielen Teilen ihrer liebenswerten „Personality“. Gayle Tufts schenkt ihrem Publikum pures Entertainment.

„Umspielt“ wurde sie von Solist*innen aus dem Opernensemble, die sich mit der sogenannten leichten Muse erfreulich wohl zu fühlen scheinen. Nun kommen die Songs eines klassischen Musicals den Stimmen von Opernsängern durchaus entgegen, was allerdings nicht bedeutet, dass jeder Opernsänger darin auch brilliert. Umso schöner, wenn beides auf das Beste zueinanderfindet.

Ulrike Mayer leiht der Irene Molloy ihren vollen Mezzo und zeigt die herbe Schöne als moderne Frau, die keinen Kerl braucht, um versorgt zu sein. Im Gegenteil: Sie braucht einen Mann auf Augenhöhe, der stark genug ist, um auch mal schwach zu sein. Diesen scheint sie im Cornelius Hackl von Ian Spinetti gefunden zu haben, der mit schönem Tenor und einnehmenden Spiel (insbesondere bei „It Only Takes a Moment/ Es kann oft ein Moment sein“) überzeugt. Das Buffo-Paar, bestehend aus Barnaby Tucker und Minnie Fay, findet in Timo Stacey und Elisa Birkenheier ihre Entsprechung: zwei junge, naive Menschen, die am Anfang ihres Lebens stehen, und mit Spielfreude und Natürlichkeit punkten. Als männliches Objekt von Dollys Begierde steht Christoph Heinrich auf der Bühne und lässt bei den div. Wutanfällen von Horace Vandergelder seinen tiefschwarzen Bass ertönen. Heinrich zeigt sowohl schauspielerisches wie komödiantisches Potential: Nur leider ist ein dauerhaftes „Granteln“ nicht abendfüllend. Ich hätte mir mehr Differenziertheit in der Rollengestaltung gewünscht, um nachzuvollziehen, warum eine patente Frau wie Dolly sich in diesen Miesepeter verguckt. Nur leider sind gerade die Passagen des Textbuches, die die weiche, verletzliche Seite von Horace beleuchten, dem Rotstift des Regisseurs zum Opfer gefallen. Schade!

Das Bühnenbild von Volker Thiele zeigt uns das Harmonia Gardens Restaurant in edlem Holz und mit gediegener Patina. Das Orchester sitzt erhaben auf der Empore. Dank flexibel verschiebbarer Bühnenteile, wie die Präsentationsflächen im Hutgeschäft oder die berühmte Showtreppe, vergehen nur wenige Sekunden zwischen den einzelnen Szenenwechseln. Die Kostüme von Gabriele Rupprecht überzeugen mit satten Farben im typischen 80er-Look, wie weite Oberteile mit breiten Reveres und Schulterpolstern, Taillengürtel und bunte Jogging-Anzüge. Herrlich!

Am Schluss der Aufführung standen wir in den Sitzreihen und spendeten frenetischen Applaus für eine überzeugende Gayle Tufts in der Titelrolle, für ein tolles Ensemble und für ein Musical aus der goldenen Ära des Broadways, das uns so herrlich den Alltag vergessen ließ.

Lust auf ein paar Zusatz-Information? Dann lest gerne die Interviews von der Hauptdarstellerin Gayle Tufts oder dem musikalischen Leiter William Kelley auf der Homepage des Theaters Bremen.


Die pfiffige Heiratsvermittlerin HELLO, DOLLY! wird voraussichtlich noch bis zum Ende der Spielzeit ihre Fäden am Theater Bremen spinnen.

[Musical] Benny Andersson & Björn Ulvaeus – MAMMA MIA! / Stage Theater Neue Flora in Hamburg

Musik & Liedtexte von Benny Andersson & Björn Ulvaeus / zusätzliche Liedtexte von Stig Anderson / Buch von Catherine Johnson / deutsche Liedtexte von Michael Kunze / deutsche Dialoge von Ruth Deny

Premiere: 3. November 2002 / Stage Operettenhaus in Hamburg / bisher besuchte Vorstellungen: 9. November 2003, 15. Juni 2006 & 13. März 2007 / Premiere der Wiederaufnahme: 11. September 2022 / Stage Thea­ter Neue Flora in Ham­burg / besuchte Vorstellung der Wiederaufnahme: 14. Februar 2023


Musikalische Leitung: Hannes Schauz
Inszenierung: Phyllida Lloyd
Choreographie: Anthony van Laast
Production Design: Mark Thompson
Lighting Design: Howard Harrison

Sound Design: Andrew Bruce & Bobby Aitken


„Zuschauer mit schwachen Nerven oder Herzproblemen möchten wir darauf hinweisen, dass in diesem Stück wiederholt Schlaghosen und Plateauschuhe zum Einsatz kommen.“

Mit diesem Hammer-Gag (!) wird heute wie vor 20 Jahren die Show eröffnet und sorgt immer noch für Lacher im Publikum. MAMMA MIA! ist nun – nach einer üppigen Rundreise durch die Bundesrepublik – endlich wieder an der Stätte der deutschen Uraufführung angekommen: Zwar nicht im selben Theater, doch immerhin in derselben Stadt. Damit ist dies nun die neunte Station des Erfolgsmusicals, von dem Björn Ulvaeus sagte:

„Mamma Mia! ist ein Musical, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es geschrieben haben!“

Eine kleine Insel irgendwo an der griechischen Küste: Hier lebt Donna mit ihrer 20jährigen Tochter Sophie und betreibt – mehr schlecht als recht – eine Taverne. Um die Identität von Sophies Vater macht Donna ein großes Geheimnis und meidet dieses Thema wohlwissentlich. Doch nun steht Sophie kurz vor der Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Sky, und in ihr reift der Wunsch, von ihrem Vater zum Altar geführt zu werden. Zufällig fällt ihr Donnas Tagebuch aus den vergangenen, wilden Zeiten in die Hände, dem sie entnehmen kann, dass zum Zeitpunkt ihrer Entstehung drei potentielle Kandidaten für die Vaterschaft in Frage kommen: Sam, Harry und Bill. Kurzerhand lädt sie alle drei Männer zu ihrer Hochzeit ein, die auch prompt dieser Einladung nachkommen und auf der Insel erscheinen. Anlässlich der Hochzeit tauchen auch Donnas beste Freundinnen Rosie und Tanja auf. Gemeinsam waren sie in ihrer Jugend als das Gesangstrio „Donna and the Dynamos“ auf Tour. Sophie versucht nun verzweifelt, alle Fäden fest in der Hand zu behalten. Doch zwischen Kennenlernen, Wiedersehensfreude und Junggesellinnenabschied entgleiten ihr so manche Fäden. Das Verwirrspiel beginnt: Missverständnisse sind vorprogrammiert…!


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Ich saß im Theater und freute mich…! Ich freute mich auf diese charmante Boulevard-Komödie, auf einen schönen Abend und auf die Songs von ABBA, die so raffiniert in die Handlung integriert wurden. Zudem stellt dieses Musical im Kosmos von Stage Entertainment eine Ausnahme dar: Häufig findet bei der Besetzung eines Musicals, das in der Originalinszenierung vom Broadway oder Westend übernommen wird, ein sogenanntes Typcasting statt, d.h. die/der Schauspieler*in muss schon allein optisch auf einen gewissen Rollentyp passen. Bei MAMMA MIA! ist es ein wenig anders: Hier werden Typen gecastet. Und so kam ich schon in den Genuss, dass ich sehr unterschiedliche Darsteller*innen auf der Bühne bewundern durfte, die so der jeweiligen Rolle (innerhalb des vorgegebenen Rahmens) ihre persönliche Note verlieh. MAMMA MIA! bewahrt sich so eine gewisse Spontanität und wirkt dadurch weniger „geklont“.

Mit ihrer rot-gelockten Mähne und ihrem rustikalem Charme schlüpfte die Amerikanerin Rachel Bahler in die Rolle der ehemaligen Hippie-Braut Donna: Wirkten anfangs ihre Dialoge und Gesten noch leicht einstudiert, spielte sie sich im Laufe der Vorstellung immer weiter frei und überzeugte im 2. Akt mit Emotionalität. Zudem verfügt sie über eine blendende Stimme und meisterte die vokalen Anforderungen bravourös. Tochter Sophie gab Rose-Anne van Elswijk mit mädchenhafter Grazie und klarer Stimme, lies aber auch den jugendlichen Enthusiasmus nicht vermissen. Donnas Freundinnen wurden von Franziska Lessing (Rosie) und Jennifer van Brenk (Tanja) mit einer spürbaren Freude an Komik, Slapstick und einer Menge Selbstironie verkörpert. Neben diesen vier Damen mit ihrer geballten Ladung Frauen-Power müssen sich die Herren mächtig ins Zeug legen. Naidjim Severina als Sky war mit seiner frech-sympathischen Ausstrahlung nicht nur der Auserwählte bei Sophie, sondern brachte sicherlich das eine oder andere Herz der Zuschauer*innen zum Höherschlagen. Das Männer-Trio aus Sascha Oliver Bauer (Sam), Detlef Leistenschneider (Harry) und Tetje Mierendorf (Bill) war perfekt aufeinander eingespielt und bot schauspielerisch wie auch gesanglich eine runde Performance. Das übrige talentierte Ensemble hielt die Show wie ein präzises Uhrwerk am Laufen: Während einige Darsteller rechts noch von der Bühne tanzten, verschoben andere die variabel einsetzbaren Wand-Elemente und sorgten dafür, dass die für die nächste Szene benötigten Requisiten an ihrem Platz lagen. Dies geschah so bewundernswert geschmeidig-selbstverständlich und sicherte den reibungslosen Ablauf der Show.

Wie wahrscheinlich bei jeder Aufführung dieses Musicals hielt es die Zuschauer bei der Zugabe nicht mehr auf den Sitzen. Wir tanzen in den Stuhlreihen und sangen aus voller Kehle mit. Denn sind wir tief in unserem Herzen nicht alle eine „Dancing Queen“?


Auf dem Weg Richtung Heimat fragte ich mich, warum MAMMA MIA! von der Produktionsfirma Stage Entertainment immer wieder und wieder als hochpreisiges Long Run-Musical aus der Versenkung geholt wird. Naja, so wirklich stellte sich mir diese Frage nicht, da die Gründe auf der Hand lagen: Einerseits besitzen die ABBA-Songs nach wie vor eine immense Sog-Kraft und locken die Fans von nah und fern ins Theater. In Bezug auf Bühne, Technik, Kostüme etc. ist der Aufwand erfreulich überschaubar und so weniger kostenintensiv als bei anderen Long Run-Musicals. Sogar an einem personalintensiven Orchester kann gespart werden, da sich die s.g. Band aus 5 Musiker incl. Dirigent zusammensetzt, was bedeutet, dass der satte Orchestersound vom Band kommt, dem live einzelne Instrumente zugemischt werden. Zugegeben dies alles wird höchst professionell und äußerst unterhaltsam dargeboten. Doch dies könnte ein versiertes Stadt- oder Staatstheater durchaus ebenso professionell auf die Bühne bringen.

Und so fuhr ich nach der Vorstellung bestens gelaunt nach Hause und fühlte mich doch abermals bestätigt: Für einen Musical-Besuch, der mich begeistert, verzaubert und berührt, brauche ich nicht die großen Produktionen. Das funktioniert auch „kleiner“!!!

Übrigens: Nur eine CD-Länge der deutschen Fassung von MAMMA MIA! ist ausreichend für die Bewältigung der Strecke zwischen Hamburg und Osterholz-Scharmbeck. Wir haben es auf dem Heimweg getestet.


Für gute Laune sorgt MAMMA MIA! auch weiterhin: Die Spielzeit im Stage Thea­ter Neue Flora in Ham­burg wurde bis Januar 2024 verlängert!

[Musical] Marc Shaiman – HAIRSPRAY / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Marc Shaiman / Liedtexte von Scott Whitman & Marc Shaiman / Buch von Mark O’Donnell & Thomas Meehan / Deutsche Fassung von Jörn Ingwersen (Dialoge) und Heiko Wohlgemuth (Songs) / Basierend auf dem New Line Cinema Film, Drehbuch und Regie von John Waters

Premiere: 5. November 2022 / besuchte Vorstellungen: 08.01., 03.03. & 30.04.2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Tonio Shiga (08.01. & 30.04.) / Hartmut Brüsch (03.03.)
Inszenierung: Toni Burkhardt / nach einem Konzept von Iris Limbarth
Choreografie: Sabine Arthold
Bühne: Britta Lammers
Kostüme: Heike Korn
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Jedes kleinere Mehr-Sparten-Haus kennt diese Probleme bei der Besetzung eines Musicals aus dem hauseigenem Ensemble: Der Sopran kann wunderbar singen aber weniger gut tanzen. Der Schauspieler spielt sich ´nen Wolf, hat´s aber nicht so mit dem Singen. Und der Ballett-Tänzer kann nichts außer tanzen, tanzen und nochmals tanzen. Hinzu kommt ein in die Jahre gekommener Opernchor, dessen Mitglieder auch für die div. Nebenrollen herhalten müssen. Und das Philharmonische Orchester schmachtet sich zwar durch Puccini & Co., doch alles, was nach den 60er Jahren komponiert wurde, gilt als schnöde Populärkultur. Mit Biegen und Brechen würde man so noch eine halbwegs solide „My Fair Lady“ auf die Bretter zimmern, doch der Intendant schielt auf die neueren Werke des Genres, die vor Pop, Jazz und Soul nur so strotzen. Das Stadttheater Bremerhaven kennt diese Probleme…

NICHT! Hier formte Regisseur Toni Burkhadt gemeinsam mit Choreografin Sabine Arthold aus den hauseigenen Künstler*innen der unterschiedlichen Sparten in Kombination mit Gästen ein so homogenes Ensemble, dass sich die scheinbaren Schwächen zu Stärken wandelten. Burkhardts Inszenierung setzt auf Tempo: Leerlauf scheint hier nicht existent. Dafür sorgt er für fließende, beinah filmartige Übergänge. Doch er erlaubt seinem Ensemble auch die leisen, emotionalen Momente, die zum Kreieren glaubhafter Charaktere so wichtig sind. Arthold setzt in ihren tänzerischen Bewegungsabläufen auf zeittypische Elemente der Sixties. Sie lässt die Nicht-Tänzer*innen neben den Profis sehr gut aussehen. Dank ihrer gelungenen Choreografie bilden die Künstler*innen aus den unterschiedlichen Sparten eine homogene Einheit. Abgerundet zu einem gelungenen Gesamtkonzept wird die Inszenierung durch das wandlungsfähige Bühnenbild von Britta Lammers, in dem die Künstler*innen in den herrlich bunten Retro-Kostümen von Heike Korn agieren dürfen.

Doch nun: WELCOME TO THE 60’s!

Baltimore 1962: Die pummelige Schülerin Tracy Turnblad lebt mit ihrer übergewichtigen Mutter Edna, die aufgrund ihrer Figurprobleme alle ihre Träume und Hoffnungen aufgegeben hat, und ihrem Vater Wilbur, der einen schlecht laufenden Scherzartikelladen besitzt, sehr einsam. Ihre einzige echte Freundin ist die Außenseiterin Penny Pingleton, die von ihrer Mutter permanent unterdrückt und bevormundet wird. Tracys größter Traum ist es, in der Corny-Collins-Show mitzutanzen, der angesagtesten Show des Lokalfernsehens, in der nur die beliebtesten Teenager der Stadt tanzen. Außerdem hat sie sich vorgenommen, die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl zu gewinnen. Während ihre Mutter skeptisch ist und Angst hat, dass ihre Tochter wegen ihres Aussehens verspottet wird, unterstützt ihr Vater sie und macht ihr Mut, dass man seine Träume verwirklichen soll. Als sie dank ihrer Hartnäckigkeit und ihres Selbstbewusstseins tatsächlich an der Show teilnehmen darf, wird sie – gerade wegen ihres Aussehens und ihrer Natürlichkeit – über Nacht zum Vorbild für viele Teenager, die sich mit ihr identifizieren. Sie verliebt sich in den Star der Show, den jungen Sänger Link Larkin, der auf seinen großen Durchbruch wartet und darum eine kamerataugliche Zweck-Beziehung mit der arroganten Amber von Tussle hat. Durch ihre neugewonnenen Freunde Seaweed, seiner kleinen Schwester Inez und deren Mutter Motormouth Maybelle erfährt Tracy von den vielfältigen Repressalien, denen farbige Menschen ausgesetzt sind. Ihre neue Berühmtheit nutzt sie zu einer Kampagne gegen die Trennung von Schwarzen und Weißen in der Corny-Collins-Show, was Amber von Tussle und ihre Mutter Velma zu verhindern versuchen. Dann geht die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl in ihre entscheidende Runde. Amber von Tussle ist siegessicher, doch in letzter Sekunde taucht Tracy auf und wendet – mit Unterstützung ihrer Eltern und Freunde – die Wahl zu ihren Gunsten…!


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Ich glaube, ich durfte auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven noch nie ein so großes Ensemble erleben, das sich aus Künstlern aller Sparten incl. Gäste zusammensetzte: Da waren die wunderbaren Tänzer*innen des Balletts, die agilen Sänger*innen des Opernchores und die entzückenden Kids des Kinderchores. Einem Chor der griechischen Antike gleich sorgten Louisa Heiser, Sharon Isabelle Rupa und Nicole Rushing als The Dynamites verführerisch rotgewandet für einen authentischen Motown-Sound. Schauspieler Karsten Zinser lieferte ein kleines humoristisches Kabinettstückchen als selbstverliebter Corny Collins. Iris Wemme-Baranowski überzeugte als rustikale Gefängnisaufseherin ebenso wie als psychopathische Prudy Pingelton. Sydney Gabbard warf sich als quirlige Penny Pingleton mit Leidenschaft in die Arme ihres Seaweed, den Malcom Quinnten Henry mit geschmeidigem Körper und ebensolcher Stimme zum Leben erweckte. Vanessa Weiskopf gefiel in der liebenswerten Rolle der kleinen Schwester Inez. Getoppt wurden die beiden allerdings durch ihre Bühnenmutter Motormouth Maybelle: Debrorah Woodson verkörpere diese Rolle schon bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Köln und hat sie so sehr verinnerlicht, dass jede Geste, die Mimik und jedes Wort ganz natürlich erschienen. Den Song Ich weiß, wo ich war gestaltete sie zu einer berührenden Hymne, die das Publikum für einen Moment still innehalten ließ, bevor Woodson mit einem frenetischen Applaus belohnt wurde.

Mezzo Boshana Milkov als Velma von Tussle sonderte mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit ihre rassistischen Plattitüden ab. Bei der Interpretation der Songs, die sie mit Grandezza darbot, spürte man deutlich ihre Liebe zum Jazz. Ganz als Mini-Me einer übermächtigen Mutter schlüpfte Schauspielerin Julia Lindhorst-Apfeltahler in die Rolle der Amber von Tussle und ließ hinter der schönen Fassade des blonden Dummchens einen willensstarken (nur leider fehlgeleiteten) Geist durchblitzen. Beiden Künstlerinnen gelang das Kunststück, den jeweiligen Part nicht eindimensional böse erscheinen zu lassen, sondern auch den schrägen Humor aus der Rolle herauszukitzeln.

Tenor Andrew Irwin schmachtete sich als umschwärmter Teeny-Star Link Larkin hingebungsvoll durch seine Songs und amüsierte mit überkandidelten Star-Attitüden, indem er z. Bsp. immer wieder seine Haartolle kokett zurück warf. Doch sobald die Scheinwerfer erloschen waren, kam der sympathische Junge von Nebenan zutage, der seine Zweifel und Ängste nicht verbergen konnte, und in den sich Tracy verständlicherweise verlieben musste.

Seit 1988 beschäftige ich mich sehr intensiv mit dem Genre Musical: Einige Werke haben für mich einen herausragenden Stellenwert und sich einen besonderen Platz in meinem Herzen erobert. Da verspüre ich immer, wenn ich ins Theater gehe, eine gewisse Unsicherheit aus Angst, die jeweilige Inszenierung würde diesem Werk nicht gerecht werden. Ähnlich geht es mir mit einigen Rollen, die oberflächlich das pure Entertainment versprechen, aber unter der glitzernden Oberfläche eine wichtige Botschaft transportieren. Eine dieser Rollen ist Zaza aus LA CAGE AUX FOLLES, die andere Rolle ist Edna aus HAIRSPRAY. Beiden Rollen ist gemein, dass ein Mann in Frauenkleider schlüpft: Es besteht durchaus die Versuchung, dem „Affen Zucker zu geben“ und dem Klamauk zu frönen. Oder die Rolle wird wertschätzend behandelt, ohne dass die unterhaltenen Aspekte vernachlässigt werden. Regie und Darstellung wandeln da auf einem schmalen Grat zwischen Trash und Ernsthaftigkeit. Die Fallhöhe kann dabei enorm sein.

Voller Erleichterung spürte ich schon bei ihrem ersten Erscheinen, dass Edna hier am Stadttheater Bremerhaven bei Regisseur und Darsteller in den allerbesten Händen ist. Ein respektvolles Raunen gepaart mit einem überraschten Auflachen waren im Publikum zu vernehmen, als Bass Ulrich Burdack (O-Ton: „ein 2 Meter großer 3 Zentner-Mann“) zum ersten Mal hinter dem Bügelbrett in Erscheinung trat. Burdack verzichtete wohltuend auf eine übertriebene Feminisierung in der Stimme: Er blieb seiner Stimmlage Bass treu, was in manchen Dialogen zur Erheiterung des Publikums führte. Seine Edna ist eine Matriarchin, die pragmatisch die Geschicke der Familie lenkt. Von ihren eigenen Träumen hat sie sich verabschiedet. Dabei wirkt sie durchaus nicht verbittert: Das Leben hatte eben anderes mit ihr vor, und mit diesem Leben hat sie sich arrangiert. Und so bügelt und wäscht sie sich „eine Wölfin“ zum Wohle ihrer Lieben. Doch tief in ihrem Inneren versteckt sich sowohl die Revoluzzerin, die Ungerechtigkeiten vehement mit vollem Körpereinsatz bekämpft, als auch das junge Mädchen, das nach wie vor in ihren Wilbur verliebt ist. Schauspieler Kay Krause bildet zu Ulrich Burdacks Edna einen wunderbaren Gegenpart: Sein Wilbur ist ein ältlicher Harlekin, der sich seine kindliche Freude an den Kuriositäten in seinem Scherzartikelladen (und des Lebens) bewahrt hat, dem Schicksal vorbehaltlos gegenübertritt und seine Edna bedingungslos so liebt wie sie ist. Das gemeinsame Duett Du bist zeitlos für mich entpuppte sich als rührende Liebeserklärung, bei dem Burdack und Krause munter das Tanzbein schwangen, sich ihrer Liebe versicherten und voller Stolz auf ihre Tochter Tracy blickten.

Sopranistin Victoria Kunze begeisterte mich schon in so mancher Rolle des Opern-Repertoires und sang dort die Koloraturen ihrer Partien immer makellos. Als Tracy nahm sie ihre klassische Stimme bescheiden zurück, doch brillierte in den Songs auch in den höchsten Tönen. Zudem tanzte sie sich mit überschäumender Energie die Seele aus dem Leib und gestaltete ihre Rolle mit einer überzeugenden Natürlichkeit, gepaart mit einer immensen Freude am Spiel, die sich über den Orchestergraben hinweg auf das Publikum übertrug. Ihre Tracy Turnblad ist ein wahrer Sonnenschein mit dem Herz am rechten Fleck. Bravo!

„Bravo!“ möchte ich auch dem musikalischen Leiter Tonio Shiga zurufen, der das Philharmonische Orchester zur Höchstleitung anheizte und für einen süffigen Sound sorgte. Die mitreißende Musik mit ihrer Mischung aus R&B, Motown und Rock’n’Roll bahnte sich aus dem Orchestergraben heraus ihren Weg zuerst ins Ohr über das Herz direkt in die Füße, um dort für ein permanentes Wippen zu sorgen. Auf meinem Gesicht nistete sich ein seliges Dauergrinsen ein, und ich konnte mich beim fulminanten Schlussapplaus dem Ruf des Ensembles nur anschließen:

YOU CAN’T STOP THE BEAT!


Im Stadttheater Bremerhaven wird noch bis zum Ende der Saison reichlich HAIRSPRAY versprüht – und das alles mit viel Witz und Esprit!!!

[Musical] Alan Menken – DER KLEINE HORRORLADEN / Stadttheater Bremerhaven

Musik von Alan Menken / Buch und Gesangstexte von Howard Ashman / nach dem Film von Roger Corman und dem Drehbuch von Charles Griffith / Deutsch von Michael Kunze / in einer Textfassung von Peter Hilton Fliegel und Jörg Steinberg

Premiere: 25. Februar 2022/ besuchte Vorstellung: 22. April 2022

Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus


Musikalische Leitung: Jan-Hendrik Ehlers
Inszenierung: Jörg Steinberg
Bühne: Fred Pommerehn
Kostüme: Susanne Füller
Choreografie: Andrea Danae Kingston

Eine Inszenierung wurde zum Kult: Als sich am 23. Januar 1993 der Vorhang zum ersten Mal für „Der kleine Horrorladen“ im Stadttheater Bremerhaven hob, konnte wohl niemand ahnen, dass dieses Musical ein Publikumsmagnet über zwei Spielzeiten sein und dem Theater ständig ausverkaufte Vorstellungen bescheren würde. In der Regie von Manfred Repp tobten damals Dirk Böhling als Seymour, Harriet Kracht als Audrey sowie die Musical-Ladies Angela Lachnit (auch Choreografie), Bettina Meske und Lynne Williams als Gossen-Supremes über die Bühne. Puppenspieler Friedo Stuck erweckte Audrey II zum Leben, der Jazz-Sänger Emo Phillips seine soulige Stimme lieh. Kay Krause (nach wie vor im Ensemble des Hauses) demonstrierte seine Wandelbarkeit in div. Nebenrollen, und der noch junge und unbekannte Christoph Maria Herbst zeigte als Orin, das schon damals eine Menge Comedy in ihm steckte. Insgesamt 6 Mal pilgerte ich nach Bremerhaven, und es war immer wieder ein Fest…!

Mushniks Blumenladen in der heruntergekommenen Skid-Row läuft schlecht – kaum Kundschaft und dazu noch unfähiges Personal. Handlanger Semour sorgt mit seiner Tapsigkeit für eine Schneise der Verwüstung, und Verkäuferin Audrey versucht erfolglos ihre Blessuren zu verdecken, die ihr ihr sadistischer Zahnarzt-Freund Orin Scivello zufügt. Als dann die drei Straßen-Gören Crystal, Chiffon und Ronette penetrant vor dem Laden herumlungern und auch noch die letzten Kunden verscheuchen, sieht Mr. Mushnik sich gezwungen, den Laden zu schließen. Auf Drängen von Audrey zeigt Seymour ihm eine seltsame Pflanze, die er vor einiger Zeit auf dem Blumengroßmarkt einem alten Chinesen abgekauft hat. Dieses Gewächs wirkt so bizarr abartig, dass Mushnik nicht glaubt, dass sie irgendjemanden in den Laden locken könnte. Doch kaum steht die Pflanze, die Seymor aus Verehrung zu seiner Kollegin „Audrey II“ genannt hat, im Schaufenster, klingelt die Ladenglocke unaufhörlich, und Aufträge über Aufträge trudeln ein. Dummerweise benötigt Audrey II zum Wachsen und Gedeihen einen ganz besonderen Dünger: Blut! Seymour fühlt sich darum nicht nur seit Tagen etwas schwindelig sondern auch reichlich blutleer. Doch je mehr die Pflanze wächst, umso größer wird sein Hunger, bis ihr die paar kläglichen Tropfen aus den Fingern ihres Pflegers nicht mehr genügen. Sie will mehr, viel mehr! Seymour, dem einerseits der Erfolg zu Kopf gestiegen ist und andererseits das Leiden seiner angebeteten Audrey durch den brutalen Orin nicht länger ertragen kann, lässt sich durch die Schmeicheleien der Pflanze zu einer Gräueltat animieren. Nachdem Orin aufgrund eines Defekts seiner Lachgasmaske jämmerlich erstickt ist, zerteilt Seymour ihn in mundgerechte Häppchen für sein unersättliches Gewächs. Doch der Appetit von Audrey II wird dadurch nur kurzfristig gestillt: Sie will nicht nur mehr! Sie will alles…!!!


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„Der kleine Horrorladen“ war diesmal in der Schauspiel-Sparte verortet, und so waren alle Rollen mit Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, die durch 4 Tänzer*innen unterstützt wurden. So gab es rein vom Darstellerischen her auch wenig zu bemängeln: Richard Feist gab einen quirligen Seymour mit enormen Bewegungstalent.  Marsha Zimmermann legte ihre Audrey deutlich weniger als dummes Blondchen an und verzichtete wohltuend auf das Lispeln. Frank Auersbachs Mr. Mushnik strotze vor rustikalem Charme. Marlene Jubelius, Sabine Barthelmeß und Juschka Spitzer boten als die drei Gossen-Gören eine solide Leistung. Abräumer des Abends waren allerdings Dominik Lindhorst-Apfelthaler, der sowohl als Orin als auch in div. Nebenrollen komödiantische Kabinett-Stückchen kredenzte, sowie Henning Bäcker, der als personifizierte „Audrey II“, mit diabolischem Blick und im blutroten Anzug gewandet, die Befriedigung seiner perversen Gelüste genüsslich ausspielte.

Dumm nur, dass in einem Musical zwangsläufig gesungen wird – gesungen werden muss, da es sonst die Bezeichnung „Musical“ nicht verdiente. Und hier liegt eine der großen Schwachstellen dieser Produktion: Schauspieler*innen sind nicht zwangsläufig gute Sänger*innen, und eine Sprechpassage wird anders aufgebaut als ein Song. So klangen die Gesangseinlagen nicht nur disharmonisch, weil sie wenig aufeinander abgestimmt waren bzw. ich den Eindruck hatte, dass wenig aufeinander gehört wurde, sondern taten mir manchmal sogar in den Ohren weh. Einzig Henning Bäcker konnte hier auch gesanglich überzeugen. Erschwerend kam hinzu, dass die Songtexte im englischen Original vorgetragen wurden – für mich unverständlich, da es eine wunderbare Übersetzung von Michael Kunze gibt.

Zudem wirkte die Regie von Jörg Steinberg auf mich merkwürdig hektisch: Die Schauspieler*innen agierten wie aufgezogen, mussten manchmal in einem ordentlichen Tempo die Szenen spielen, dass dabei zwangsläufig die Emotionen auf der Strecke blieben, und es mir als Zuschauer schwer fiel, mich mit den Figuren zu identifizieren und mit ihnen mitzufühlen. Leider erschloss sich mir auch nicht, warum der Regisseur gemeinsam mit Dramaturg Peter Hilton Fliegel die vorhandene Textfassung überarbeitete und dieses kurzweilige Trash-Musical mit Passagen aus Shakespears „Macbeth“ bzw. Goethes „Faust“ „anreicherte“. Steinberg hebt die Figuren so auf eine elitäre Ebene. Beinah wirkt es, als wollte er es vermieden, dass die Rollen sich entwickeln können. Vieles erscheint oberflächlich, plakativ und beinah zu clean für mich: die adretten (optisch durchaus ansprechenden) 60er Jahre-Kostüme incl. Frisuren, der ordentlich verteilte Müll auf der Vorderbühne, die glänzenden Mülltonnen ohne Patina. Einige Szenen wirken verwirrend uninsziniert, so als hätte der Regisseur seinen Darsteller*innen zugerufen „Improvisiert mal…!“, so z.Bsp. beim Song „Mushnik and Son“, bei dem die beiden Darsteller hinter den Tänzern und somit aus dem Fokus des Publikums verschwinden.

Apropos Tanz: Andrea Danae Kingston hat an diesem Hause in der Vergangenheit schon einige exzellente Choreografien erstellt, (u.a. in der letzten Spielzeit für das Musical Chicago). Doch hier wirkten ihre Tanzszenen oft recht uninspiriert (…oder durfte sie nicht mehr zeigen?), die die grandiosen Tänzer eher unterforderten. Auch hier hatte ich häufig den Eindruck von „Improvisiert mal…!“. Dabei gab es durchaus zwei, drei ganz und gar wunderbare Beispiel, wo eine Nummer durchchoreografiert war und Musical-Zauber verbreitete, u.a. bei „Somewhere That’s Green“, wenn Audrey vom kleinen Glück im Grünen träumt und parallel zwei Paare (Alicia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Renan Carvalho und Tanaka Lionel Roki) dies im Tanz umsetzen. Und warum der Regisseur eine Rausschmeißer-Nummer wie „Mean Green Mother From Outer Space“ nicht zum fulminanten Dance-Act kürt, sondern das gesamte Ensemble nur über die Bühne spazieren lässt, um überall kleine Audrey II-Ableger zu verteilen, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Apropos Audrey II: Hm! Ach, ich mag auch nicht mehr meckern! Nur so viel: In der alten Fassung war Audrey II deutlich eindrucksvoller.

Last but not least: Die Band unter der Leitung von Jan-Hendrik Ehlers war der absolute Hammer und spielte ebenso perfekt die rockigen Songs mit entsprechendem Druck wie die zarten Töne der Balladen. Toll!!!

Das Publikum fühlte sich durch die Show hör- und sichtbar gut unterhalten und geizte zum Schluss nicht mit reichlichem Applaus. Auch für mich bot diese Inszenierung durchaus unterhaltsame Momente. Doch Kultstatus, an dem ich mich auch noch in 30 Jahren erinnere, wird sie leider für mich nicht erreichen.


Audrey II wird nun auch in Bremerhaven ihrer Kundschaft das Gruseln lehren:  DER KLEINE HORRORLADEN ist noch bis Mitte Juni 2022 geöffnet!

[Musical] Benny Andersson & Björn Ulvaeus – CHESS / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Benny Andersson & Björn Ulvaeus / Liedtexte von Tim Rice / basierend auf einer Idee von Tim Rice / neue deutsche Textfassung von Kevin Schroeder

Premiere: 30. Oktober 2021 / besuchte Vorstellungen: 19.11.2021, 23.01. & 08.06.2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni (19.11. & 08.06.) / Tonio Shiga (23.01.)
Inszenierung: Andreas Gergen
Spielleitung & Choreografie: Till Nau
Bühne & Video: Momme Hinrichs (fettFilm)
Kostüme: Conny Lüders
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Es gibt sie eben diese musikalischen Werke, die beim Ansehen/Anhören die Emotionen zum Überlaufen bringen. Und jede*r von uns hat da eine ganz persönliche Hit-Liste. Ich liebe die eher klassischen bzw. symphonischen Musicals: Wenn am Ende der „West Side Story“ Tony gemeinsam mit Maria ein paar Noten von „Somewhere“ haucht, um dann in ihren Armen zu sterben, breche ich in Tränen aus. Bei „Les Miserablés“ beginne ich spätestens bei Eponines Tod hemmungslos zu schluchzen, kralle mich in die Hand meines Gatten und beruhige mich erst wieder auf dem Weg Richtung Heimat. Doch auch mein Mann hat seine Emotions-Musicals: So stellt sich jedes Mal eine Gänsehaut bei ihm ein, wenn Graf Krolock seine „Unstillbare Gier“ besingt. Doch feuchte Augen bekommt er nur bei einem einzigen Musical: CHESS. So war der November 2021 ein einziges Freudenfest für ihn. Als bekennender ABBA-Fan der ersten Stunde kam nicht nur ein neues Album nach 40 Jahren auf dem Markt – Nein! – auch „unser“ Stadttheater Bremerhaven hatte das erste Musical der beiden ABBA-Männer auf den Spielplan gesetzt. So saßen wir am 19. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit lieben Freunden im Zuschauersaal, und diesmal war es mein Mann, der während der Vorstellung seine Hand in meine krallte – mehrmals!!!

Bei der Schachweltmeisterschaft in Merano kämpft der amtierende Weltmeister der Amerikaner Frederick Trumper gegen den Russen Anatoly Sergievsky um die Schachkrone. Begleitet wird Trumper von seiner Managerin und Partnerin Florence Vassy, die im Budapester Aufstand von 1956 ihren Vater verloren und so ein ambivalentes Verhältnis zum russischen Regime hat. Trotzdem kommen sie und Sergievsky sich näher, als sie versucht – nachdem Trumper das Turnier wütend verlassen und somit einen Skandal ausgelöst hat – die Wogen zu glätten. Am nächsten Tag wird das Turnier unter dem strengen Blick des Schiedsrichters fortgesetzt, aus dem Anatoly Sergievsky als Sieger hervorgeht. Trotz strengster Überwachung durch Alexander Molokow, dem Chef der russischen Delegation, kann er die Gunst der Stunde nutzen und in den Westen überlaufen, um dort mit Vassy zu leben. Ein Jahr später muss Sergievsky sich in Bangkok einem neuen sowjetischen Herausforderer stellen. Dabei trifft er zwangsläufig auf bekannte Gesichter. Trumper arbeitet mittlerweile als TV-Kommentator, der ihn während eines Interviews mit provakanten Fragen aus der Reserve lockt. Auch Molokov ist vor Ort und scheut keine Mittel, um Anatoly Sergievsky zu einer Niederlage zu bewegen. Dabei manipuliert er hemmungslos die Mitmenschen, als würde er Schachfiguren über ein Spielfeld schieben. So lockt er Vassy mit dem Versprechen, ihren verschollenen Vater wiederzusehen, und lässt Sergievskys Ehefrau Svetlana nach Bangkok einfliegen, um sie und die gemeinsamen Kinder als Druckmittel einzusetzen. Anatoly Sergievsky trifft seine Entscheidungen: Er gewinnt abermals das Turnier, verlässt aber Vassy, um mit seiner Frau nach Russland zurückzukehren.

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Nobody’s Side, Pity The Child, Heaven Help My Heard, Anthem, Someone Else’s Story, I Know Hím So Well und natürlich das vielleicht bekannteste Stück One Night in Bangkok, dazu grandiose Chorpartien wie Merano und Hymn To Chess: An der exzellenten Musik lag es nie, warum dieses Musical eher selten gespielt wurde. Vielmehr lag das „Problem“ eher im etwas sperrigen Buch begründet, in dem manche Handlungsstränge unmotiviert und die Beweggründe der Personen wenig nachvollziehbar schienen. Doch Benny Andersson und Björn Ulvaeus waren sich nie zu schade, auf ihre Werke einen kritischen Blick zu werfen, um sie dann nochmals zu überarbeiten. So machte auch CHESS einige Veränderungen durch: Songs wurden umgestellt, flogen komplett aus der Show, oder wurden neu hinzugefügt. Die Handlung wurde gestrafft, und statt den Schwerpunkt auf die Politik-Parabel mit Ost-West-Konflikt zu belassen, lenkten sie den Fokus mehr auf die (zwischen)menschlichen Komponenten. Alle diese Maßnahmen haben dem Werk durchaus gutgetan, trotzdem bedarf es ein schlüssiges Regie-Konzept, um CHESS aus dem anfänglichen Korsett eines Konzept-Albums zu lösen.

Unter der neuen Intendanz von Lars Tietje gönnt sich das Stadttheater Bremerhaven genau diesen „Luxus“ und geht eine Kooperation mit dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin ein, wo diese Inszenierung in der letzten Spielzeit Premiere hatte und leider nach nur wenigen Vorstellungen dem Lockdown zum Opfer fiel. „Never change a winning team!“ wird sich Tietje vielleicht gedacht haben und lockte gemeinsam mit dem Produktions-Team auch zwei der Hauptdarsteller in die Seestadt an der Weser. Musical-Magier Andreas Gergen schafft mit seinem Team ein so stimmiges Konzept, bei dem die einzelnen Teile aus Regie, Choreografie, Bühne, Kostüme und Video-Projektionen zusammen mit den heimischen Kräften nahtlos ineinander übergehen und so ein perfektes Ganzes bilden. Dabei liefert Gergen dem Publikum durchaus die große Show, setzt aber ebenso wichtige Akzente im Schauspiel: Durch kleine Gesten oder nur einem Blick bis zum großen dramatischen Ausbruch wird so das Handeln der Protagonist*innen für die Zuschauer nachvollziehbar gemacht. Dies gelingt natürlich nur, da ihm talentierte Darsteller*innen zur Verfügung stehen.

Femke Soetenga (Florence Vassy) und Marc Clear (Anatoly Sergievsky) wiederholen ihre Parts aus Schwerin und sind ein eingespieltes Team ohne routiniert zu wirken. Soetenga gestaltet ihren Part zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzweifel sehr geschmackvoll. Glücklicherweise hat sie viel zu singen, so kamen wir oft in den Genuss, ihrer wunderschönen Stimme lauschen zu dürfen. Marc Clears Sergievsky ist alles andere als der unterkühlte Stratege. Vielmehr porträtiert er Sergievsky als mitfühlenden Charakter mit einer empfindsamen russischen Seele, was er auch gesanglich famos auszudrücken versteht. Tobias Bieri gibt den Frederick Trumper mit überheblicher Arroganz – ein Jungspund, der unter der scheinbar makellosen Oberfläche seine Narben verbirgt:  Bei Pity The Child sorgt er mit seiner fulminanten Pop-Stimme für Gänsehaut.

Sowohl optisch wie auch stimmlich scheint Ulrich Burdack der Vorzeige-Molokow zu sein. Er strahlt – trotz scheinbar äußerer Ruhe – eine enorme Gefährlichkeit aus. Zudem verfügt er über einen vollen, flexiblen Bass, den er mal voluminös, mal verführerisch-lockend zum Klingen bringt. Patrizia Häusermann (Svetlana) gelingt das Kunststück, eine Nebenrolle durch Spiel und Gesang aufzuwerten. Sie harmoniert ganz wunderbar mit Soetenga bei I Know Hím So Well. Bei Someone Else’s Story zeigt sie ihr Können als klassisch-geschulte Liedsängerin und kann mit ihrer sensiblen Interpretation berühren. Svetlana ist für mich in diesem Musical die einzig wahre tragische Figur, da ihr eine Wahlmöglichkeit verwehrt bleibt: Alle anderen Protagonist*innen können für sich selbst entscheiden. Sie ist – vom Ehemann im Stich gelassen – einem Regime ausgeliefert, das droht, ihr die Kinder zu nehmen. Häusermann lässt mit nuanciertem Spiel ihre Rolle mit Würde trauern, ohne eine innere Stärke vermissen zu lassen.

Da wir nun schon zum wiederholten Mal diesem musikalischen Schachturnier beiwohnten, hatten wir das Glück, zwei unterschiedliche Sänger in der Rolle des Schiedsrichters sehen zu dürfen. Während MacKenzie Gallinger (19.11. & 08.06.) eher der ruhende Pol im Spiel war, der beständig die Fäden in der Hand behielt, gestaltete Benjamin-Edouard Savoie (23.01.) den Part deutlich exaltierter und amüsierte mit beinah „monk“schen Allüren.

CHESS braucht einen voluminösen Chor! CHESS bekommt ihn: Unter der versierten Leitung von Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernandez bringen die Damen und Herren die Hymnen überwältigend zu Gehör und gefallen ebenso in mancher kleinen Nebenrolle. Unterstützung erhalten die Solisten zusätzlich durch ein variables Pop-Trio (bestehend aus Sydney Gabbard, Carmen Danen und Konstantin Busack), das sie in ihren Solis stimmstark begleitet und auch in div. Mini-Rollen überzeugen. Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Davide Perniceni bzw. Tonio Shiga musiziert absolut auf dem Punkt und meistert gekonnt den Spagat zwischen Pop, Rock und Symphonie. Apropos Spagat: Das ich ein Fan der Ballettcompagnie des Stadttheaters Bremerhavens bin, habe ich schon mehrfach betont, und auch in diesem Fall wurde ich nicht enttäuscht: Ob als kecke Trachtengruppe, als lebensgroße Schachfiguren oder als Bangkoks Liebesdiener*innen – die Tänzer*innen beherrschen ihre Kunst zwischen Sinnlichkeit, Ästhetik und Athletik perfekt.

Wer großartiges Musik-Theater abseits der großen Metropolen sehen möchte, der MUSS sich auf den Weg nach Bremerhaven machen!

Epilog: Seit einigen Tagen bekomme ich von meinem Gatten – völlig unvermittelt und ohne Zusammenhang zum vorangegangenen Gespräch – Bemerkungen wie „CHESS kann man (!) sich auch durchaus ein drittes Mal ansehen!“ zu hören. Ich schwanke noch mit mir, ob ich das Gehörte geflissentlich ignoriere oder mich an den PC setzte, um Eintrittskarten zu reservieren. Mal schauen…! 😉


So saßen wir am 19. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit zwei lieben Freunden im Zuschauersaal, wie wir es vor über 2 Jahren schon für Sunset Boulevard taten, und wo sich folgendes zugetragen hatte. Während sie durchaus schon das eine oder andere Musical gesehen hatte, war er diesbezüglich eher unbeleckt und schien somit beinah überwältigt vom Orchester, von den Sänger*innen und der Inszenierung. In der Pause fragte er mich nach meiner Meinung als „Musical-Kenner“, und ich bestätigte ihm seinen positiven Eindruck. Voller Enthusiasmus postete er diesen auf Instagram und bekam von einer „lieben“ Freundin prompt folgende Rückmeldung „Schön, dass es dir gefällt, aber es gibt bessere Inszenierungen.“ …und danach schwärmte sie von einer wahrhaft fulminanten „Sunset Boulevard“-Inszenierung, die sie vor einigen Jahren mit einer namhaften Musical-Diva in der Hauptrolle gesehen hatte. Ernüchtert zeigte mir mein Freund diese (wenig empathische) Nachricht, und ich bestätigte ihm „Ja, irgendwo auf der Welt gibt es bestimmt eine bessere Inszenierung.“ Aber: Alles sollte in einer realistischen Relation betrachtet und bewertet werden. Wir befinden uns weder am Broadway noch im West End oder in Hamburg, wo eine Eintrittskarte der besseren Kategorie mein Portemonnaie locker um 180,– bis 200,– Euro erleichtert. Im Stadttheater Bremerhaven sitze ich für ca. 1/5 dessen, was eine Eintrittskarte für ein sogenanntes großes Musicals kostet, auf den besten Plätzen. Und dieses Haus schafft es immer wieder auf’s Neue mit den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten eine sehens- und hörenswerte Inszenierung auf die Beine zu stellen.

Natürlich gefällt auch mir in „meinem“ Stadttheater nicht jede Inszenierung gleichermaßen gut. Natürlich könnte auch ich an Kleinigkeiten herumkriddeln. „Suchet, so werdet ihr finden!“ doch die Suche nach Negativem empfinde ich als extrem ermüdend. Auch ein ständiges miteinander Vergleichen würde mir die Freude am Augenblick, den Genuss des Moments verleiten. Darum lautet(e) mein Credo:

Schön locker bleiben und die kulturelle Vielfalt in meiner Region (wert)schätzen und genießen.


Das Erstlings-Musical CHESS der beiden ABBA-Männer steht bis zum Ende der Saison auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven. Hingehen, anschauen & genießen…!!!

[Musical] John Kander – CHICAGO / Stadttheater Bremerhaven

Musik von John Kander / Gesangstexte von Fred Ebb / Buch von Fred Ebb und Bob Fosse  nach dem Stück Chicago von Maurine Dallas Watkins / Deutsch von Erika Gesell und Helmut Baumann / mit englischen Songs und deutschen Dialogen

Premiere: 19. September 2020/ besuchte Vorstellung: 27. September 2020

Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Felix Seiler
Choreographie: Andrea Danae Kingston
Bühne: Hartmut Schörghofer
Kostüme: Julia Schnittger
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Roxie Hart ist ihre Ehe mit dem soliden aber unscheinbaren Amos überdrüssig und stürzt sich in Affären. Als ihr Liebhaber Fred Casely sie abservieren will, greift sie zum Colt und schießt ihn über den Haufen. Denn: Eine Roxie Hart verlässt man(n) nicht so einfach. Eine Roxie Hart ist ein Mädchen mit Ambitionen. Sie will die große Show auf einer noch größeren Bühne, so wie ihr Idol Velma Kelly, die sie prompt im Frauenknast kennenlernt. Velma wartet auf ihren Prozess: Sie hat ihren Ehemann im Bett mit ihrer Schwester erwischt und in einem Anfall von geistiger Unzurechnungsfähigkeit (ihre Verteidigungsstrategie vor Gericht) beide kurzerhand getötet. Nun wartet sie im Gefängnis unter der eisernen Führung von Mama Morton auf ihre Verhandlung. Die Presse ist begeistert von den mörderischen Mädels: Besonders Klatschkolumnistin Mary Sunshine bringt immer neue haarsträubende Enthüllungen, die ihr von Staranwalt Billy Flynn charmant-skrupellos in die Feder diktiert werden. Geschickt manipuliert er die Presse und prägt so die öffentliche Meinung. Das Ergebnis: Velma und Roxie werden freigesprochen und starten gemeinsam eine fulminante Karriere auf der Vaudeville-Bühne.

Musical in Zeiten von Corona: Geht das überhaupt? Blechernd klingt das Orchester aus den Boxen. Roxie liegt in ihrem Bett, wartet auf ihren Liebhaber und träumt von ihren Idol Velma Kelly, die plötzlich aus dem Schrank hüpft und gemeinsam mit drei Tänzern zu „All That Jazz“ Roxie und ihren Lover umtanzt. Statt großer Shownummer sah dies für mich eher nach Kammerspiel aus. Statt mit einem grandiosen „BÄHM!“ begann die Show mit einem verhaltenen „Pling!“. Ich stellte mir ängstlich die Frage „Geht das nun so weiter?“.

Nein! Es ging nicht so weiter! Erst der Mord an Fred Casely ermöglicht es Roxie, der Enge ihrer kleinen, unbedeutenden Welt zu entfliehen. Und so öffnet sich die Bühne wie die Büchse der Pandora und präsentiert das Spiel um Mord, Korruption und Manipulation: Spätestens beim „Cell Block Tango“ hatte ich sie, meine große Show!

Musical in Zeiten von Corona: Geht das überhaupt? Ja, es geht, und dazu auch noch ganz großartig! Selten griffen die Künste von Regie, Choreografie, Bühne und Kostüm so ineinander wie in dieser Inszenierung. Regisseur Felix Seiler machte aus der Not eine Tugend und zauberte aus den vorgegebenen 90 Minuten Spielzeit ohne Pause eine straffe Inszenierung, in der ein Highlight vom nächsten Highlight abgelöst wird. Fein differenziert zeigte sich seine Personenführung und überraschte mit ungewöhnlichen und witzigen Ideen. Großes Lob: Trotz Kürzung bzw. Straffung der Handlung hatte ich nicht das Gefühl, dass mir wesentliche Inhalte gefehlt hätten. Andrea Danae Kingston bot eine kreative und anspruchsvolle Choreografie und sorgt so – trotz Abstandsregelung – für abwechslungsreiche Bewegungsabläufe. Seiler und Kingston scheinen ein eingespieltes Team zu sein: Häufig war nicht nachvollziehbar, wo die Regie aufhörte und die Choreografie begann. Das Bühnenbild von Hartmut Schörghofer schafft stimmige Spielebenen und unterstützt die vorgegebene Distanz zwischen den Darstellern ohne an Atmosphäre einzubüßen. Die ansprechenden Kostüme von Julia Schnittger glänzen im 20er-Jahre-Look mit einem Touch Modernität.

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Vier von den sechs Hauptrollen sind mit Musical-Profis besetzt: Valentina Inzko Fink gibt das naive Blondchen Roxie Hart mit einer gehörigen Prise Durchtriebenheit. Die Velma Kelly von Jasmin Eberl trieft vor ordinärem Selbstbewusstsein, lässt durchaus hinter der taffen Fassade Verletzlichkeit durchschimmern. Beide Ladies punkten mit grandiosen Stimmen, tänzerischem Können und einer Menge Sex-Appeal. Frank Winkels als Billy Flynn ist ein absoluter WoMenizer (😉) mit markantem Charme und markiger Stimme. Mona Graws Mama Morton ist als Oberaufseherin im Frauengefängnis Puff- und Beichtmutter in Personalunion mit dem Herz am rechten Fleck.

Aber auch die hauseigenen Kräfte aus dem Opernensemble verstehen sich in diesem Musical zu behaupten: MacKenzie Gallinger gibt seinen trotteligen, bemitleidenswerten Amos Hart mit nuancierter Stimme. Victoria Kunze glänzt mit Spielfreude und tiriliert sich bravourös durch die Koloraturen der Mary Sunshine. Die Damen vom Opernchor überraschen herrlich überdreht beim „Cell Block Tango“, während ansonsten der Opernchor dank der versierten Leitung von Mario Orlando El Fakih Hernández aus dem Off für stimmlich-stimmige Unterstützung sorgt.

In dieser Inszenierung, die aus einem Guss erscheint und voller Höhepunkte steckt, fällt es schwer, einzelne Leistungen hervorzuheben. Doch ich muss einfach das wunderbare Ballett-Ensemble loben, dass die Choreografie von Andrea Danae Kingston mit einer absoluten tänzerischen Brillanz umsetzte und auch in ihren Solis glänzte: BRAVO!

Corona-bedingt sitzt das (reduzierte) Orchester nicht im Graben vor der Bühne sondern wird live von der großen Probenbühne in den Zuschauerraum übertragen und dies mit einer für mich überraschend guten Ton-Qualität. Davide Perniceni führt seine Musiker mit straffen Dirigat und sorgt so für einen satten Music Hall-Sound.

Auch wenn ich bei einem Blick in den Zuschauersaal mit den massiv reduzierten Plätzen kurzzeitig einen Kloß im Hals verspürte und mir die Augen feucht wurden, konnte dies meine Freude an diesem ersten Theaterbesuch nach Monaten des Vermissens nicht mindern: Es geht weiter! HURRA!

So verließ ich nach der Show beschwingt das Theater und machte mich gut gelaunt einen Song pfeifend mit meiner Begleitung auf den Weg ins nahe Theater-Restaurant: Lasst uns (besonders in diesen Zeiten) das Leben genießen!


Wer einen Blick hinter die Kulissen des Musicals Chicago werfen möchte, dem kann ich nur wärmstens den Beitrag von Ilka D’Alessandro, Leiterin Marketing und Öffentlichkeitsarbeit am Stadttheater Bremerhaven, ans Herz legen. Zudem gibt es auf musicalzentrale ein lesenswertes Mini-Interview mit Regisseur Felix Seiler zu entdecken.


Bis zum Ende des Jahres sind vorerst weitere Aufführungstermine für CHICAGO am Stadttheater Bremerhaven geplant. Hoffen wir, dass es danach mit den mörderischen Mädels weitergeht…!

[Musical] Elton John – DER KÖNIG DER LÖWEN / Stage Thea­ter im Hafen in Hamburg

Musik von Elton John / Liedtexte von Tim Rice / zusätzliche Musik & Liedtexte von Lebo M, Mark Mancina, Jay Rifkin, Julie Taymor und Hans Zimmer / Buch von Roger Allers und Irene Mecchi / Deutsch von Michael Kunze

Premiere: 2. Dezember 2001 / bisher besuchte Vorstellungen: 1. Juli 2003, 14. Juli 2005, 10. Oktober 2007, 14. Februar 2010 / zuletzt besuchte Vorstellung: 9. Februar 2020 / Stage Thea­ter im Hafen in Ham­burg


Musikalische Leitung: Bradley Nyström
Inszenierung: Julie Taymor
Choreographie: Garth Fagan
Bühne: Richard Hudson

Kostüme, Masken & Puppen: Julie Taymor & Michael Curry


Orkantief „Sabine“ fegte über Deutschland, somit auch über das Zelt-Theater im Hamburger Hafen und brachte die Lampenkonstruktion an der Decke des Foyers zum Schwingen. Wir saßen dort voller Vorfreude und erwarteten den Beginn der Vorstellung. 10 Jahre waren seit unserem letzten Besuch vergangen: 10 Jahre, in denen so viel passiert ist…! Das Leben hat sich verändert, vielmehr mein/ unser Leben hat sich verändert. Hier im Hamburger Theater im Hafen war auf einer beruhigenden Art alles beim Alten, und doch wieder aufregend neu…!

Die Schamanin Rafiki lässt ihren Ruf ertönen, die Sonne geht über der Steppe auf und die ersten Tiere erscheinen auf der Weite der Bühne. Mein Mann und ich sitzen gebannt nebeneinander, halten uns an den Händen, und Tränen rinnen über unsere Wangen. Für uns war und ist dies die emotionalste Eröffnungsszene, die wir je live auf einer Bühne erleben durften. Regisseurin Julie Taymor hat mit dieser Bühnenfassung des Disney-Filmklassikers eine Großtat vollbracht. Bei bisher keinem anderen Musical habe ich so deutlich die Handschrift einer einzelnen Künstlerin gespürt. Mutig hat sie den Film aus seinem Korsett befreit und der Geschichte für die Bühne eine neue Identität verpasst. Mit klassischen Bühnentricks und -effekten, mit dem Spiel von Perspektiven, dem Einsatz von Masken und der Kunst des Puppenspiels erschuf sie die Welt der Savanne zu neuem Leben,…

…und das weltweite Publikum staunt und strömt nun schon seit Jahrzehnten in die Vorstellungen: Seit über 18 Jahren begeistert der König der Löwen in Hamburg seine Zuschauer, und so stehen dort seit über 18 Jahren Abend für Abend talentierte Künstler*innen auf der Bühne und buhlen um die Gunst der Menschen im Auditorium.

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Rafiki war bei Thulisile Thusi in besten Händen: Stimmgewaltig eröffnete sie die Show und stattete die Rolle mit Wärme, Weisheit und einem Hauch Verrücktheit aus. Mhlekazi Mosiea war zwar ein eher schmächtiger Mufasa, zeigte im Zusammenspiel mit seinem Bühnensohn aber sehr viel Herzlichkeit und berührte mit einem gefühlvoll gesungenem „Sie leben hier“. Die Puppe des Haushofmeisters Zazu wurde durch Joachim Benoit kunstvoll zu Leben erweckt, der diesen hyperaktiven Vogel geschickt mit sehr viel Situationskomik bedachte. Der Scar von Stefan Voigt war durchaus gemein und böse, wurde von ihm eher beiläufig gespielt. Gemeinsam mit seinen drei dusseligen Untergebenen, den Hyänen Shenzi, Banzai und Ed – dargestellt von Germaine Wilson, Simon Phezani Gwala und Sean Gerard, kam aber auch der Humor nicht zu kurz. Um die Sympathien der Zuschauer mussten sich Tobias Korinth als Timon und S’Thembiso Keith Mashiane als Pumba keine Sorgen machen: Beide Rollen sind per se dankbare Publikumslieblinge, das von den Darstellern auch gekonnt genutzt wurde. Gugu Zulu war eine aparte Nala und interpretierte mit warmer Stimme „Schattenland“. Simba wurde von Hope Main als ein vitaler, kraftstrotzender Jungspund porträtiert, der mit einem rührenden „Endlose Nacht“ auch Tiefe zeigte und gemeinsam mit Gugu Zulu ein entzückendes Leading-Paar bot. Für die meisten Darsteller*innen in diesem internationalen Cast ist Deutsch nicht die Muttersprache, und trotzdem überzeugten sie mit einer sehr deutlichen Aussprache. Viele Künstler der sprechenden Zunft sollten sich daran ein Beispiel nehmen, da vernuschelte Sätze gerade sehr hipp zu sein scheinen. Meinen größten Respekt haben bei solchen Produktionen immer die Kinder-Darsteller: Johnny als junger Simba und Loa als junge Nala waren absolut bezaubernd und meisterten ihre jeweiligen Parts mit einer immensen Spielfreude.

Zusammen mit großartigen Tänzern und Sängern, deren scheinbar unerschöpfliche Dynamik auf uns übersprang, boten die Künstler eine perfekte Show, die trotz aller Perfektion nicht routiniert wirkte sondern eine energetische Frische ausstrahlte – eine Leistung, die nach über 18 Jahren Open End an einem Standort nicht unbedingt selbstverständlich ist und somit meine Hochachtung verdient.

Dank Orkantief „Sabine“ war uns der Rückweg über die Köhlbrandbrücke verwehrt und so durften wir auf unserem Heimweg ganz neue Ecken vom Hamburger Hafen kennenlernen. Auf der Hinfahrt verspürten wir beim Passieren der Brücke einen Hauch von Wehmut: Vielleicht war dies unsere letzte Fahrt über die alte Köhlbrandbrücke. Das Schicksal dieses Wahrzeichens steht in den Sternen…!

Köhlbrandbrücke Hamburg.jpg


DER KÖNIG DER LÖWEN wird auch weiterhin im Stage Thea­ter im Hafen in Ham­burg gespielt!

[Musical] Frank Wildhorn – DER GRAF VON MONTE CHRISTO / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Frank Wildhorn / Buch und Songtexte von Jack Murphy / Orchestrierung und Arrangements von Kim Scharnberg und Koen Schoots / Deutsch von Kevin Schroeder

Premiere: 21. September 2019 / besuchte Vorstellung: 26. Oktober 2019

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Felix Seiler
Bühne & Kostüme: Hartmut Schörghofer
Choreographie: Andrea Danae Kingston
Fechtchoreographie: Jean-Loup Fourure
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Bombastisch wie eine Welle rollt die Musik vom Philharmonischen Orchester unter dem dynamischen Dirigat von Davide Perniceni aus dem Graben Richtung Publikum. Der Chor eröffnet mit einem dramatischen Sopran-Solo, und schon sind wir mitten im Intrigenspiel rund um den jungen Seemann Edmond Dantès, das im Original vom Romancier Alexandre Dumas erdacht wurde.

Eine schändlichen Intrige von Fernand Mondego, Gérard von Villefort und dem Baron Danglars, die alle selbstsüchtig aus persönlichen Beweggründen (Begierde, politisches Kalkül, Geldgier) agieren, trennt Edmond Dantè von seiner Angebeteten Mercédès. Er wird unschuldig zu lebenslanger Haft im Kerker Château d’If verurteilt. Mit der Hilfe seines Mitgefangenen, dem alten Abbé Faria gelingt ihm nach 14 Jahren die Flucht. Der sterbende Abbé verrät ihm das Versteck eines sagenhaften Schatzes auf der Insel Monte Christo. Ein Piratenschiff unter der Führung der Kapitänin Luisa Vampa bringt ihn dorthin. Mit einer neuen Identität als wohlhabender Graf von Monte Christo kehrt Dantè in seine Heimat zurück, um zu erkennen, dass seine große Liebe Mercédès mit seinem Widersacher Fernand Mondego unglücklich verheiratet ist. Deren gemeinsamer Sohn Albert steht kurz vor der Verlobung mit der reizenden Valentine. Die Freundschaft mit ihm nutzt der Graf von Monte Christo um sich seinen Widersachern zu nähern. Sein Spiel aus Rache und Richten beginnt…!

Komponist Frank Wildhorn hat sich im Laufe der Jahrzehnte einen Namen mit der Vertonung klassischer Stoffe (Jekyll & Hyde, The Scarlet Pimpernel, Cyrano de Bergerac, Carmen, Bonnie & Clyde) gemacht. Sein kompositorischer Stil passt auch hervorragend zu diesen Sujets und bietet eine Mischung aus symphonischen Klang und üppigen Chorsätzen, filmischen Underscore und emotionalen Balladen. Dabei liefert er immer wieder eine effektvolle Musik, die der Handlung durchaus dient, aber leider auch innerhalb seiner Werke austauschbar erscheint. Trotz aller Gefälligkeit gibt es kaum Melodien, die länger im Ohr bleiben. Auch in Bremerhaven ist er kein Unbekannter: In der Saison 2016/17 zeigte das Stadttheater eine moderne Inszenierung von „Dracula“ mit Anna Preckeler als Mina, Maximilian Mann als Jonathan Harker und Christian Alexander Müller in der Titelrolle.

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Regisseur Felix Seiler bietet mit Bühnenbildner Hartmut Schörghofer dem Publikum eine sensationelle Inszenierung. Seiler lotet mit seinem Ensemble die Beziehungen der Protagonisten zueinander aus und kreierte so eine dichte Inszenierung mit einer überzeugenden Personenführung. Er erlaubte sich den Spaß und versteckte kleine „Easter Eggs“ aus Film (Titanic) und Musical (The Phantom oft he Opera) in die Handlung (Zumindest war ich der Meinung, diese dort entdeckt zu haben!).

Vikrant Subramanian überzeugte in der Titelrolle mit klassischem Bariton, den er musical-like zurücknahm, um so mit flexibler Stimme zu glänzen. Auch darstellerisch hat er sich in den letzten Jahren zu einem „Leading Man“ des Hauses gemausert. Sein Widersacher Fernand Mondego wurde von Marco Vassalli beinah unangenehm schmierig verkörpert: In seinem dunkel-gefärbten Bariton schwang immer ein gehöriges Maß an Gefährlichkeit mit. Anna Preckeler glänzte als Gast (nach Dracula) wieder in einem Wildhorn-Musical, sei es als junge leidenschaftliche Frau oder als ältere verzweifelte Mutter, und bot auch gesanglich große Momente. Die größte Überraschung präsentierte allerdings Victoria Kunze in der Doppelrolle Luisa Vampa/ Valentine: Während sie die Piratenkapitänin rollendeckend robust-vulgär mit einem Hang zur Komik anlegte, gestaltete sie die Rolle der Valentine sehr zart mit lyrischem Sopran und emotionalem Spiel.

Seiler versteht es nicht nur seine Protagonisten sondern auch den Opernchor geschickt zu führen. Selten habe ich den Chor so spielfreudig und variabel erlebt. Mein besonderes Lob gilt hierbei den Damen, die nicht nur als Piratinnen und Ladies der feinen Gesellschaft gefielen: Auch als „Mädchen der Nacht“ waren sie ungewohnt kokett-frivol! Das Ballett des Hauses zeigte in der Choreografie von Andrea Danae Kingston sein Können und war weit mehr als „nur“ schmückendes Beiwerk, während Jean-Loup Fourure für die Einstudierung der rasanten Fechtchoreografie verantwortlich war.

Ein weiterer „Hauptdarsteller“ war das Bühnenbild von Hartmut Schörghofer: Er schafft auf der variablen Drehbühne immer wieder neue Spielebenen, arbeitet mit dem Wechsel der Perspektiven, bei denen auch Licht und Schatten eine besondere Bedeutung spielten, und nutzt alle Möglichkeiten der Bühnentechnik. Auf der rechten Bühnenseite wurden mit Hilfe von Vorhängen, Versatzstücken und dem geschickten Einsatz von Projektionen die unterschiedlichen Handlungsorte dargestellt. Die linke Bühnenseite sowie die spiralförmig ansteigende Drehbühne erschienen dagegen wie aus Stein: Auf der Drehbühne führten lange Kreidestriche in verschiedene Richtungen und wirkten wie Verbindungen innerhalb eines Beziehungsgefüges bzw. einer Figurenkonstellation. Die linke Wand war dafür übersät mit vielen kleinen Strichen, die die Tage/ Monate/ Jahre symbolisieren sollten, die Edmond Dantè in Château d’If verbrachte.

Es war erstaunlich und eine Freude zu erleben, wie sich aus allen Einzelteilen dieser Inszenierung ein großes, fulminantes Ganzes formte. Das Stadttheater Bremerhaven hat (wieder) nachdrücklich bewiesen, dass durchaus auch ein kleines Haus in der Lage ist, seinem Publikum exzellente Musical-Unterhaltung zu bieten.


DER GRAF VON MONTE CHRISTO kämpft noch bis zum Ende der Spielzeit um Rache und Gerechtigkeit.

[Musical] John Kander – CABARET / Stadttheater Bremerhaven

Buch von Joe Masteroff nach dem Stück Ich bin eine Kamera von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood / Gesangstexte von Fred Ebb / Musik von John Kander / Deutsch von Robert Gilbert / in der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker

Premiere: 23. Februar 2019/ besuchte Vorstellung: 8. März 2019

Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus


Inszenierung: Mark Zurmühle
Musikalische Leitung: Jan-Hendrik Ehlers
Choreographie: Andrea Danae Kingston
Bühne: Eleonore Bircher

Kostüme: Cornelia Schmidt


Willkommen, Bienvenue, Welcome!

Clifford Bradschaw tritt auf. Er ist Schriftsteller aus Amerika und auf dem Weg ins Berlin der Weimarer Republik, um dort im pulsierenden Leben der Großstadt endlich die Inspiration für seinen großen Roman zu finden. Auf der großen Leinwand flackern die ersten Bilder und formen sich zu Konturen: Clifford sitzt im Zugabteil und lernt den Devisenschmuggler Ernst Ludwig kennen, der ihm nicht nur eine Bleibe vermittelt sondern auch die Freundschaft anbietet. Clifford nimmt – trotz der Warnung des windigen Conférenciers – beides an,…

…und taucht am Silvesterabend des Jahres 1929 in die dekadente Welt dieser Metropole ein, lernt Nachtclub-Sängerin Sally Bowles kennen und lieben, sieht wie die zarte, späte Liebe seiner Wirtin Fräulein Schneider zum jüdischen Obsthändler Herr Schulz aufgrund der politischen Entwicklungen zerbricht und erkennt die Nationalsozialisten, die immer mehr Einfluss gewinnen, als Bedrohung der Freiheit des Einzelnen und als Zerstörung der Grundfeste der demokratischen Gesellschaft.

Harter Tobak für ein Musical…! „Cabaret“ wird im Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven darum auch unter „Schauspiel“ geführt. Und so sind die Hauptrollen (mit einer Ausnahme) aus dem Schauspielensemble besetzt. Zudem wurde auf das große Orchester verzichtet: Die Musik klingt in der Besetzung der 6-Mann-starken Band unter der Leitung von Jan-Hendrik Ehlers darum auch mehr nach Weill/ Brecht als nach Broadway-Sound.

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Während in anderen Inszenierungen das Hauptaugenmerk gerne eher auf Sally Bowles und dem Conférenciers liegt, steht hier der Schriftsteller Clifford Bradshaw im Mittelpunkt und rückt so das Musical näher an seine Vorlage, der Erzählung „Goodbye to Berlin“ von Christopher Isherwood. Henning Bäcker füllt diese Aufgabe bravourös aus. Er trägt diese anspruchsvolle Rolle, ist nicht nur Erzähler – Nein! – er ist der Chronist seiner Zeit: Nah genug, um betroffen zu sein/ fern genug, um ein krankes System zu erkennen! Bäckers Clifford Bradshaw bleibt, trotz aller Ambivalenz und sich den Verlockungen kurzfristig hingebend, das Gewissen des Stücks: Für ihn steht die Menschlichkeit über allem!

Die Sally Bowles von Dorothea Maria Müller (Gast und einziger Musicalprofi im Ensemble) erscheint anfangs als oberflächliches Flittchen, der Spaß (auch am Sex) und die eigene, klägliche Karriere wichtiger zu sein scheinen, als eine ernste Beziehung oder die angespannte politische Atmosphäre. Erst im 2. Akt ändert sich diese Haltung, als Sally schmerzhaft erkennen muss, dass sie selbst für ihr Tun (oder auch Nicht-Tun) verantwortlich ist. Hier hat Dorothea Maria Müller die Gelegenheit nicht nur gesanglich sondern auch schauspielerisch zu glänzen: Ihre Konfrontation mit Cliff ist voller Dramatik und geht unter die Haut. Zudem verfügt Müller über eine tolle Stimme und bringt die Song-Klassiker dank ihrer individuellen Phrasierung zum Blühen.

Sascha Maria Icks wurde unlängst in einem Artikel eines Boulevard-Magazins als „Grande Dame“ des Stadttheater Bremerhaven bezeichnet. Soweit würde ich nicht gehen: Klingt dies doch zu sehr nach nahender Rente, und davon ist sie weit entfernt. Im Gegenteil: Auch in der Rolle des Conférenciers zeigt sie wieder ihre Kunst. Ihr Conférencier ist ein anpassungsfähiges Wesen (sexuell/ politisch) voller Ironie und der diabolische, scheinbar unberührbare Strippenzieher, dem menschliche Schicksale oder politische Entwicklungen „am A…“ vorbei geht. Selten wird diese Rolle von einer Frau verkörpert: Dabei ist sie mit ihrer Ambivalenz, Androgynität und sexueller Flexibilität auf kein Geschlecht festgelegt. Icks ist in guter Gesellschaft: Bei der deutschsprachigen Ur-Aufführung 1970  am Theater an der Wien wurde diese Rolle von der großartigen Blanche Aubry verkörpert.

Isabel Zeumer und Kay Krause als Fräulein Schneider und Herr Schulz glänzen nicht: Sie schimmern nur zart inmitten dieses ganzen grellen Tands und Flitters und berühren darum im Spiel umso mehr. Gerade die Zerstörung dieses kleinen Glücks der älteren Menschen berührt beinah mehr als die große Dramatik zwischen Sally und Cliff.

Jakob Tögel ist schon rein optisch der Vorzeige-Deutsche: groß und blond. Er legt die Rolle des Ernst Ludwig anfangs beinah zu sympathisch an. Er ist der attraktive Verführer, der scheinbar ungefährlich, dafür sexuell sehr aufgeschlossen, das Vertrauen seiner Mitmenschen gewinnt, um dann später die Fratze des Nationalsozialisten zu zeigen.

Mark Zurmühle ist eine aufwühlende Inszenierung gelungen: Der erste Akt plätschert scheinbar belanglos vor sich hin. Das Amüsement steht im Vordergrund. Alles scheint banal! Umso mächtiger treffen das Publikum die Entwicklungen des 2. Aktes und machen betroffen – ähnlich wie die politischen Entwicklungen unserer Gegenwart: erst in Sicherheit wiegen, dann zuschlagen! Einzige (kleine) Wermutstropfen dieser Inszenierung waren für mich die farblos wirkende Choreografie von Andrea Danae Kingston und die wenig individuelle Zeichnung der Kit-Kat-Girls und -Boys (Vielleicht auch so gewollt?).

Eine absolut sehenswerte „Cabaret“-Inszenierung, bei der Schauspiel vor Show steht!

Life is a Cabaret!


CABARET wird am Stadttheater Bremerhaven noch bis zum Ende der Spielzeit 2018/19 gezeigt.

[Musical] Sherman Brüder – MARY POPPINS / Stage Thea­ter an der Elbe in Ham­burg

Musik & Liedtexte von Richard M. und Robert B. Sherman / neue Songs & Liedtexte von  George Stiles und Anthony Drewe / Buch von Julian Fellows / nach den Kinderbüchern von P. L. Travers / Deutsch von Ruth Deny und Wolfgang Adenberg

Premiere: 22. März 2018 / besuchte Vorstellung: 13. Januar 2019 / Stage Thea­ter an der Elbe in Ham­burg


Musikalische Leitung: Roun Zieverink
Inszenierung: Richard Eyre & Sir Matthew Borne
Choreographie: Sir Matthew Borne & Stephen Mear

Bühne & Kostüme: Bob Crowley


Zugegeben: Ich hatte ein wenig Bammel – Bammel, dass es mir nicht gefallen könnte! Ich liebe den Film mit Julie Andrews, Dick Van Dyke, David Tomlinson und Glynis Johns seit meiner Kindheit: Die Melodien kann ich heute noch mitsingen! So saß ich hier im Stage Theater an der Elbe in Hamburg mit einen wundervollen Blick auf den Hafen incl. Elb-Philharmonie und wartete (an-)gespannt auf den Beginn der Vorstellung!

Vorweg: Es war die perfekte Show! – …vielleicht ein wenig zu perfekt?

Obwohl die Handlung vom bekannten Film abwich und einige neue Szenen eingefügt wurden, so erkannte ich doch deutlich „meine“ Mary Poppins wieder. Das Bühnenbild war phantasievoll und farbenfroh: So faltete sich das Heim der Familie Banks auf wie ein Puppenhaus, der graue Park verwandelte sich in Sekunden zu einem bunten Blütenmeer, und zum Tanz der Schornsteinfeger über den Dächern von London qualmten die Schornsteine ihren Dunst in den Sternenhimmel.

„S U P E R C A L I F R A G I L I S T I C E X P I A L I G E T I S C H!“

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Foto: Stage Entertainment

Das Ensemble überzeugte in vielen kleinen Rollen, und die Übergänge liefen präzise wie ein Uhrwerk: Roimata Tempelton als Miss Andrews (herrlich schrill und boshaft), Alex Avenell als Mrs Brill (ruppig mit Herz), Noah Wili als Robertson Ay (liebenswert trottelig) und Maik Lohse als Admiral Boom (ssstolperte übern ssspitzen Ssstein). Hervorheben möchte ich gerne Kaatje Dierks, die mich als Vogelfrau in ihrem gleichnamigen Song sehr bewegte.

Maria Danaé Bansen als Mary Poppins war eine aparte Erscheinung mit sehr schöner Stimme, ließ allerdings ein wenig Persönlichkeit oder auch „Star-Quality“ vermissen (Achtung: Leiden auf hohem Niveau!). Andrea Luca Cotti gab einen witzigen, jungenhaften Bert mit großem Bewegungstalent. Meine Hochachtung galt den Kinderdarstellern Ava und Liam als Jane und Michael Banks, die vom Anfang bis zum Ende in beinah jeder Szene präsent waren und diese Aufgabe mit Bravour meisterten.

Doch die heimlichen Hauptrollen waren für mich George und Winifred Banks, da diese die größte Entwicklung im Stück machten. Livio Cecini und Julia Lißel waren so wunderbar aufeinander eingespielt: Die Geste des einen hatte eine Reaktion der anderen zur Folge…! Dieses berührende Zusammenspiel zweier Schauspieler sorgte bei mir für feuchte Augen.

Dank dieser Beiden wurde eine perfekte Show wahrlich „perfekt“!

„Alles, was wir wollen, kann passieren!“


MARY POPPINS wird bis zum 18. August 2019 im Stage Thea­ter an der Elbe in Ham­burg gespielt!