[Oper] Richard Strauss – DER ROSENKAVALIER / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Richard Strauss / Libretto von Hugo von Hofmannsthal / in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 4. Mai 2024 / besuchte Vorstellung: 10. Mai 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann / Hartmut Brüsch (10.05.)
INSZENIERUNG & BÜHNE Julius Theodor Semmelmann
KOSTÜME Carola Volles
DRAMATURGIE Markus Tatzig
CHÖRE Mario Orlando El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
ASSISTENZ BÜHNE & KOSTÜM María del Mar Sánchez Expósito
ORGANISATION & STIMMBILDUNG KINDERCHOR Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Mahina Gallinger


Da saßen wir am Montag vor der Premiere bei der „Kostprobe“ im oberen Rangfoyer, blickten auf die kleine Bühne und staunten: Die Kostümabteilung hatte dort zur Anschauung drei Schneiderpuppen mit traumhaften Roben drapiert. Mit Ehrfurcht betrachteten wir die detailreiche und filigrane Arbeit, bevor Regisseur Julius Theodor Semmelmann sich den Fragen von Dramaturg Markus Tatzig stellte, die uns Einblicke in den Entstehungsprozess von DER ROSENKAVALIER gaben. Es ist Semmelmanns erste Regiearbeit, und er schwärmte in den höchsten Tönen über die Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Bremerhaven. „Musste“ er sich als Bühnenbildner und Ausstatter bisher den Wünschen und Vorstellungen anderer Regisseure fügen, durfte er hier „in die Vollen gehen“ und ein Rokoko-Ambiente par excellence kreieren, wie er uns auch anhand von Bühnenbildentwürfen und Arbeitsproben vermittelte.

Die Frage aus dem Auditorium, ob sich ein solch großer Aufwand für nur 5 Vorstellungen überhaupt lohne, konterte er charmant mit „Es ist doch alles da!“. Oftmals können die Kolleg*innen in den Werkstätten ihr Können und ihre Kunst nicht gänzlich zeigen, da der verantwortliche Regisseur dies für seinen Inszenierungsstil nicht einfordert. Semmelmann berichtete von der Kollegin aus dem Malersaal, der vor Freude die Tränen kamen, da sie nun endlich einmal zeigen durfte, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte. Auch bei den üppigen Kostümen griff man auf Stücke aus dem Fundus zurück und änderte diese entsprechend um, bzw. bei der Neu-Anfertigung wurden passende Stoffe verwendet, die schon vorhanden waren. Stichwort: Nachhaltigkeit!

Auch bzgl. einer Kuriosität in DER ROSENKAVALIER, die der Entstehungszeit der Oper geschuldet aber heute nicht tolerierbar ist, konnte Semmelmann uns beruhigen: Es wird kein Mohr auftreten. Stattdessen flattert ein kleiner Putto namens Cupiderl durch die Szenerie.

Eingedeckt mit diesen und vielen weiteren Informationen schlichen wir leise in die Sitzreihen des Rangs, um der laufenden Probe von DER ROSENKAVALIER zu lauschen…

Feldmarschallin Fürstin Werdenberg vergnügt sich in ihrem Schlafzimmer mit ihrem jungen Geliebten Octavian. Ihr Techtelmechtel wird durch das überraschende wie taktlose Eintreffen ihres Vetters, den Baron Ochs auf Lerchenau jäh unterbrochen. Octavian gelingt es im letzten Moment in die Kleider einer Kammerzofe zu schlüpfen. Dadurch entgeht er zwar den verdächtigen Blicken des Barons, muss stattdessen aber seine plumpen Annäherungsversuche über sich ergehen lassen. Um seine ständigen Geldnot zu lindern, gedenkt Baron Och die Tochter des wohlhabenden und frischgeadelten Herrn von Faninal zu ehelichen. Die Feldmarschallin schlägt vor, dass Octavian (von dessen Anwesenheit der Baron nichts ahnt) als Bräutigamsführer – den sogenannten Rosenkavalier – auftreten soll. Als Baron Ochs das Bild des Erwählten betrachtet, ist er von der Ähnlichkeit mit der Kammerzofe überrascht und vermutet, dass sie eine uneheliche Schwester des Grafen sei. Auch an diesem Tag strömen Massen an Bittsteller in die Gemächer der Feldmarschallin in der Hoffnung auf Zuwendung. Nach einer anstrengenden Audienz bleibt sie allein in ihren Gemächern zurück. Müde und erschöpft fühlt sie sich alt. Ihre Jugend scheint sie zunehmend zu verlassen, und so fürchtet sie, dass sie ihrem jungen Liebhaber bald nicht mehr genügen wird. Im Haus des Herrn von Faninal erwartet seine Tochter Sophie die Ankunft des Rosenkavaliers. Octavian erscheint in dieser Funktion, überreicht ihr die silberne Rose und verliebt sich augenblicklich in sie. Auch Sophie ist von dem charmanten Jüngling angetan. Kurz darauf stößt Baron Ochs dazu, der Manieren vermissen lässt und sich gegenüber Sophie ungehobelt verhält. Sophie fühlt sich von ihrem zukünftigen Ehemann regelrecht abgestoßen. Als sich Octavian und Sophie heimlich küssen, werden sie von Valzacchi und Annina, zwei italienischen Intriganten, verraten: Der Baron schenkt dieser Angelegenheit keine große Aufmerksamkeit, schließlich nimmt er es selbst mit der Treue nicht so genau. Doch Octavian fordert ihn auf, von Sophie abzulassen. Im Handgemenge verletzt er den Baron mit seinem Degen. Sophies Vater greift ein und droht, sie auf ewig ins Kloster zu schicken, sollte sie sich der Heirat verweigern. Hier kann nur eine List helfen: Kurz darauf überreicht Annina dem Baron einen Brief, durch den ihn die „Kammerzofe“ der Feldmarschallin zu einem geheimen Treffen in einem Wirtshaus einlädt. Der Baron hofft auf ein amouröses Techtelmechtel und nimmt die Einladung nur allzu gerne an. Allerdings haben Octavian, Valzacchi und Annina ihm eine Falle gestellt: Während der Baron gegenüber der „Kammerzofe“ wieder aufdringlich wird, erscheint die verkleidete Annina mit diversen Kindern im Schlepptau und behauptet, der Baron wäre der Vater und hätte sie und die Kinder schändlich im Stich gelassen. Der Baron gerät so sehr in Rage, dass sogar die Polizei einschreiten muss. In diesem Tumult tauchen – wie verabredet – Sophie und ihr Vater auf. Herrn von Faninal ist entsetzt über das Verhalten von Baron Ochs und verweigert ihm die Ehe mit seiner Tochter. Doch erst die eintreffende Feldmarschallin kann endgültig für Ruhe sorgen: Sie beschwichtigt die Polizei und sorgt dafür, dass der lüsterne Baron verschwindet. Ihr selbst bleibt nichts anderes übrig, als Octavian für die Hochzeit mit seiner geliebten Sophie freizugeben.

12 Tage später: Ich hatte mir sagen lassen, dass die Premiere glanzvoll über die Bühne gegangen war. Die Kritiker*innen waren danach nur voll des Lobes. Nun saß ich (an-)gespannt im Zuschauersaal des Stadttheaters Bremerhaven und wartete auf den Beginn der 2. Aufführung. Gespannt: Ich war voller Vorfreude, auf das, was ich in wenigen Minuten zu sehen und zu hören bekomme sollte. Angespannt: Mehrfach hatte ich vorab versucht, mich dem Werk rein akustisch anzunähern und bisher keinen befriedigenden Zugang bekommen. Da halfen mir bedauerlicherweise auch keine liebgemeinten Insider-Tipps. Und so tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass ich vielleicht erst die theatralische Umsetzung benötigte, um so Verknüpfungen zwischen der Handlung, den Personen und der Musik herstellen zu können.

Von der Musik würde es überreichlich geben, wie mir ein staunender Blick in den Orchestergraben offenbarte. Dicht an dicht saßen die Musiker*innen neben- und hintereinander und wirkten, als hätte jemand mit ihnen Tetris gespielt, um jede noch so kleine Lücke auszufüllen. Der Dirigent erschien und hob seinen Taktstock. Schwelgerisch tobten Strauss’ Kompositionen aus dem Orchestergraben über den Bühnenrand zum Publikum hinauf in den Rang. Der rote Samtvorhang öffnete sich langsam und offenbarte eine Inszenierung mit Humor, Witz und Ironie, einen wahrgewordenen Opern-Traum, eine bunt-schillernde Seifenblase, einen überschäumenden Theater-Zauber voller Raffinesse, Stil und Klasse…


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Der rote Samtvorhang öffnete sich, und eine fiebrige Faszination nahm von mir Besitz und sollte auch den ganzen Abend über nicht weichen. Ja, ich war fasziniert – allerdings weniger von der Musik. Ich habe durchaus schon Abende im Musiktheater erlebet, da tröstete mich die Musik über so manchen inszenatorischen Firlefanz des modernen Regietheaters hinweg. Hier war es genau umgekehrt.

Sorry, Richy, doch ich fürchte, wir werden musikalisch nicht die besten Freunde werden.“

Julius Theodor Semmelmann kann sein ursprüngliches Metier nicht verleugnen (und sicher will er es auch nicht). Genauso akribisch und bis ins kleinste Detail ausgefeilt wie er seine Bühnenbilder gestaltete, ging er auch bei seiner ersten Regie-Arbeit vor: Nichts schien dem Zufall überlassen, jede Geste und jeder Blick wirkte begründet, jede Handlung war wohldurchdacht. Da meinte ich sogar ein paar neckische „Easter Eggs“ mit Bezug zum Haus bzw. zur Stadt, die vielleicht nur Kennern auffallen könnten (wenn überhaupt), zu entdecken: Flatterte zwischen all den exotischen Vögeln in die Voliere der Feldmarschallin nicht auch eine Möwe herum? Und steckte unter der rosa gepuderten Perücke vom Frisör nicht Chefmaskenbildner Henrik Pecher höchstpersönlich, um der Feldmarschallin die Haare hingebungsvoll zu ondulieren?

Dabei wirkte es auf mich, als hätte Semmelmann sich bei seinem Konzept von den Motiven „Aufbruch“ und „Vergänglichkeit“ leiten lassen. Da haben wir auf der einen Seite die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg, die – zwar noch jung an Jahren – ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst ist und deren Halten an bestehenden gesellschaftlichen Normen nicht nur Bürde sondern auch Schutz darstellt. Auch Herr von Faninal klammert sich an diese gesellschaftlichen Normen, da sie Ansehen, Ruhm und ein sicheres Leben für sich und seine Familie bedeuten. Baron Ochs auf Lerchenau ist es egal, von welcher Gesellschaft er schmarotzt, da er sich überall und nirgends zurechtfinden würde. Auf der anderen Seite stehen die jungen Leute Sophie und Octavian, die bereit sind, in eine neue, noch unsichere Welt aufzubrechen. Sophie ist da deutlich wagemutiger als Octavian: Allzu gerne hätte sie den Geliebten an ihrer Seite, doch sie wäre nicht bereit, ihre Prinzipien abermals einem Mann unterzuordnen. Octavian steht zwischen der alten und der neuen Welt und fühlt sich hin und her gerissen zwischen seiner Zuneigung (oder ist es doch eher Loyalität?) zur Fürstin und seiner frischen, reinen Liebe zu Sophie. Er muss sich entscheiden…!

Auch an den Kostümen von Carola Volles ist die Haltung bzw. Entwicklung der Figuren wahrnehmbar: Da überraschen zwischen all der farbigen Üppigkeit des Rokokos moderne Kostümteile und Accessoires und lassen so Rückschlüsse auf die Haltung der Figuren zu – seien es die sportiven Trekkingschuhe an den Füßen von Ochs oder die feschen Hipster-Sonnenbrillen bei Valzacchi und Annina. Besonders auffällig wird es beim Schlussbild, in dem die Feldmarschallin und Herr von Faninal im vollen Ornat auftreten, Octavian einen Mix aus Kleidungsstücken der unterschiedlichen Welten trägt und Sophie das Rokoko-Gewand abgestreift hat und sich als moderne und selbstbewusste junge Frau präsentiert. Ansonsten gelang Volles das bewundernswerte Kunststück, dass sie für jede aber wirklich absolut jede Figur das passende Kostüm kreierte, das den jeweiligen Charakter gar trefflich und höchst individuell porträtierte.

Selbst die Bühnenbilder werden Opfer des Motivs „Vergänglichkeit“: Wie ein Kaleidoskop sich dreht und immer wieder neue Bilder zusammensetzt, so dreht sich auch die Bühne. Das Boudoir der Feldmarschallin aus dem 1. Akt wird in seine Einzelteile zerlegt und für die Wirtschaft im 3. Akt wieder „anders“ zusammengefügt. Die üppige Pracht im 2. Akt besteht „nur“ aus bemalten Leinwänden, zwischen denen sich – einer Spieluhr gleich – die Möbelstücke in Position drehen und somit zeigen „Es ist alles nur Fassade!“. Dabei kann das Publikum stets an jedem Bühnenbild vorbei in den hinteren Bühnenraum schauen, so als wollte Semmelmann betonen, dass in dieser Gesellschaft mehr „Schein“ als „Sein“ vorherrscht.

Die Bühne war mit Solisten, Opernchor, Kinderchor und Extrachor nebst Statisterie reichlich bevölkert, und so befürchte ich beinah, dass ich bei meiner nun folgenden Lobhudelei mit Sicherheit jemanden vergessen werde: Ich bitte vielmals um Entschuldigung!

Die Chöre waren nicht nur zahlenmäßig groß, auch stimmlich und darstellerisch waren sie mächtig und gestalteten ihre jeweiligen Partien mit Agilität und Spielfreude. Katharina Diegritz war eine entzückend flatterhafte „Jungfer Marianne Leitermeisterin“ und nahm zudem die reizenden Kinder des Kinderchores sanft unter ihre Fittiche. Miloš Bulajić stattete den „Sänger“ mit den wichtigsten Attributen seiner Zunft aus: große Geste und tenoralem Schmelz. Andrew Irwin und Eva Maria Summerer füllten die Buffo-Partien „Valzacchi“ und „Annina“ mit Charme und Esprit aus. Marcin Hutek amüsierte als „Herr von Faninal“ mit Ahnungslosigkeit und wirrer Überforderung. In der stummen Rolle „Cupiderl“ tobte Laura Gabrielli voller überschäumender Clownerie über die Bühne und war Amor, Hermes und Luzifer in Personalunion. Philipp Mayer gab den „Baron Ochs auf Lerchenau“ mit lakonischem Witz und einer gehörigen Portion Bauernschläue. Bis ins tiefste Register ließ er seinen voluminösen Bass ertönen, ohne an Flexibilität einzubüßen.

Doch an diesem Abend standen abermals die drei Künstlerinnen auf der Bühne, die schon im vergangenen Jahr gemeinsam in BREAKING THE WAVES für Furore sorgten:

Victoria Kunzes schlanker, wendiger Sopran erklang silbrig-fein bis in die höchsten Töne. Ihre Sophie erduldet nicht sittsam, was über ihren Kopf hinweg entschieden wird. Vielmehr zeigt sie eine deutliche Haltung mit klaren Moralvorstellungen. Doch durch die Hülle der Jugend lässt Kunze auch eine gefestigte Ernsthaftigkeit schimmern, die der Figur die nötige Tiefe verleiht.

Signe Heibergs Stimme scheint über ein schier unendliches Volumen zu verfügen, das sie aber nur äußert geschmackvoll und mit einem feinen Gespür für Nuancen einsetzt. Ihre Feldmarschallin ist ganz Menschenfreundin, die voller Güte und Fürsorge auf die Ihren achtet. Doch sie ist nicht nur Herrscherin, sie ist auch Frau und weiß um ihre Vergänglichkeit. So zieht ein feiner Hauch von Melancholie und Traurigkeit durch Heibergs Rollenporträt.

Titelgebend und somit in der Partie, die die Fäden in der Hand behält, brilliert Boshana Milkov mit ihrem warmen, üppigen Mezzo mit samtenen Timbre. Bei ihr ist Octavian einerseits der Jungspund, der zum ersten Mal die Liebe überschwänglich kostet und beinah darin zu ertrinken droht. Gleichzeitig lässt Milkov die innere Zerrissenheit der Figur erahnen, die zwischen der Zuneigung zweier Frauen schwankt. Jede liebt er auf seine sehr individuelle Weise, und jede verdient seinen Respekt. Hier zeigt Milkovs Octavian eine charakterliche Reife, die allen anderen Männern in diesem Stück fehlt.

Und abermals ergänzten sich Victoria Kunze, Signe Heiberg und Boshana Milkov gar wunderbar in ihrem Zusammenspiel und vereinten ihre Stimmen ganz exquisite in einer berührenden Harmonie.

„Okay, Richy, das muss ich dir lassen: Die Final-Szene hast Du echt klasse hingekriegt!“

Da saß ich nun im Theater, lauschte dem Gesang dieser drei großartigen Künstlerinnen, ein Schauer strich über meine Haut, und eine erste Träne rann mir über die Wange. So schön…!

❤️


Wer nun die unbändige Lust verspürt, mehr von DER ROSENKAVALIER zu erfahren, der/die…

…lauscht den Worten von Regisseur  Julius Theodor Semmelmann,…

…kann den talentierten Bühnenmaler*innen dank dem Bericht Detailverliebt – die wundervolle Bühnenmalerei für „Der Rosenkavalier“ von Björn Gerken auf LOGBUCH BREMERHAVEN bei der Arbeit über die Schultern schauen,…

…oder lässt sich bei #angeklopft von Boshana Milkov und Marcin Hutek Interessantes zu ihren Partien berichten.


Hurtig, hurtig! DER ROSENKAVALIER lässt sich im Stadttheater Bremerhaven nur für einige wenige Vorstellungen im Mai in amouröse Abenteuer verstricken.

[Ballett] Alfonso Palencia – DIE VIER JAHRESZEITEN / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Alfonso Palencia / mit Musik von Antonio Vivaldi (recomposed by Max Richter) und Arvo Pärt

Premiere: 2. März 2024 / besuchte Vorstellung: 18. April 2024
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


CHOREOGRAFIE & INSZENIERUNG Alfonso Palencia
MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
BÜHNE & VIDEO Yoko Seyama
KOSTÜME Rosa Ana Chanzá
LICHT Thomas Güldenberg, Daniel Lang

CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Bobby M. Briscoe
DRAMATURGIE Alfonso Palencia, Torben Selk
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Florian von Zameck-Glyscinski


Ich wage mich hier mal an die These, dass DIE VIER JAHRESZEITEN von Antonio Vivaldi zu den bekanntesten Werken der Barock-Musik zählt. Selbst jemand, der eher wenig Klassik-affin ist, hat die eine oder andere Passage aus eines dieser Violinkonzerte schon gehört – und sei es nur als musikalische Untermalung zu irgendeinem Werbe-Spot.

Wie unschwer zu erkennen, hat Vivaldi sich bei seinen Kompositionen von den Klängen der Natur inspirieren lassen und so jeder Jahreszeit einen eigenen Klang, eine eigene Dynamik verliehen. Dabei imitieren die Instrumente die jeweiligen Töne aus der Natur, wie Wind und Sturm, aber auch Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten sind zu erlauschen.

Kaum ein Werk in der zeitgenössischen Musik wurde so wachen Ohres erwartet wie Max Richters Bearbeitung der Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi. Das 2012 erschienene Album war in 22 Ländern in den Klassikcharts, wurde über 3 Milliarden Mal gestreamt und untermalte viele Filme. Mit Respekt vorm Original hat die Lesart Richters nichts von Vivaldis Strahlkraft und Modernität verloren. Alfonso Palencia arbeitet Vivaldis Spiel zwischen Mensch und Natur heraus, kombiniert es mit der modernen Deutung Richters und denkt beides in der Bewegungskraft des Körpers weiter. Mit ausdrucksvoller Tanzsprache wird der Versuch unternommen, die Kräfte der Natur zu bezwingen und sich diese zunutze zu machen.

(Inhaltsangabe der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven entnommen.)

Es wirkte auf mich, als hätte Max Richter bei seiner Bearbeitung (bzw. „Re-Komposition“) von Antonio Vivaldis Werk Keile in das formale Konstrukt der bekannten Komposition getrieben. Er schien den Rahmen sehr bewusst aufzubrechen, um so Raum zu schaffen, damit er Neues hinzufügen konnte. Musikalische Brocken, die bei diesem Vorgang zu Boden gefallen waren, wurden teils von ihm aufgehoben und an anderer Stelle ans Werk angedockt, teils verblieben sie unbeachtet am Boden. Natur-Töne, die Vivaldi durch die Instrumente imitierte, wurden bei Richter via Audio-Datei zugespielt, und auch Industrieklänge kamen zum Einsatz.

Max Richter sagte, DIE VIER JAHRESZEITEN seien eines der ersten klassischen Musikstücke gewesen, die er gehört habe. Das Werk hätte jedoch durch häufige Verwendung in der Populärkultur seinen „Zauber verloren“. Deshalb habe er sich schließlich entschlossen, „eine total neue Version“ zu schreiben. (Quelle: Wikipedia)


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Dass ein klassisches Werk Eingang in die Populärkultur findet, spricht nach meiner Meinung eher für die meisterliche Qualität dieser Komposition. Dass eben genau dieses Werk für Trivialitäten „missbraucht“ wird, ist weder dem Werk noch dem Komponisten anzukreiden und nimmt in keiner Weise Einfluss auf die Qualität. Eine „Re-Komposition“ erscheint mir da recht überflüssig und entbehrlich.

So lauschte ich aufmerksam auf die Klänge, die aus dem Orchestergraben zu mir vordrangen. Davide Perniceni gelang es mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven die Versatzstücke bravourös miteinander zu verschmelzen. Und doch hätte ich ihm und den Musiker*innen – vor allem Franz Berlin als exzellenter Solist an der Violine – gewünscht, dass sie das Original-Werk hätten zu Gehör bringen dürfen. Trotz des hohen Alters wirkt Vivaldis Musik nach wie vor deutlich frischer, vitaler und beinah unschuldiger auf mich als die besagte verkopfte „Re-Komposition“.

Wie eine Art Entrée stellt Alfonso Palencia die Komposition Fratres von Arvo Pärts dem eigentlichen Hauptwerk voran. Die einfache Melodienfolge mit Streicher und Schlaginstrumente wirkte auf mich sehr ursprünglich, klar und beinah meditativ. Die Tänzer*innen bewegen sich aus einer Embryonalstellung heraus und recken sich gen Licht. Es entsteht der Eindruck, als wäre dies der Ursprung allen Lebens, das im Verlauf der Jahreszeiten einem stetigen Wandel ausgesetzt ist.

Als präsentes Symbol für das Vergehen der Zeit taucht bei DIE VIER JAHRESZEITEN immer wieder eine Sanduhr auf, die von einem Tänzer in Szene gesetzt wird und so den Fokus auf sich lenkt. Palencia setzt immer wieder konträre Bewegungen einander gegenüber: Da gibt es fließende, beinah schwebende Aktionen, die von rohen, abrupten Bewegungen abgelöst werden. Dann bewegen sich die Tänzer*innen wieder sehr synchron in einer Formation, um im nächsten Augenblick in einem choreografierten Chaos auszubrechen. Auch thematisiert Palencia den negativen Einfluss des Menschen (in der Gruppe, als Paar aber auch als Einzelner) auf die Natur, indem er u.a. einen Eisberg Block für Blog durch die Tänzer*innen auflösen lässt, die die einzelnen Brocken über die gesamte Bühne verteilen. Abermals hat Palencia bei der Kreation seiner Choreografie sehr fein auf die Musik gehört und macht so deutlich, dass sich der Wechsel der Jahreszeiten aus einer Vielzahl an Gegensätze gestaltet: Sanft- und Wildheit, An- und Entspannung, Ruhe und Sturm…

Die Kostüme von Rosa Ana Chanzá unterstreichen diesen Wandel: Da wird das frühlingshafte Aufkeimen der Natur durch farbige Socken symbolisiert. Diese Farbigkeit wird beim fallenden Herbstlaub wiederaufgenommen, während im Winter die hellen Anzüge dominieren. Yoko Seyama schuf für ihre variabel einsetzbaren Stoffbahnen, die immer wieder neue Räume entstehen ließen, wunderschöne und stimmungsvolle Projektionen.

Die Ballett-Compagnie, bestehend aus Helena Bröker, Kuang-Yung Chao, Melissa Festa, Volodymyr Fomenko, Giulia Girardi, Lucia Giarratana, Marco Marongiu, Arturo Lamolda Mir, Melissa Panetta, Zoe Irina Sauer Llano, Clara Silva Gomes und Ming-Hung Wenig, tanzte mit Hingabe und brillierte voller Ästhetik sowohl als Ensemble wie in den Solis. Den tosenden Schlussapplaus hatten sich alle Künstler*innen wahrlich verdient.

ANMERKUNG: „Jedes Tierchen sein Plaisierchen!“ lautet ein geflügeltes Sprichwort. Und wie bei vielen Sprichwörtern versteckt sich im Kern ein Funke Wahrheit. Es gibt Ausdrucksformen in der Kunst, die mich mal mehr, mal weniger ansprechen und emotional berühren. Während eine dramatische Opernarie oder eine gefühlvolle Musical-Ballade tiefe Empfindungen bei mir auslösen, kann ich Rap leider recht wenig abgewinnen. Ähnliches erlebe ich zunehmend beim Ballett: Ein Handlungs-Ballett erreicht da viel schneller mein Herz als eine Choreografie zu einem eher abstrakten Thema, wie es bei DIE VIER JAHRESZEITEN der Fall ist. Wobei ich voller Hochachtung und Respekt die Leistung aller Beteiligten anerkenne und wertschätze.

Und da dachte ich immer, ich wäre für alles offen. Doch nun merke ich, dass sich in mir wohl auch ein Traditionalist versteckt. Ups!!! 😆



Wie schnell doch die Zeit vergeht: Es gibt nur noch einige wenige Termine, um mit der Ballett-Kompagnie am Stadttheater Bremerhaven durch DIE VIER JAHRESZEITEN zu reisen.

[Musical] Jerry Bock – THE APPLE TREE (DSE) / Stadttheater Bremerhaven

Musik von Jerry Bock / Liedtexte von Sheldon Harnick / Buch von Jerry Bock, Sheldon Harnick und Jerome Coopersmith / Nach Geschichten von Mark Twain, Frank R. Stockton und Jules Feiffer / deutsche Textfassung von Hartmut H. Forche / Deutschsprachige Erstaufführung

Premiere: 16. März 2024 / besuchte Vorstellung: 28. März & 9. Mai 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni / Tonio Shiga (28.03.)
INSZENIERUNG Rennik-Jan Neggers
BÜHNE & KOSTÜME Alexander McCargar
CHOREOGRAFIE Nele Neugebauer
DRAMATURGIE Torben Selk
CHÖRE Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Wenn es etwas gibt, was ich an „meinem“ Stadttheater Bremerhaven sehr schätze (neben vielen anderen Dingen), dann ist es der Umstand, dass das dortige Team immer wieder sehr rührig ist, um wenig gespielte Stücke von Autor*innen oder Werke von kaum beachteten Komponist*innen wieder für das Publikum ins Rampenlicht zu rücken. So hat das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann zwei wundervolle Symphonien der „vergessenen“ Komponistin Emilie Mayer auf CD eingespielt, die sogar für die renommierten Musikpreise INTERNATIONAL CLASSICAL MUSIC AWARD und OPUS KLASSIK nominiert war. Ebenso stand im vergangenen Jahr mit der Oper BREAKING THE WAVES eine deutsche Erstaufführung auf dem Spielplan, mit der mir ein absolut aufregender und zutiefst bewegender Opern-Momente geschenkt wurde.

Auch in diesem Jahr gibt es auf dem Spielplan eine von diesen in Vergessenheit geratenen Werken zu entdecken: Mit dem Musical THE APPLE TREE präsentiert das Stadttheater sogar eine deutschsprachige Erstaufführung. Die Namen des Komponisten-Texter-Duos ließen mich aufhorchen: Jerry Bock und Sheldon Harnick schufen zwei Jahre vor der Premiere von THE APPLE TREE mit dem warmherzigen FIDDLER ON THE ROOF (bei uns besser bekannt als: ANATEVKA) eines der populärsten und meistgespielten Musicals auf deutschen Bühnen. Eingedeckt mit diesem Hintergrundwissen machte ich mich voller Neugierde und mit hohen Erwartungen auf den Weg Richtung Bremerhaven.

THE APPLE TREE setzt sich aus drei Teilen zusammen: „Das Tagebuch von Adam und Eva“ ist eine ungewöhnliche Variante der Geschichte vom ersten Menschenpaar, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Mark Twain. „Die Lady oder der Tiger?“ ist eine Rock-n-Roll-Geschichte über die Unbeständigkeit der Liebe, angesiedelt in einem mythischen, barbarischen Königreich. „Passionella“ geht auf die Aschenputtel-Variation von Jules Feiffer zurück und handelt von einer Schornsteinfegerin, deren Träume vom Ruhm als Filmstar beinahe ihre Chance auf die wahre Liebe vereiteln.

(Inhaltsangabe der Homepage des Theaterverlages entnommen.)

Leider wirkte das Stück – wahrscheinlich aufgrund dieser Drei-Teilung – sehr wenig homogen auf mich, zumal der Komponist zu den „Variationen über die Versuchung“ (so der Untertitel des Musicals) ebenfalls Variationen im Musik-Stil schuf, die ein verbindendes Leitmotiv vermissen ließen. Da genügte es mir nicht, dass im zweiten wie auch im dritten Teil die Melodie „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“, die die Schlange beim Sündenfall im ersten Teil zum Besten gibt, abermals erklang. Auch zeigte das Stück sowohl im dritten aber vor allem im ersten Teil deutliche Längen, die die Konzentration des Publikums durchaus herausfordern könnte. Leider wurden diese Längen vom Bremerhavener Produktions-Team nicht ausgemerzt, bzw. wahrscheinlich durfte das Team sie nicht ausmerzen, da es Vorgaben vom Verlag gab, die eingehalten werden mussten. Dabei hätten sensible Kürzungen dem Fluss der jeweiligen Geschichte sicherlich äußerst gutgetan.

Ist THE APPLE TREE ein Werk, das im Musical-Kanon eine große Rolle spielt und man somit unbedingt kennen sollte? Nein! Ich wage sogar die dreiste Vermutung zu äußern, dass, würde es nicht vom Glanz ANTAVEKAs profitierten, es schon längst in der Versenkung verschwunden wäre.

Sollte man allerdings die Inszenierung in Bremerhaven gesehen haben? Ja! Was auf dem ersten Blick wie ein Widerspruch anmutet, ist allein einer differenzierten Sichtweise geschuldet. Auch wenn mir einige Aspekte an einem Theaterbesuch weniger zusagen, kann ich doch trotzdem die guten Anteile würdigen, oder?

Regisseur Rennik-Jan Neggers setzt auf nuancierte Rollenporträts, wagt sich auch an die stillen Momente, amüsiert mit kleinen Details „am Rande“ und poliert an der Oberfläche der Dialoge, bis eine feine Ironie zum Vorschein kommt. Zum Glück steht ihm im Stadttheater Bremerhaven eine talentierte Solistenriege wie ein variabler Opernchor zur Verfügung, die alle schon in so manchen Produktionen ihre Vielseitigkeit gezeigt haben. Zumal dieses Musical den Gesangssolisten reichlich Möglichkeiten bietet, sich in den Solos und Duetten von ihrer besten Seite zu zeigen.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Schon beim ersten Zusammentreffen des pragmatischen Adams von Andrew Irwin mit der quirligen Eva von Victoria Kunze ahnt das Publikum, dass hier viel Potential für sowohl witzige wie auch rührende „Szenen einer Ehe“ zu finden ist. So wird amüsant unterstellen, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau schon in der Schöpfungsgeschichte begründet liegen. Männer und Frauen passen eben nicht zusammen (Eine Tatsache, die mir als schwuler Mann schon seit langem bewusst war!). Und so zeigen Kunze und Irwin eine Vielzahl an Facetten einer zwar durch göttliche Fügung entstandenen aber ansonsten sehr weltlichen Beziehung. Dabei präsentieren sich bei den Songs so manche kleine Perlen, die durch die Interpretation der Künstler*innen einen zarten Lüster erhalten: So entzückte zum Beispiel Victoria Kunze bei „Here in Eden / Hier in Eden“ in ihrem Erstaunen über den ersten Tag auf Erden. Adams Klagelied über „Eve / Eva“ wurde von Andrew Irving so fein akzentuiert gestaltet, dass es die reine Freude war, ihm zu lauschen. Als verführende wie verführerische Schlange trat Marcin Hutek in Erscheinung, um „The Apple Tree (Forbidden Fruit) / Verbot’ne Frucht“ erfolgreich an die Frau zu bringen. Besonders dem intensiven Zusammenspiel von Kunze und Irwin ist es zu verdanken, dass die Längen beim Einakter Das Tagebuch von Adam und Eva keinen Einfluss auf die Konzentration des Publikums nahmen.

Mit Die Dame oder der Tiger? präsentiert sich der kürzeste Part dieser Trilogie. Diese Kürze scheint der Geschichte durchaus gut zu bekommen, da alles viel komprimierter, viel kompakter wirkt. Die Handlung kommt schneller auf den Punkt und ermöglicht so den Solisten, genüsslich voller Witz und Ironie zu agieren. Hatte ich bei HÄNSEL UND GRETEL noch die mangelnde Textverständlichkeit bei Marcin Huteks Vortrag bedauert, muss er seitdem fleißig an seiner Diktion gearbeitet haben. Brilliert er doch nun gut verständlich als kerniger Hauptmann Sanjar und liefert gemeinsam mit Boshana Milkow als Prinzessin Barbra bei „Forbidden Love / Wenn man verboten liebt“ ein humoristisches Kabinettstückchen ab. Milkow lässt zudem mit lüstern vibrierenden Mezzo beim Song „I’ve Got What You Want / Ich hab’, was du willst“ keinen Zweifel aufkommen, dass es nur eine Frau gibt, die die Krallen ins männliche Objekt der allgemeinen weiblichen Begierde schlagen darf. Diesmal taucht die Schlange/die Verführung in Person des Balladensängers auf, den Patrick Ruyters mit hellem Bariton in „I’ll Tell You a Truth / Das Lied, das ich sing“ die Strippen ziehen lässt. War er beim ersten Teil „nur“ die Stimme Gottes, tänzelt Ulrich Burdack nun als Papa Schlumpf-Lookalike huldvoll winkend über die Bühne oder echauffiert sich entrüstet über die Amouren seiner Tochter Barbra.

Wesentlich mehr hat Burdack im dritten Part Passionella. Eine Romanze aus den Sechzigern zu tun. Es scheint keine Szene zu geben, in der er nicht präsent ist – entweder fungiert er als sympathischer Erzähler, oder er schlüpft pointiert in die diversen Rollen und zaubert dazu aus seiner schier unerschöpflichen magischen Tasche so manche Kostümteile und Requisiten hervor. Im Mittelpunkt der Handlung steht Victoria Kunze als Titelheldin Ella/Passionella, eine einfache Kaminkehrerin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein großer Star zu sein. Hier erscheint die Schlange/die Verführung in Form der lieben guten Fee, die Katharina Diegritz scheinbar harmlos verkörpert, aber voller Niedertracht für Verwirrung im Leben von Ella sorgt. Kunze darf u.a. in „Gorgeous / Wahnsinn“ ihre Star-Qualitäten unter Beweis stellen. Ihr zur Seite überzeugt abermals Andrew Irwin, der mit lässigem Hüftschwung als smarter Rock ’n’ Roller Flipp gegenüber Passionella behauptet „You Are Not Real / Du bist nicht real“.

Ausstatter Alexander McCargar designte eine schräge Rampe, die dank einiger strategisch einsetzbarer Bühnenteile und prägnanter „Extras“ sich in die jeweiligen Handlungsorte verwandelte. Mit den Kostümen unterstreicht er den jeweiligen Charakter der Figur: Adam und Eva sind im schlichten Weiß gekleidet, wobei der Alterungsprozess durch graue Kleidungsstücke angedeutet wird. Die an Sandalen-Filme erinnernde Handlung des zweiten Teils wird mit der Farbwahl der Kostüme relativiert bzw. karikiert: Beim Anblick der blau-weißen Kostüme musste ich unwillkürlich an „Die Schlümpfe“ denken. Im dritten Teil trägt der Chor biedere Kleidung in allen Facetten von Beige, während Passionella und Flipp ausgefallene Roben tragen, die die Charaktere der Figuren eher ein wenig überhöhen.

Tonio Shiga und das Philharmonische Orchester Bremerhaven lassen die Melodien von Jerry Bock mit einem Gespür für feine Nuancen aus dem Graben erklingen und verleihen so den bereits erwähnten Song-Perlen einen zusätzlichen Glanz.


Nachtrag zum 9. Mai 2024: Da hatte ich nach meinem ersten Besuch des Musicals THE APPLE TREE, das das Stadttheater Bremerhaven als deutschsprachige Erstaufführung zeigte, doch tatsächlich ein wenig geunkt. So bemängelte ich u.a., dass mir bei der Musik ein verbindendes Leitmotiv fehlte. Zudem empfand ich die Lieder beim ersten Anhören als wenig eingängig. Doch nun saß ich heute in der Dernière und freute mich schon sehr auf einige Songs, die sich im Laufe der Zeit langsam aber stetig in mein Herz geschlichen hatten. Erst beim wiederholten Hören entblätterten sie wie eine Blüte ihre schlichte Schönheit. Daran waren natürlich die tollen Künstler*innen am Stadttheater Bremerhaven nicht ganz unschuldig.

Zumal ich beim THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT am 3. April die wunderbare Gelegenheit hatte, mit Tenor Andrew Irwin, Kapellmeister Tonio Shiga, Dramaturg Torben Selk und dem Leiter des Musiktheaters Markus Tatzig ins Gespräch zu kommen. THEATERSNACK ZUR MITTAGSZEIT ist eine Kooperation des Stadttheaters mit der Stadtbibliothek Bremerhaven: An jedem ersten Mittwoch im Monat haben Interessierte die Gelegenheit, ihre Mittagspause in der Stadtbibliothek zu verbringen. Während herzhaft ins Pausenbrot gebissen wird, hört und sieht man auf der dortigen Standkorbbühne Ausschnitte aus dem aktuellen Programm und erhält nebenbei noch einige Hintergrundinformationen.

So bestens präpariert eröffneten sich mir bei meiner heutigen Stippvisite im „Garten Eden“ ganz neue Perspektiven. 🍎


Doch lassen wir bei #angeklopft Victoria Kunze und Andrew Irwin gerne selbst zu Wort kommen.


Ihr möchtet Euch auch der Versuchung hingebe? Dann müsst Ihr Euch beeilen: Es gibt leider nur noch wenige Termine für THE APPLE TREE am Stadttheater Bremerhaven.

[Operette] Franz Lehár – DIE LUSTIGE WITWE / Stadttheater Bremerhaven

Operette von Franz Lehár / Libretto von Victor Léon und Leo Stein

Premiere: 3. Februar 2023 / besuchte Vorstellungen: 08.02. & 28.04.2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Hartmut Brüsch / Davide Perniceni (28.04.)
INSZENIERUNG Isabel Hindersin
BÜHNE & KOSTÜME Tanja Hofmann
CHOREOGRAFIE Rosemary Neri-Calheiros
DRAMATURGIE Markus Tatzig
CHOR Mario Orlando El Fakih Hernández
LICHT Frauke Richter

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Lucia Giarratana
INSPIZIENZ Regina Wittmar


Na? Gelüstet es euch manchmal auch nach einer großen Portion Schmalz? Einige schauen sich mit einer Familienpackung Papiertaschentücher bewaffnet drei Rosamunde Pilcher-Verfilmungen nacheinander oder mehrere Staffeln „friends“ in Folge an, andere werfen eine Schlager-CD in den Player und erklären lautstark „Schuld war nur der Bosa Nova!“ oder behaupten vehement „Er gehört zu mir!“.

Sollte ich hingegen ein unbändiges Verlangen nach Schmalz verspüren, stille ich dieses gerne, indem ich mich auf den Weg ins Theater mache, um mich dank eines passenden Stücks in Unmengen Schmalz zu wälzen, zu suhlen, zu ertränken,…

…und wenn dann noch mit DIE LUSTIGE WITWE ein wahrer Schmacht-Fetzen aus dem Operetten-Himmel auf dem Programm steht, dann ist mein Glück perfekt, und ich gebe mich diesem Zustand hemmungslos hin. ACHTUNG: Jede Störung wird gnadenlos geahndet!

HINWEIS: Die obige Aufnahme stammte nicht aus der besprochenen Inszenierung sondern dient nur dazu, einen Eindruck von der Musik zu vermitteln. 

Es gibt so viele wunderbar unterhaltsame Werke im Operetten-Repertoire, doch zum (ungekrönten) Königspaar würde ich zwei Werke wählen. Da gibt es einerseits DIE FLEDERMAUS (1874) von Johann Strauß, die pikant-frivol die Bigotterie des gehobenen Bürgertums auf den Arm nimmt, andererseits DIE LUSTIGE WITWE (1905) von Franz Lehár, die äußerst amüsant die Eitelkeit der Männer bloßlegt. Beiden Operetten ist gemein, dass sie mit präsenten Frauen-Porträts aufwarten und die sogenannten „Herren der Schöpfung“ recht blass aussehen lassen.

Im pontevedrinischen Gesandtschaftspalais in Paris wird fröhlich der Geburtstag des Fürsten gefeiert. Nur Baron Mirko Zeta ist besorgt. Die junge reiche Witwe Hanna Glawari soll demnächst eintreffen. Sollte sie nun einen Pariser zum neuen Mann nehmen, so würde der finanziell schlecht dastehende pontevedrinische Staat nicht mehr von ihrem Geld profitieren. Daher plant Baron Zeta, den Gesandtschaftssekretär Graf Danilo Danilowitsch mit Hanna Glawari zu verkuppeln. Doch Graf Danilo vergnügt sich lieber im „Maxim“ mit den aufreizenden Grisetten und muss erst durch Njegus, dem Assisteneten des Barons, in den Gesandtschaftspalais geschleppt werden. Als Hanna Glawari erscheint, sind gleich alle von ihr angetan. Sie ist sich allerdings durchaus bewusst, dass die anwesenden Herren sie nur wegen ihres Geldes begehren. Graf Danilo kommt müde vom nächtlichen Treiben im „Maxim“ zum Fest. Er kennt Hanna von früher und hätte sie damals auch gerne geheiratet, wenn nicht sein Onkel dagegen gewesen wäre. Dieser fand die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Hanna nicht standesgemäß. Doch Danilo liebt Hanna immer noch, zeigt dies nicht, denn sie soll nicht glauben, dass er sie nur wegen ihres Reichtums begehrt. Darum lehnt er auch Baron Zetas Verkuppelungsversuch ab. Valencienne, Zetas junge Frau, hat ihren Fächer verloren, auf dem ihr Verehrer Camille de Rosillon eine Liebeserklärung geschrieben hat. Zu allem Unglück gerät der Fächer in die Hände ihres Ehemannes, der aber nicht ahnt, dass er seiner Frau gehört. Bei der Damenwahl wählt Hanna Danilo als ihren Tänzer, was er jedoch ablehnt. Er bietet diesen Tanz für 10.000 Francs zum Verkauf an. Die anwesenden Herren sind brüskiert und suchen das Weite. Endlich ist er mit Hanna allein und überredet sie zum gemeinsamen Tanz. Am darauffolgenden Tag hat Hanna die Gesellschaft in ihr Palais zu einem pontevedrinischen Fest geladen. Ihr ist bewusst geworden, dass sie Danilo immer noch liebt. Doch dieser verhält sich weiterhin reserviert und versucht zudem herauszufinden, wem der Fächer mit der Liebeserklärung gehört. Durch einen Zufall gelangt der Fächer aber wieder in die Hände von Valencienne. Sie bittet Camille de Rosillon, er möge doch um Hanna Glawari werben. So wunderbar ihre gemeinsamen Träumereien auch seien, sie ist schließlich verheiratet: Als anständige Frau würde sie seinem Werben nie nachgeben. Camille bittet zum Abschied um ein letztes Treffen in einem kleinen Pavillon. Baron Zeta hat die beiden heimlich beobachtet und lässt den Pavillon öffnen. Doch gemeinsam mit Camille tritt Hanna heraus. Um Valencienne nicht zu kompromittieren, hat sie schnell ihren Platz eingenommen. Als sie dreist verkündet, dass sie sich mit Camille de Rosillon verloben werde, kann Danilo seine Eifersucht nicht mehr verbergen. Nun erkennt Hanna deutlich, dass Danilo sie immer noch liebt. Wütend flüchtet er in sein geliebtes „Maxim“. Hanna lässt den Saal in ihrem Palais mit Unterstützung von Njegus nicht nur in das „Maxim“ verwandelt sondern hat auch das komplette Ensemble engagiert. So gelingt es ihr, Danilo wieder in ihre Nähe zu locken. Baron Zeta ist noch immer in großer Sorge um die Millionen der Glawari, denn wenn Hanna den Pariser Camille de Rosillon heiratet, ist der pontevedrinische Staatsbankrott nicht mehr abzuwenden. Danilo appelliert an Hannas Vaterlandsliebe, doch die hatte ohnehin nie vor, einen Franzosen zu heiraten. Sie klärt Danilo über die prekäre Situation im Gartenpavillon auf. Doch leider erfährt auch Baron Zeta davon und fordert von Valencienne die sofortige Scheidung. Jetzt, wo er frei ist, könnte er selbst Hanna Glawari heiraten. Diese klärt alle Anwesenden über eine pikante Klausel im Testament ihre verstorbenen Mannes auf: Im Falle einer neuerlichen Heirat würde sie das gesamte Vermögen verlieren. Endlich gesteht ihr Danilo seine Liebe, denn jetzt kann Hanna ihm nicht mehr vorwerfen, dass er sie nur ihres Geldes wegen heiraten möchte. Doch Hanna hat noch eine weitere Überraschung parat: Zwar würde sie das Vermögen verlieren, allerdings ginge es über in den Besitz ihres neuen Ehemanns. Auch Baron Zeta muss seiner Gattin Abbitte leisten. Valencienne hat ihn auf ihre Antwort aufmerksam gemacht, die sie unter der Liebeserklärung auf dem Fächer hinterlassen hat. Dort steht deutlich geschrieben: „Ich bin eine anständige Frau“.

Es war wieder einer der Abende, an dem sich schon beim Klang der ersten Töne aus dem Orchestergraben ein penetrant-permanentes Dauergrinsen auf meinem Gesicht einnistete und mich grenzdebil erscheinen ließ. Doch ich konnte nichts dagegen tun, bzw. ich wollte nichts dagegen tun. Bereits bei der Ouvertüre begann Hartmut Brüsch mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven auch noch das letzte Quäntchen Schmalz aus der Partitur zu kitzeln. Da erklangen Lehars Kompositionen so herrlich schwelgerisch und schmissig. Dann ließ er die bekannten Melodien wieder erfrischend schlank erklingen, um bei einige Arien diese beinah Couplet-artig zu umschmeicheln.

Ebenso schlank – beinah entschlackt – zeigte sich die Inszenierung von Isabel Hindersin. Hindersin sah sich anscheinend die Vorlage (s.a. die obige Inhaltsangabe) sehr genau an, entdeckte Widersprüche darin und bemühte sich, diese auszumerzen. Die Vorlage bietet Porträts von selbstbewussten Frauen, die dann im entscheidenden Moment doch wieder nur den männlichen Ansprüchen genügen. Dieser Umstand wirft Fragen auf. Ein Beispiel: Bleibt Hanna Single, kann sie eigenständig über ihr Erbe verfügen; heiratet sie, dann fällt das Erbe an ihren neuen Ehemann. „Hä?“ (unverständliches Kopfschütteln) Jede kluge Frau würde unter diesen Umständen eine „wilde“ Ehe vorziehen. Solche unzeitgemäßen Ungereimtheiten finden sich öfter in diesem Stück und sind natürlich dessen Entstehungszeit geschuldet. Bei Hindersin behauptet Hanna einfach, sie hätte ihr Erbe schon ausgegeben, somit ist das Objekt der allgemeinen männlichen Begierde nicht mehr existent, was das Verhalten der Herren ad absurdum führt. Auch Valenciennes Fächerbekenntnis „Ich bin eine anständige Frau“ wird von ihrem Gatten ignoriert, der sich ihrer nur allzu schnell entledigt, um sich dann der scheinbar reichen Witwe anbiedernd vor die Füße zu werfen. Warum sollte sie loyal gegenüber einer solchen Kanaille sein, wenn sie sich stattdessen der Liebe des feschen Camille de Rosillon sicher sein kann? Selbst das schmissige von den Herren vorgetragene „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“ erhält eine Frischzellenkur, indem die Damen sich einmischen mit „Das Studium der Männer ist schwer“, was zu einem gemeinsamen „Das Studium der Menschen ist schwer“ gipfelt und somit implementiert, dass es durchaus auch Menschen mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität gibt. Damit verleiht die Regisseurin den Figuren einen Hauch Realismus, der durchaus auch Raum für Tragik und Trauer bietet. Sie befreit so die Charaktere aus dem gängigen klischeehaften Operetten-Korsett. Für die ersten beiden Akte findet sie – auch für die Modernisierungen – eine stringente Erzählweise. Der dritte Akt wirkte dagegen auf mich etwas zerfasert in seiner Struktur.

Auch Tanja Hofmann spendierte der Ausstattung diesen Hauch Realismus. Die pontevedrinische Botschaft hat schon deutlich bessere Zeiten erlebt: Da blättert der Putz von den Wänden, und die Gäste müssen aufpassen, dass sie von herunterstürzenden Dekorationsteilen nicht getroffen werden. Es wirkt eher wie ein in die Jahre gekommenes Vereinsheim „irgendwo im Nirgendwo“ auf dem Lande. Hannas Palais hingegen fungiert als eine Art Spiegelkabinett, als wolle es die Protagonist*innen zwingen, einen offenbarenden Blick in den Spiegel und somit hinter die Fassaden zu werfen. Für den 3. Akt kreiert Hofmann diesen einzigartigen Pariser Flair: Hier dürfen sich Valencienne und Camille zum Tête-à-Tête in eine Litfaßsäule aka Pavillon zurückziehen, und unsere Held*innen finden am Fuße des Eifelturms unterm funkelnden Sternenhimmel endlich zueinander. Auch bei den Kostümen beweist Tanja Hofmann Raffinesse und Chic. Sie kleidet die Figuren so stimmig und geschmackvoll, dass die Garderobe schon auf den jeweiligen Charakter schließen lässt. Einzig beim wunderbaren Paris-Bild bewies sie leider bei den Kostümen für Ballett und Chor weniger Gespür. Beinah schien es, als wäre ein Sturm, wie er häufig an der Küste vorkommt, mit Schmackes durch den Kostümfundus gefegt, und alles, was zu Boden gefallen ist, musste nun auf der Bühne getragen werden.

Choreografin Rosemary Neri-Calheiros sorgte bei den Solisten und dem Chor für flinke Füße und ließ das Ballett u.a. als Grisetten (m/w/d) beim Can-Can „Ja, wir sind es, die Grisetten“ temperamentvoll über die Bühne toben.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen die Operette von der 2. Sängergarde bestritten wurde, eben durch jene Sänger*innen, bei denen die Stimmen für die große Oper nicht ausreichten. Wenn bei den Genren im Musiktheater so unterschiedliche Kriterien angelegt werden, darf es nicht verwundern, wenn die Qualität entsprechend ausfällt. Das Stadttheater Bremerhaven verfügt momentan (zur Freude des Publikums) über ein hochtalentiertes Musiktheater-Ensemble, wo jede*r ebenso in TOSCA oder RUSALKA brilliert wie im Musical oder in der Operette.

In der klassischen Operette gibt es sogenannte Stimmfächer, die den entsprechenden Rollen zugeordnet werden. Da gibt es das Leading-Paar, bestehend aus dramatischem Sopran und Heldentenor, und das Buffo-Paar, das sich aus Soubrette und Spieltenor zusammensetzt. Hierbei soll sich die jeweilige Charakterisierung der Figur schon im Klang der Stimme widerspiegeln.

Apropos „Drama“: Selten habe ich das „Vilja-Lied“ so gefühlvoll und zugleich so traurig vernommen, wie in der Interpretation durch Signe Heiberg. Bei ihr ist Hanna Glawari eine moderne, selbstbewusste Frau, die von den enervierenden Avancen der Männer so angewidert ist, dass sie nur mit Mühe höflich bleiben kann. Fein nuanciert setzte sie ihren Sopran ein, um so auch musikalisch die Kränkungen zu verdeutlichen, die die Figur erleiden musste. Das Duett „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen“ gestaltete sie gemeinsam mit Konstantinos Klironomos äußerst innig und exquisit. Graf Danilo Danilowitsch ist bei Konstantinos Klironomos ein absoluter Heißsporn. Mit seinem potenten Tenor setzte Klironomos beim Gassenhauer „O Vaterland/ Da geh’ ich zu Maxim“ eine erste gesangliche Marke. Doch auch darstellerisch konnte er das ambivalente Verhalten dieses charmanten Hallodris glaubhaft vermitteln, der seine wahren Gefühle gegenüber Hanna nur schwerlich verstecken kann.

Abermals stehen Victoria Kunze und Andrew Irwin als kongeniale „Partners in Crime“ auf der Bühne und bieten sich ein höchst amüsantes Gefecht. Kunze gab eine quirlige, beinah naiv-unbedarfte Valencienne, die immer wieder hin und her gerissen wurde zwischen ehelicher Treue und dem Wunsch nach echter Zuneigung. Irwins Camille de Rosillon wirkte beinah, als würde ihn so viel weibliches Temperament überfordern. Dabei litt er sichtlich bei dem Gedanken, „seiner“ Valencienne entsagen zu müssen. Gemeinsam harmonierten sie abermals ganz und gar wunderbar in ihren Duetten, wobei das voller Wehmut vorgetragene „Wie eine Rosenknospe/ Sieh dort den kleinen Pavillon“ besonders herausstach.

Sollte ich die Stimm-Konstellationen beider Paare beschreiben, wären Heiberg/Klironomos ein vollmundiger Rotwein mit komplexen Aromen, während Kunze/Irwin eher ein prickelnd-leichter Schaumwein sind, der gar köstlich am Gaumen perlt. Dies stellt keine Wertung dar: Beide Weine sind absolut köstlich! Interessant war es für mich erstmals zu bemerken, wie Franz Lehár bei den beiden Paaren die jeweilige Beziehung bzw. deren Entwicklung schon rein musikalisch (an)deutete. Während das Buffo-Paar Valencienne und Camille ihre innige Vertrautheit direkt von Beginn an mit gefühlvollen Duetten verdeutlichte, hält der Komponist das Leading-Paar Hanna und Danilo musikalisch auf Abstand, indem er ihnen jeweils Solo-Arien in die Kehlen komponierte oder sie voller Ironie wie beim „Lied vom dummen Reiter“ aufeinander prallen lässt. Erst zum fulminanten Happy End gestehen sich die Beiden mit „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen“ ihre gegenseitige Zuneigung und dürfen sich so im Gesang vereinen.

Nun ist die Rolle des Baron Mirko Zeta eher eine Sprechrolle als eine Gesangsrolle. Glücklicherweise braucht Ulrich Burdack niemanden mehr zu beweisen, dass er singen kann. Doch selten habe ich ihn so komödiantisch leichtfüßig auf der Bühne erleben dürfen: Da wurde geprotzt und schwadroniert, selbstverliebt der Bart gebürstet und sich so voller Elan in die Brust geworfen, dass die daran gehefteten Orden mächtig klapperten. Voller Schadenfreude beobachtete das Publikum, wie dem eitlen Gockel die Federn gerupft wurden, währenddessen er seinen Handlanger Njegus schikanierte. Mit der Rolle des Njegus fand Hans Neblung abermals den Weg ins Stadttheater Bremerhaven, mit dem er sich schon über Jahre verbunden fühlt. Sein Njegus ist weniger der speichelleckende Opportunist, wie er gerne in anderen Inszenierungen dargestellt wird, sondern vielmehr der wissende Vertraute, der um Schadensbegrenzung bemüht ist. Nun stellt man einen Musical-Darsteller mit internationalem Renommee nicht einfach so auf eine Bühne und lässt ihn dann nicht singen. So gönnte das Produktionsteam dem Nejegus von Hans Neblung einen Solo-Auftritt, den er in einem spektakulären Blütenkleid gewohnt charmant präsentierte.

„Last but not least“: Abermals sorgte Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández für einen voluminösen Wohlklang bei den Sänger*innen des Opernchores, von denen sich einige auch höchst unterhaltsam solistisch in div. Nebenrollen profilierten.


Dank #angeklopft erhalten wir sogar eine Audienz beim pontevedrinischen Botschafter Ulrich Burdack.


Noch bis Ende Mai geht´s weiterhin recht turbulent zu bei DIE LUSTIGE WITWE am Stadttheater Bremerhaven.

[Oper] Antonín Dvořák – RUSALKA / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Antonín Dvořák / Libretto von Jaroslav Kvapil / in tschechischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 25. Dezember 2023 / besuchte Vorstellung: 7. Januar 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann
INSZENIERUNG Johannes Pölzgutter
BÜHNE & KOSTÜME Michael Lindner
DRAMATURGIE Markus Tatzig
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Katharina Konopka

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
INSPIZIENZ Mahina Gallinger


Wenn das nicht der Trend für den Städte-Tourismus 2024 wird: Nicht nur Kopenhagen hat eine Meerjungfrau, auch andere Hafenstädte können mit einer eigenen Version aufwarten. Nun schickt auch Bremerhaven eine Meerjungfrau ins Rennen um die Gunst des Publikums. Allerdings sitzt diese nicht auf einem Stein im Hafenbecken und schaut verträumt in die Ferne. Vielmehr robbt sie höchst athletisch über die Bühne des Stadttheaters und hört auf den Namen RUSALKA.

An einem nächtlichen Waldsee necken drei Waldelfen den alten Wassermann. Doch der hat ganz andere Sorgen: Seine Tochter Rusalka träumt von einer Seele, die sie fühlen, vor allem aber lieben lässt, und die den Wasserwesen nicht gegeben ist. Rusalka hat sich in einen Prinzen verliebt, den sie bei einer nächtlichen Jagd gesehen hatte. Ihr Vater ist entsetzt und warnt sie vor der Menschenwelt, bevor er wieder zum Grund des Sees abtaucht. Doch Rusalkas Sehnsucht nach Liebe ist so groß, dass sie die heimtückische Hexe Ježibaba um Hilfe bittet. Diese macht aus ihrem Fischschwanz zwei Beine, nimmt ihr aber die Sprache. Auf der Jagd ist der Prinz vom Weg abgekommen und findet sich schließlich am Ufer des Sees wieder. Hier trifft er auf die stumme, hilflose Rusalka. Er nimmt sie, bereits in sie verliebt, mit auf sein Schloss. Dort löst die stumme Unbekannte mit ihrem eigentümlichen Benehmen bei der Schloss-Gesellschaft Befremden aus. Als Wasserwesen ist sie für die Liebe nicht geschaffen und kann den Avancen des Prinzen nicht nachgeben. Dieser tröstet sich mit einer fremden Fürstin, die den Prinzen nur aus Eitelkeit, nicht aus Liebe verführt. Diese Untreue bricht Rusalka das Herz, und sie wünscht sich zurück in die Wasserwelt. Ihr Vater erscheint und erlaubt ihr, ihm in die Wasserwelt zu folgen. Doch aufgrund ihrer Verzauberung kann sie kein Wasserwesen mehr sein, vielmehr ist sie gezwungen, als ein todbringendes Irrlicht umherzuwandern. Dem Prinzen quält die Reue über seinen Verrat, und obwohl er nun weiß, dass Rusalka kein menschliches Wesen ist, liebt er sie weiterhin. Der Jäger und der Küchenjunge wagen sich zur Hexe Ježibaba mit der Bitte, ihren scheinbar von Rusalka verhexten Prinzen von diesem Fluch zu befreien. Die Hexe verspottet sie und jagt sie davon. Dann erscheint der Prinz persönlich am See und bittet Rusalka reumütig um einen Kuss als Vergebung. Rusalka, die ihn immer noch liebt, warnt ihn, dass ihr Kuss ihn töten würde. Doch der Prinz verzehrt sich so sehr nach ihr, dass er sie abermals um diesen Kuss bittet. Rusalka erfüllt die Bitte und küsst den Prinzen, der darauf stirbt. Sie entschwindet daraufhin auf ewig in den dunklen Wald.

Märchenseligkeit á la Disney?! Nein, damit erfreut Regisseur Johannes Pölzgutter das Publikum nicht. Er lässt durchaus das Märchenhafte der Geschichte in seiner Interpretation durchschimmern, kredenzt aber auch sehr vieles, was kantig, sperrig, beinah urwüchsig anmutet. Seine Inszenirung besticht durch eine präzise Personenführung und der Fokussierung auch auf die Nebenrollen, die dadurch deutlich an Profil gewinnen. Klar voneinander abgegrenzt zeigt er die Menschen- gegenüber der Mythenwelt. Rusalka wünscht sich eine Seele: In der Interpretation von Pölzgutter werden die Menschen oberflächlich und gefühlskalt dargestellt, denen Prestige und eine öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung über alles geht. Im Vergleich dazu konzentrieren sich die Wasserwesen auf das Wesentliche, auf die inneren Werte. Da zeigen die angeblich kalten „Fische“ viel mehr Seele als die ach so gefühlvollen Menschen.

Stichwort „Fische“: Ausstatter Michael Lindner schuf ein stimmiges Ambiente, bei dem die Welt der Wasserwesen permanent präsent war, sei es bei den schuppenartigen Kleidern von Rusalka und der Hexe, dem Neoprenanzug des Jägers, der Wandgestaltung im Schloss oder mit einem überdimensionalem Glaskasten, der an ein Aquarium erinnerte.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


In der Titelrolle überzeugte abermals Sopranistin Signe Heiberg auf ganzer Linie. Es gelang ihr mit Haltung, Gestik und Mimik, aber vor allem mit ihrem seelenvollen Blick ihrer Rusalka mit einer Aura der andauernden Melancholie zu umgeben. Mit nuanciert-geführter Stimme brillierte sie beim „Měsíčku na nebi hlubokém / Lied an den Mond“, mit expressiven Sopran gestaltete sie bei „Necitelná vodní moci / Unendlich Herzeleid“ die Empfindungen Rusalkas von Resignation bis Schmerz. Zudem zeigte sie in dieser Partie erneut, welch exzellente Schauspielerin sie ist.

Rein Optisch entsprach Konstantinos Klironomos dem Idealbild eines Prinzen aus dem Märchen. Dabei ist dieser Prinz ein oberflächlicher Fatzke, ein egoistisches und verwöhntes Bürschchen, gewohnt, das Bedienstete hinter ihm herräumen und Bewunderer ihn schmeichelnd umgarnen. Es verwundert kaum, dass die gefühlvolle Rusalka mit diesem „schönen Schein“ wenig anzufangen weiß. Auch hier sorgt Pölzgutter mit einer kleinen Änderung, dass die Figur ein differenzierteres Profil erhält: In dieser Inszenierung lässt sich der Prinz nicht von Rusalka den todesbringenden Kuss geben, vielmehr greift er zum Messer und sticht sich selbst in die Brust. Meine Interpretation: Er möchte Rusalka nicht die Schuld aufbürden, für seinen Tod verantwortlich zu sein, und zeigt hier erstmals ein selbstloses Verhalten. Klironomos sang diese Partie anfangs mit protziger tenoraler Kraft, um im emotionalen Finale dann schöne lyrische Töne anzuschlagen.

Charakterlich würde die fremde Fürstin viel besser zum Prinzen passen, die Julia Mintzer mit üppigen Sopran und reichlich Sex-Appeal ausstattet. Dabei wirkte sie berechnend und emotionslos und war so viel mehr eine Antipathie-Trägerin als die böse Hexe Ježibaba.

Boshana Milkov punktete schon bei ihrer ersten Arie „Čury mury fuk / Abra, cabra, fort“ mit ihrem satten Mezzo-Sopran, zeigte in ihrer Rollengestaltung der Hexe alle Attitüden einer Bösewichtin und spielte diese genüsslich aus. Trotzdem blitzten immer wieder hinter der Fassade der Bosheit auch tragische Züge hervor, die diese Figur so ambivalent machten. Johannes Pölzgutter schuf ein unsichtbares Band zwischen Rusalka und Ježibaba, indem er die beiden Sängerinnen sich teilweise synchron zueinander bewegen ließ. Dann wieder schienen sich die Bewegungen der Beiden zu spiegeln, als würde die Jüngere das Schicksal der Älteren wiederholen.

Der Regisseur arbeitete mit Doppelsymbolik: So reproduzierte sich Rusalkas Verlust ihrer Flosse durch das Messer der Hexe mit der Häutung eines erlegten Tieres durch den Jäger. Charisma und Maskulinität (Attribute, die gemeinhin bei der Rolle eines Prinzen vermutet wird) zeigte Marcin Hutek mit warmen Bariton als Jäger, der zwar unter den Allüren seines Herren litt, trotzdem loyal hinter ihm stand und so seine edle Haltung zeigte. Ansonsten kann ich hier nur nochmals meinen Wunsch anbringen, den ich schon bei TOSCA geäußert hatte: Wann darf ich Marcin Hutek endlich in einer großen Partie erleben? Victoria Kunze sorgte als drolliger Küchenjunge für die wenigen humorigen Momente des Stücks,  amüsierte mit quirligem Spiel und überzeugte mit ihrem blendenden Sopran. Als Waldelfe war sie zudem – gemeinsam mit Minji Kim und Maria Rosenbusch – ganz und gar entzückend.

Ulrich Burdack verbrachte in der Rolle des Wassermanns ca. 90% seiner Spielzeit – körperlich sicherlich sehr herausfordernd – robbend und rollend auf dem Bühnenboden. Mit deformiertem Schädel und einem Körper, der übersäht war mit Warzen und Haaren, glich er eher einer Kröte als einem stattlichen Meermann. Bei dieser anspruchsvollen Bass-Partie gibt es ungewöhnlich hohe Passagen, mit denen sich Burdack außerhalb seiner gesanglichen Komfortzone wagte. „Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ lautet ein Sprichwort. Würden wir alle immer auf Nummer sicher gehen, gäbe es keine Weiterentwicklung. Dies gilt für Sänger*innen ebenso wie für mich als Krankenpfleger. Mit lyrischem Bass beklagte er mitleidsvoll in „Celý svět nedá ti, nedá / Wehe dir, Rusalka, wehe“ das Schicksal seiner Tochter. Durch sein nuancenreiches und sensibles Spiel schaffte es Burdack, dass der noble Charakter des Wassermanns die weniger ansprechende Optik überstrahlte und diese vergessen machte.

Getragen wurden die Stimmen der Sänger*innen durch das bestens disponierte Philharmonische Orchester Bremerhaven unter der musikalischen Leitung von Marc Niemann. Niemann schuf mit den Musiker*innen eine enorme Klangfülle. Er lässt er das Orchester bei den dramatischen Szenen musikalisch auftrumpfen, um wenige Augenblicke später die filigranen Arien sensibel zu untermalen. Dabei besticht das Orchester durch seine instrumentale Feinheit.

Anmerkung: Die Oper wird auf Tschechisch vorgetragen. Als ich dies erfuhr, war auch ich nicht vor Vorurteilen gefeit. Erwartete ich doch ein eher ungewohntes, wenn nicht sogar irritierendes Hör-„Vergnügen“. Umso mehr überraschte mich die Melodik dieser Sprache, die zusammen mit Dvořáks Musik eine wunderbare Einheit bildete.


Leider steht RUSALKA nur noch für einige wenige Vorstellungen auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven.

[Konzert] Neujahrskonzert – LA VALSE / Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Musik von Frédéric Chopin, Léo Delibes, George Gershwin, Charles Gounod, Aram Khachaturian, Emmerich Kálmán, Franz Lehár, Sergei Sergejewitsch Prokofjew, Giacomo Puccini, Maurice Ravel, Nino Rota, Johann Strauß Sohn, Pjotr Iljitsch Tschaikowski und Guiseppe Verdi

Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Premiere: 1. Januar 2024 / besuchte Vorstellung: 2. Januar 2024

Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
MODERATION, GESANG & REZITATION
Victoria Kunze


Die letzten Böller sind (hoffentlich) gezündet, die letzten Raketen am Himmel verpufft. Das Neue Jahr ist da, zeigt sich momentan zwar von seiner nassen Seite, hat allerdings 12 Monate im Gepäck, die jede*r von uns ganz persönlich gestalten und somit das Beste daraus machen darf. Wir haben die Wahl…!

Bei strömenden, sturmartigen Regenfällen wählten wir den Weg nach Bremerhaven, ängstlich, ob die gewohnten Wege aufgrund des Hochwassers auch passierbar wären. Vom Parkhaus kämpften wir uns durch die feucht-kalte Stadt ins anheimelnde Foyer des Stadttheaters Bremerhaven. Uns würde bestimmt recht schnell wieder warm werden: Das Philharmonische Orchester Bremerhaven hatte zum Neujahrskonzert geladen und versprach mit LA VALSE / DER WALZER einen schwungvollen Abend, der uns sicherlich am Ende bestens gelaunt nach Hause treiben lassen würde.

Normalerweise sieht man die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven dezent in schwarz-weiß gekleidet. Diesmal zeigten die Damen Farbe und erschienen in ihren eleganten Roben sehr individuell gewandet, während sogar die Herren zu ihren schwarzen Anzügen eine überraschende Vielfalt an Krawatten-Designs präsentierten. 😉

Der erste Kapellmeister Davide Perniceni hatte für dieses Konzert ein abwechslungsreiches, unterhaltsames aber auch überraschendes Programm zusammengestellt, das sich musikalisch über mehrere Epochen und Stile erstreckte. Doch diese bunte Auswahl sollten sowohl die Musiker*innen des Philharmonischen Orchesters wie auch ihr musikalischer Leiter spielend meistern können: Schließlich haben sie in der Vergangenheit schon in den diversen Genres des Musiktheaters ihre ausgeprägte Vielseitigkeit gezeigt und sollten auch diesmal wieder mit ihrem Können brillieren.

Das Konzert begann mit dem „Faust-Walzer“ aus der gleichnamigen Oper von Gounod, wo bei aller Walzerseligkeit die Tragödie schon musikalisch anklingt. Dafür erklang der Walzer aus der Ballett-Musik zu Delibes „Coppelia“ umso leichter und beschwingter. Weitere Kompositionen stammten von Frédéric Chopin („Grand Valse brillante“), Guiseppe Verdi/ Nino Rota („Gran Valzer Brillante“ aus „Il Gattopardo“) und Emmerich Kálmán („Ouvertüre“ aus „Die Csárdásfürstin“). Bei einem solchen Programm dürfen natürlich auch die Walzer aus Tschaikowskis „Schwanensee“ und aus der „Cinderella Suite“ von Prokofjew keinesfalls fehlen.

Eine wahre Entdeckung war für mich das titelgebende Stück „La Valse“ von Maurice Ravel, der den klassischen Walzer erst demontierte, um ihn dann neu zusammenzusetzen. Dabei wirkte es auf mich, als würde der Komponist den Walzer in Tausende von Splittern zerspringen lassen, um dann die Einzelteile alptraumartig wieder zusammenzufügen. Beim Anhören dieser Komposition wurden vor meinem inneren Auge eine Vielzahl an Bildern heraufbeschworen: Da sah ich „Nussknacker und Mäusekönig“ aus E.T.A. Hoffmanns Märchen miteinander im Duell, gefolgt von der beängstigenden Wendeltreppen-Szene aus Hitchcocks „Vertigo“ bis zu den vernichtenden Flammen auf Manderley aus Daphne du Mauriers „Rebecca“. Es ist erstaunlich, auf welche inneren Reisen das bloße Anhören von Musik uns schicken kann.

So ließ mich der Walzer aus der „Masquerade Suite“ von Aram Khachaturian an die Maskenball-Szene aus dem Film-Musical „An American in Paris“ denken. Doch spätestens beim „Kaiserwalzer“ von Johann Strauß Sohn sollte sich bei allen im Publikum Champagner-Laune eingestellt haben. Wobei: Mir würde auch ein spitziger Prosecco genügen, um mich in eine nicht weniger launige Stimmung versetzen zu lassen.

Victoria Kunze ist eine erste Sopranistin am Haus. Würde ich dies gegenüber Victoria äußern, würde sie mir sicherlich ins Wort fallen und widersprechen. Doch hätte sie mich mal ausreden lassen: Das Haus ist in der glücklichen Position, gleich zwei erst(klassig)e Sopranistinnen im Ensemble haben zu dürfen. Bei diesem Programm war sie nicht nur gesanglich gefragt, sondern „debütierte“ auch als reizende Moderatorin.

Zart und gefühlvoll sang sie Julias Arie „Je veux vivre“ aus Gounods Oper „Roméo et Juliette“. Frech-frivol ließ sie Musettas Walzer „Quando m’en vo’“ aus „La Bohème“ von Giacomo Puccini erklingen. Verführerisch schmachtete sie bei „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ aus der Operette „Guidetta“ von Franz Lehár. Schmissig präsentierte sie mit „By Strauß“ die Hommage der Gershwin Brüder an die beiden Walzerkönige. Dieser Song erklingt übrigens auch in dem Film-Musical „An American in Paris“.

Zwischendrin verriet sie uns kurzweilig Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Musikstücken, rezitierte amüsant Tucholsky oder gab witzige Anekdoten aus dem Hause Kunze zum Besten. Da berichtete sie von dem leidenschaftlich ausdiskutierten Walzer-Versuch ihrer Eltern und vom ersten Auftritt der kleinen Victoria an der Harfe, der beinah desaströs enden sollte (Ich glaube, ich hatte es hier bisher noch nicht erwähnt: Victoria Kunze ist nicht nur Opernsängerin sondern auch studierte Harfenistin und ausgebildete Musikpädagogin.). Charmant flirtete sie mit dem Publikum oder drohte Davide Perniceni, dass er im Laufe des Abends mit ihr gemeinsam das Tanzbein schwingen müsste.

Soweit sollte es schlussendlich (leider) nicht kommen. Allerdings rückte sie ihm bei der klassischen Neujahrskonzert-Zugabe, dem „Radetzky-Marsch“ dann doch auf die Pelle: Kurzerhand entwendete sie dem Herrn Dirigenten den Taktstock, schupste ihn spielerisch vom Pult, um höchstpersönlich bei den Damen und Herren des Orchesters den Schwung vorzugeben – frei nach dem Motto: Wer braucht schon einen ersten Kapellmeister, wenn eine erstklassige Sopranistin zur Stelle ist?!

Eines ist sicher: Zusammen mit ihrer Tanz-Combo werden das Duo Vicky & Dave im Showbusiness noch gaaanz groß rauskommen! 😆


Das Philharmonische Orchester Bremerhaven bietet in jeder Saison ein Vielzahl an abwechslungsreichen Konzerten: Ein Blick in das PROGRAMM lohnt sich sehr!

[Musical] John Du Prez & Eric Idle – SPAMELOT / Stadttheater Bremerhaven

Musik von John Du Prez & Eric Idle / Buch und Liedtexte von Eric Idle / Ein neues Musical, entstanden durch liebevolles Fleddern des Monty Python Films Die Ritter der Kokosnuss nach dem Originalbuch von Graham Chapman, John Cleese, Terry Gilliam, Eric Idle, Terry Jones, Michael Palin / Deutsch von Daniel Große Boymann

Premiere: 22. Oktober 2023 / besuchte Vorstellung: 26. November 2023 & 13. April 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Achim Lenz
MUSIKALISCHE LEITUNG Tonio Shiga
BÜHNE & KOSTÜME Bernhard Niechotz
CHOREOGRAFIE Yara Hassan
CHOR Mario Orlando El Fakih Hernández
DRAMATURGIE Peter Hilton Fliegel
REGIEASSISTENZ Justine Wiechmann, Jens Bache
GESANGSCOACHING Gabriele Brüsch
VIDEOANIMATION Steffen Focken
INSPIZIENZ Regina Wittmar
SOUFFLAGE Birgit Ermers
THEATERPÄDAGOGIK Florian von Zameck-Glyscinski
LEITUNG DER STATISTERIE Sabrina Eggerichs


Es war kurz vor Beginn der Vorstellung: Meine Begleitung beugte sich zu mir rüber und flüsterte mir leise ins Ohr „Andreas, ich habe immer noch nicht so ganz verstanden, worum es hier eigentlich geht…!“ Ich schaute ihn schmunzelt an und meinte „Oberste Devise: Nichts ernst nehmen, und keinen tieferen Sinn suchen!“ Dann umriss ich kurz die „Handlung“ (!) dieses Musicals…

Britannien an einem Dienstag im Mittelalter: Als ob König Artus nicht schon genügend andere Sorgen mit miesem Wetter, frechen Franzosen und ständig neuen Seuchen hätte, bekommt er jetzt auch noch von ganz Oben den Auftrag, den Heiligen Gral zu finden. Die von ihm mühsam rekrutierten Ritter seiner Tafelrunde namens Sir Lancelot, Sir Galahad, Sir Robin und Sir Bedevere sind von diesem Projekt nicht sonderlich angetan, einzig Artus treuer Knappe Patsy hält unumstößlich zu ihm. Hilfe erhalten die tapferen Recken durch die zauberhafte Fee aus dem See, die mal mehr mal weniger unvermittelt auftaucht, um dann wieder von der Bildfläche zu verschwindet. Die kleine Ritterschar stolpert in eine Reihe skurriler Abenteuer, bei denen sie mit allerlei Tricks wie einem „Trojanischen“ Hasen oder der heiligen Handgranate versuchen, ihre Gegner zu überrumpeln. Auf dem Weg zum erhofften Ziel begegnen sie dem schwarzen Ritter, einem grausamen und blutrünstigen Kaninchen sowie dem verzweifelten Prinzen Herbert – dem sich Ritter Lancelot gerne annimmt, und in dessen Befreiungsaktion er sich als leidenschaftlicher Tänzer entpuppt. Gott treibt sie bei ihrer Gralssuche immer weiter und weiter in so manche aberwitzige Situationen. So singen und tanzen sich die Ritter der Tafelrunde von der einen zur nächsten schwungvollen Musicalszene bis zum krönenden Happy End, in dem sich König Artus und die Fee aus dem See endlich voller Liebe und Leidenschaft in die Arme fallen dürfen.

Es gibt Komödianten, die haben einen so großen Eindruck hinterlassen, dass sie mit ihrer Kunst im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben. Da wird eine Textpassage zu einem geflügelten Zitat, und eine Bemerkung, die in einem speziellen Tonfall geäußert wurde, löst Heiterkeit aus. Die britische Komikergruppe Monty Python wurde durch ihren unvergleichlich schrägen Witz, der Fernsehserie „Monty Python’s Flying Circus“ und ihre Filme „Das Leben des Brian“ und „Der Sinn des Lebens“ weltberühmt. Im Jahre 2004 nahmen sich u.a. Mitglieder der Originaltruppe den Film „Die Ritter der Kokosnuss“ zur Brust und schmiedeten daraus eine freche Musical-Parodie mit skurrilen Typen, einer eingängigen Musik und einer Menge tiefschwarzem Humor.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Nun wird auch in Bremerhaven nach dem heiligen Gral gesucht: Regisseur Achim Lenz scheint sich bei der Umsetzung des Stoffes genau an meiner oben genannten Devise gehalten zu haben. Er präsentiert einen respektlosen und überdrehten Spaß mit einer Vielzahl an witzigen Details. Dabei setzt er auf Tempo und lässt die Szenen flott vor den Augen der Zuschauer*innen abspielen. Zeit zum Luftholen bleibt weder für das Publikum noch für das Ensemble: Während das Publikum noch über den einen Gag lacht, wird es schon dem nächsten Kalauer erbarmungslos ausgesetzt. Dafür werfen sich sowohl die Schauspieler*innen wie auch die Mitglieder des Opernchores (gefühlt) im Sekundentakt in ein neues Kostüm, um nur einen Wimpernschlag später in einer neuen Rolle wieder auf der Bühne zu erscheinen. Lenz gelingt es sogar, den sonst etwas langatmigen zweiten Akt auf Tempo zu bringen. Zudem setzt er wohldosiert auf Lokalkolorit und erfreut damit Einheimische wie ortkundige Besucher: Da „leiht“ sich Gott die Stimme vom bekannten Radio Bremen-Moderator Dirk Böhling, der (natürlich) launig plattdeutsch spricht. Die Fee aus dem See scheint zeitweise örtlich gering orientiert, da sie uns, dem Publikum in Cuxhaven, Bremen oder dann doch Bremerhaven (Sie weiß es eben nicht so genau!) herzlich für den Applaus dankt. Oder Sir Lancelot bewundert im Gemach von Prinz Herbert die schicken Gardinen am Fenster, die dieser als Schnäppchen im nahgelegenen Outlet-Shopping-Center erstanden hat.

Da in diesem Jahr das „große“ Musical bei der Schauspiel-Sparte zu finden ist, waren somit alle Hauptrollen wohlweislich aus dem Schauspiel-Ensemble besetzt. Da gab es zwar hin und wieder geringe Einbußen beim Gesang, dafür saß aber jede Pointe auf dem Punkt! Kay Krause mimte mit kindlicher Naivität den edlen König Artus als selbstverliebten und sich selbstüberschätzenden Gockel. Ihm zur Seite stand in der Rolle des treuen Knappen Patsy (als Einspringer für die erkrankte Kollegin) Henning Kallweit, der diese Rolle mit Bodenhaftung versah und dafür sorgte, dass sein Chef vor lauter Höhenflüge keine Schnappatmung bekam.

Henning Becker mutierte vom tumben Landjunker zum charismatischen Ritter Galahad und zeigte beängstigende kinski-eske Attitüden. Frank Auerbach erntete als lüsterne Mrs Galahad schon die ersten Lacher und gab einen rauen, doch herzensguten Sir Bedevere. Marc Vinzing tobte sich als Sir Robin – umringt von Chor und Ballett – in der großen Broadway-Show-Nummer aus. Richard Feist entdeckte als eitler Sir Lancelot (für ihn anfangs entzückend verwirrend) seine homoerotischen Gefühle, als er statt einer jungfräulichen Maid einem strammen Jungen zur Hilfe eilt. Justus Henke zeigt mit seinem jugendlichen Charme die naiv-romantische Seite von Prinz Herbert.

In dieser illustren Männerrunde voller Testosteron und Virilität fehlte allerdings dringend das besondere Etwas, das Tüpfelchen auf dem I, die Kirsche auf der Torte, das letzte Fünkchen zum Glück: Julia Lindhorst-Apfelthaler beherrschte als Fee aus dem See die großen Gesten ebenso wie die zarten Gefühle. Sie brillierte in den Songs mit starker Stimme und zeigte den Kerlen, dass es in diesem Musical nur die eine, einzige und wahre Diva geben konnte.

Umschwärmt wird diese Truppe an „Schmierenkomödianten“ von einem schier ausgelassenen Opernchor: Da treten sie in „bester“ (!) Opernchor-Manier stocksteif auf die Bühne, um völlig emotionslos, dafür äußerst stimmstark ihre Choräle zu trällern. Dann schlüpften sie voller Elan und mit überschäumender Freude am Klamauk in die div. Nebenrollen. Bravo!

Das nächste begeisternde „Bravo!“ entfleuchte mir, als das Ballett erstmals die Bühne betrat. Im Vorfeld fand in Bremerhaven ein Casting statt: Gesucht wurden talentierte und tanzbegeisterte Mädchen und junge Frauen, die als Cheerleaderinnen und Wassernymphen die Szenerie bereichern sollten. Choreografin Yara Hassan wählte dafür sinnlich gerundete Damen aus, die in ihrer pfiffigen Choreografie nachdrücklich den Beweis antraten, dass Ästhetik, Erotik und Esprit nicht nur abgemagerten Hupfdohlen vorbehalten sind. Zudem sorgte Hassan dafür, dass der Opernchor flott die Beine schwingend über die Bühne tobte, und selbst die holden Ritter konnte sie zu einem Tänzchen animieren.

Ausstatter Bernhard Niechotz stellte ein Bilderbuch-Britannien auf die Bühne: Stimmungsvolle Hintergrundprojektionen sorgten für einen märchenhaften Touch und amüsierten mit animierten Details. Die Kulissen waren bewusst sehr plakativ zweidimensional gestaltet, und auch die so genannten „Special Effects“ wirkten gewollt dilettantisch, verfehlten aber nicht ihre Wirkung beim Publikum. Kreativ austoben durfte sich Niechotz auch bei den vielen Kostümen, die stilistisch die enorme Bandbreite vom einfachen Knappen bis zur großen Diva abdeckten.

„Alles, was bei 3 nicht auf dem Baum ist, wird hier gnadenlos verhohnepiepelt!“ So bricht dieses Musical gewollt mit jeglicher Theatertradition und reißt sogar die imaginäre 4. Wand ein. Da richteten die Bühnenfiguren das Wort direkt ans Publikum, diskutieren lauthals mit dem Dirigenten, suchten und fanden am Schluss den heiligen Gral unter dem Sitz eines Zuschauers in der 1. Reihe, der dann auf die Bühne komplementiert wurde, um die Huldigungen aller Ritter der Tafelrunde zu empfangen (Puh, Glück gehabt: Wir saßen in der 2. Reihe!).

Apropos Dirigent: Bei diesem Musical muss die musikalische Leitung nicht „nur“ dirigieren. Oh nein, hier ist er Mit-Akteur, Stichwortgeber und Gag-Lieferant. Zudem heizte Tonio Shiga den Musiker*innen des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven ordentlich ein und sorgte dafür, dass die Melodien mit Schmackes aus dem Graben kamen.

Die Musik von John Du Prez und Eric Idle ist durchaus gefällig, bietet aber wenig Wiedererkennung. Doch vielleicht ist dies auch bewusst so gewählt, um die Wirkung eines bestimmten Songs nicht zu schmälern. Beim abschließenden „Always Look on the Bright Side of Life“ hielt es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen: Sehr laut und schön schräg trällerte wir diesen Ohrwurm mit!

Täusche ich mich, oder hat das Stadttheater Bremerhaven einen neuen Publikumsmagneten im Programm?


Lust auf die wirklich echten und ungeschönten Hintergrund-Informationen (im wahrsten Sinne des Wortes)? Dann möchte ich Euch gerne den Bericht Organisiertes Chaos – Ein Blick aus der Seitenbühne auf „Spamalot“ von Björn Gerken auf LOGBUCH BREMERHAVEN ans Herz legen.


Sich ohne Sinn um den Verstand lachen, gerne unter der selbst gesetzten Grenze des persönlichen Niveaus? Mit SPAMELOT am Stadttheater Bremerhaven ist dies absolut kein Problem…!!!

[Oper] Engelbert Humperdinck – HÄNSEL UND GRETEL / Stadttheater Bremerhaven

Märchenoper von Engelbert Humperdinck / Libretto von Adelheid Wette

Premiere: 4. November 2023 / besuchte Vorstellungen: 11. und 23. November 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
INSZENIERUNG Marie-Christine Lüling
BÜHNE & KOSTÜME Judith Philipp
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Katharina Konopka

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Elisabeth Schneider


Als im vergangenen Jahr im digitalen Adventskalender des Stadttheaters Bremerhaven gleich zwei Versionen des „Abendsegens“ aus HÄNSEL UND GRETEL erklangen, wagte ich dreist, Intendant Lars Tietje via Instagram die Frage zu stellen, wann mit dieser Oper endlich am Stadttheater zu rechnen wäre. Seine Antwort fiel knapp aber äußerst vielversprechend aus:

„Bald!“

Kaum ein Jahr später verirrt sich dieses berühmte Geschwisterpaar auch schon im Bremerhavener Watt – Äh! – Wald…! 😄

HÄNSEL UND GRETEL ist – neben LA BOHÈME – die Oper, die ich am häufigsten auf der Bühne anschauen durfte. Kaum ein anderes musikalisches Werk trifft so sehr meinen romantischen Nerv. Schon beim Klang der Ouvertüre beginne ich dahin zu schmelzen, und spätestens beim „Abendsegen“ habe ich mich emotional völlig verflüssigt. „Schuld“ daran ist diese unwiderstehliche Mischung aus bekannten Volksweisen, träumerischen Melodien und großen orchestral-üppigen Kompositionen, die Engelbert Humperdinck hier so vortrefflich miteinander vereint hat. Leider scheint dieses Werk aber auch prädestiniert zu sein, die Phantasie von einigen (über-)ambitionierten Regisseur*innen herauszufordern: Da präsentierten sich Hänsel und Gretel in der Vergangenheit durchaus auch mal als Punks, die in der Drogenhöhle der Hexe keine Lebkuchen sondern Joints „naschten“. Oder die beiden Partien von Mutter und Knusperhexe wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert, um so im Sinne der Sozialpsychologie die Ambivalenz in der Beziehung zwischen der Mutter und den Kindern zu verdeutlichen… …bla bla bla! Wer es darauf anlegt, könnte in jeden Text und jedes Libretto je nach Intention so allerlei hineininterpretieren. Wobei ich der Meinung bin, dass es – insbesondere bei einem musikalischen Werk – Grenzen in der Interpretation gibt, die von der Musik vorgegeben werden.

Marie-Christine Lüling überzeugt bei ihrer Inszenierung mit einer charmanten und wohltuend unaufdringlichen Modernisierung, ohne den märchenhaften Charakter des Werkes zu vernachlässigen. Es beginnt schon mit der fein inszenierten Ouvertüre, die sich wortlos vor dem geschlossenen Vorhang abspielt. Hänsel und Gretel sind anfangs zwei hyperaktive Gören mit einer Tendenz zum ADHS, die sich rüpelhaft gegenüber der alten Nachbarin verhalten und ihre Eltern beinah in den Wahnsinn treiben. So war es mehr als verständlich, dass die beiden überforderten Erziehungsberechtigten (erfolglos) versuchen, ihren Nachwuchs ins Bett zu scheuchen, um sich endlich eine wohlverdiente Pause gönnen zu können. Im verwunschenen Wald gleiten die Geschwister im Schlaf hinüber in einen phantastischen Traum, der sie zu einer Hexe führt, die verdächtig viel Ähnlichkeit mit der Nachbarin aufweist. Lülings Konzept überrascht mit so manchen gut durchdachten, aufeinander aufbauenden Details, warf aber auch die eine oder andere Frage auf – insbesondere dann, wenn das Libretto etwas anderes aussagt als das, was auf der Bühne gezeigt wurde. Doch dieser Umstand störte absolut nicht das Gesamtbild, da die Inszenierung mit guten Ideen punktet und sehr viel fürs Auge zu bieten hat.

Ausstatterin Judith Philipp hat die Optik dieser Inszenierung deutlich aber dezent der Erlebniswelt und somit den Sehgewohnheiten der heutigen Kindergeneration angepasst. Bei ihr werden die Engel zu Waldgeistern und entspringen direkt aus dem Kinderzimmer von Hänsel und Gretel: Die Spielsachen und Plüschtiere entwickeln ein Eigenleben, und so wachen Rabe, Puschel, Dino, Nordchen und Friedel beschützend über den Schlaf der Geschwister. Bedauerlicherweise sind von den ursprünglich 14 Engeln nur noch 5 Waldgeister übrig geblieben, was für mich den Zauber in dieser Szene etwas minimierte. Der Wald wächst dschungelartig-üppig aus dem Schnürboden hinab zur Erde. Das Hexenhaus wirkt wie die Geschenkverpackung aus einer Confiserie. Hier knabbern Hänsel und Gretel nicht an Lebkuchen, vielmehr naschen sie an Donuts, Schaumzucker, Macarons und Lollis. Auch die verzauberten Kinder bestehen nicht aus Lebkuchen sondern sind zuckersüße Marshmallow-Männchen.

Ⓒ Foto Stadttheater Bremerhaven. HÄNSEL UND GRETEL

Das Taumännchen: Von der Kinderzeichnung über die Figurine zum Kostüm auf der Bühne.

Im Vorfeld fand ein Workshop mit Grundschul-Kindern statt, bei dem die Schüler*innen unter der Anleitung der Theaterpädagoginnen eigene Figuren zu Taumännchen, Sandmännchen und den Engeln/Waldgeistern entwickeln konnten. Die phantasievollen Kreationen sind dann in die Entwürfe von Judith Philipp eingeflossen. Eine großartige und nachahmenswerte Vorgehensweise, um in einer Inszenierung die Ideen von Kindern für Kinder sichtbar zu machen.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Unter der musikalischen Leitung des 1. Kapellmeisters Davide Perniceni bot das Philharmonische Orchester Bremerhaven genau das, was ich eingangs bereits erwähnt und mir so sehr erhofft hatte: Schwelgerisch strömten die Melodien aus dem Orchestergraben. Dramatisch akzentuiert lässt Perniceni die Musiker das Geschehen auf der Bühne kommentieren, um im nächsten Augenblick die Gesangsstimmen der Sänger*innen fein nuanciert unterstützen zu lassen. Schön!

Das Stadttheater Bremerhaven gönnt sich den Luxus und besetzt die Partien von Sandmännchen und Taumännchen jeweils mit einer Sängerin. Aufgrund der Überschaubarkeit der Rollen (oder aus Kostengründen) werden diese auch gerne von nur einer einzigen Sopranistin verkörpert, was allerdings durchaus zur Folge haben kann, dass die Partien sehr ähnlich interpretier werden. Doch manchmal gibt es auch für Sänger*innen Termine, die unaufschiebbar sind: In der besuchten Vorstellung übernahm Marlene Mesa neben ihrer Rolle als Sandmännchen auch für die verhinderte Kollegin die Rolle des Taumännchen und verlieh beiden Partien ein eigenständiges Profil. Ihr Sandmännchen amüsierte mit einer sympathisch-drolligen Gemütlichkeit, während sie das Taumännchen vor positiver Energie überschäumen ließ. Die junge Künstlerin gestaltete ihre Solis mit sehr viel Wärme und erfreute mit einer individuellen Klangfarbe in ihrer Stimme.

Die gestressten Eltern werden von Eva Maria Summerer und Marcin Hutek verkörpert. Die Hektik, Überforderung und Anspannung der Mutter spiegeln sich passenderweise in der Stimme von Eva Maria Summerer wider: Ein klassischer Schöngesang wäre auch völlig fehl am Platze wäre. Der Vater von Marcin Hutek wirkt da deutlich gemächlicher und versucht im chaotischen Haushalt für Ruhe zu sorgen. Dabei sind seine Maßnahmen, um die Kids zur Räson zu bringen, nicht unbedingt „pädagogisch wertvoll“. Bei „Wenn sie sich verirrten im Walde“ zitiert Hutek mit seinem warmen, flexiblen Bariton beinah ein Horrorszenario herauf, nur um die Gören im Bett zu halten. Einziger Kritikpunkt sowohl bei Summerer als auch bei Hutek: Bei Beiden hätte ich mir eine bessere Textverständlichkeit gewünscht.

Andrew Irwin zeigt – auch dank Maske und Kostüm – abermals sein Wandlungsfähigkeit: Doch was nützt die schönste Maske, wenn der Künstler ihr kein Leben einhauchen könnte. Anfangs als alte Nachbarin war er noch bemitleidenswert unsicher auf den Beinen, ließ da aber schon nur mit einem Blick die Bedrohung erahnen. Bei seinem ersten Auftritt im Wald schwebt er spektakulär vom Himmel herab, um sich dann in einen „Devil on Drag“ zu verwandeln, der die Bühne einem Laufsteg gleich für sich einnimmt. Dabei variiert er seine Stimme vom tenoralen Ausbruch bis zum verführerischen Gesäusel und bleibt trotz rollenbedingtem Gezicke und Gezeter der faszinierende Anti-Held.

Mit Boshana Milkow und Victoria Kunze verkörpern zwei talentierte Künstlerinnen die Titel-Partien, die ihre immense Spielfreude mit Feingefühl und Takt verbinden, sodass zu keinem Zeitpunkt der feine Grad zwischen kindlichem Enthusiasmus und peinlicher Übertreibung überschritten wurde. Vielmehr spielen sich die Beiden immer wieder schelmisch die Bälle aka die Pointen gegenseitig zu. Von kleinen Gesten über gegenseitige Frotzelei bis zum liebevollen Gute-Nacht-Kuss zeigen sie ganz und gar entzückend die innige Verbundenheit des Geschwisterpaares. Dass sie zudem wundervolle Sängerinnen sind, habe ich in der Vergangenheit schon häufig und ausführlich erwähnt. Hier überzeugen sie abermals in ihren Solis mit fein geführten Gesangslinien und harmonieren ausgesprochen stimmschön in den reichlich vorhandenen Duetten. Stichwort: „Abendsegen“: Seufz!

Apropos „kindlicher Enthusiasmus“: Nicht nur der Opernchor erfuhr durch Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández in den letzten Jahren eine Frischzellenkur. Gemeinsam mit Katharina Diegritz formte er ebenfalls einen ganz und gar wunderbaren Kinderchor, dessen jugendliche Mitglieder so entzückend natürlich agierten und dabei auch noch ganz famos sangen. Bravo!

In diesen verrückten Zeiten schenkt das Stadttheater Bremerhaven seinem Publikum mit dieser Inszenierung eine Rundum-Wohlfühl-Packung: 2 Stunden lang durfte ich mich einfach nur fallen lassen und konnte so meine Sorgen um mich herum sowie das Chaos auf dieser Welt vergessen. Danke! 💖


Nachtrag zum 23. November 2023: Manchmal komme ich in den luxuriösen Genuss und darf mir eine Inszenierung mehrmals anschauen. In diesem Fall habe ich es meinem Gatten zu verdanken, der beim ersten Besuch malade daheim bleiben musste. Doch dann hat er so sehr gequengelt, dass ich des lieben Friedens willen abermals Karten orderte.

So saßen wir gestern im Stadttheater Bremerhaven in einer Aufführung der Märchenoper HÄNSEL UND GRETEL. Und während für meinen Gatten alles aufregend neu war, konnte ich mich entspannt zurücklehnen, da ich mich weniger auf die Haupthandlung konzentrieren brauchte. Dafür durfte ich mehr die vielen, kleinen charmanten Details genießen, die mir teilweise beim ersten Anschauen völlig entgangen sind (Hat der Mond mir bei meinem ersten Besuch auch schon vom Bühnenhimmel zugeblinzelt?). Diesmal stand als Taumännchen die junge Sopranistin Annemarie Pfahler auf der Bühne, die diesen Part entzückend gestaltete. Für den erkrankten Kollegen übernahm Bariton Patrick Ruyters die Partie des Vaters. Ruyters ist Mitglied des Opernchores und bewies nachdrücklich, dass die dortigen Sänger*innen weit mehr sind als nur „die 2. Reihe“. Naja, und das vokale Dreigestirn, bestehend aus Hänsel, Gretel und Knusperhexe, war abermals exquisit…!

Ich bin so froh, dass ich als Zuschauer in meiner Sichtweise und Wahrnehmung nicht so festgefahren bin, dass ich ungewöhnliche Regie-Konzepte nicht zu schätzen wüste. Vielmehr empfinde ich es als eine wunderbare Chance, dass ich in einem mir bekannten Werk überraschend neue Aspekte entdecken darf.

Ich glaube, dass es gerade bei HÄNSEL UND GRETEL schier unmöglich ist, den Geschmack aller zu treffen, da viele Erinnerungen mit diesem Werk verknüpft werden. Diese Erinnerungen können es durchaus erschweren, sich unvoreingenommen einer Inszenierung zu nähern. Der daraus resultierende Unmut wird dann von einigen „Theater-Fans“ ungefiltert in die Hemisphäre gepustet. Da tauchen dann so manche „kritische“ Kommentare in den sogenannten sozialen (!) Medien auf, die weit weniger etwas über die Inszenierung als vielmehr etwas zur Geisteshaltung des Verfassers aussagen. Da gab/gibt und wird es bedauerlicherweise wohl immer geben die ewig Gestrigen und permanent Traditionellen, die eine starre Vorstellung davon haben, wie eine gelungene HÄNSEL UND GRETEL-Inszenierung auszusehen hat. Abweichungen unerwünscht! Entsprechen besagte Abweichungen nicht ihren Vorstellungen, dann taugt die gesamte Aufführung nichts, und selbst die musikalischen Qualitäten von Orchester und Sänger*innen-Ensemble verschwinden hinter dem vernichtenden Urteil. Da wird von der „schrecklichsten Produktionen, die ich je gesehen habe“ gepoltert, und Forderungen nach „Subventionen streichen“ werden laut. Ein differenziertes, faires und vor allem respektvolles Feedback scheint nicht möglich!

Wenn ich eine solche „Kritik“ lese, frage ich mich immer ernsthaft, ob ich tatsächlich genau dieselbe Inszenierung wie der Verfasser gesehen habe. Auch ich habe durchaus die eine oder andere kritische Anmerkung in meinem obigen Beitrag hinterlassen. Doch ich konnte nichts feststellen, was diese geballte Masse an Negativität rechtfertigen könnte. Im Gegenteil: Ich fühlte mich ganz und gar wunderbar unterhalten! 😍

Ich persönlich möchte nicht die ewig, gleichen Inszenierungen, die nach einem vorgegebenen Schema entstehen, auf der Bühne sehen. Ich wünsche es mir nicht nur – Nein! – ich erwarte und fordere es regelrecht, dass mir ein buntes, lebendiges Theater geboten wird, das mich auch durchaus herausfordern und zum (Mit-)Denken animieren darf und muss.


Noch bis Mitte Januar 2024 besteht die Möglichkeit, sich mit HÄNSEL UND GRETEL am Stadttheater Bremerhaven märchenhaft verführen zu lassen.

[Oper] Giacomo Puccini – TOSCA / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Giacomo Puccini / Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa / in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 23. September 2023 / besuchte Vorstellung: 14. Oktober 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann
INSZENIERUNG Angela Denoke
BÜHNE & KOSTÜME Susana Mendoza
GEMÄLDE anna.laclaque
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Thomas Güldenberg

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
ASSISTENZ BÜHNE Theresa Steiner
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Stimme heiser geschrien, Arme und Schultern zum Muskelkater geschunden und Hände wund geklatscht: So saß ich nach der Vorstellung der Oper TOSCA am Stadttheater Bremerhaven neben meinem Gatten im Auto, und wir fuhren Richtung Heimat. Still saßen wir nebeneinander, sprachen kein Wort und versuchten das soeben Gehörte, Gesehene und Empfundene zu verarbeiteten. Ein geseufztes „Schön war’s!“ war zum besagten Zeitpunkt der einzige Ausspruch, den ich nicht unterdrücken konnte, danach herrschte wieder Stille. Doch genau dieses kurze und schlichte „Schön war’s!“ umrahmte ziemlich genau all die Gefühle und Gedanken, die mir in dem Moment durch Herz, Hirn und Seele tobten.

Schon mit ihrer ersten Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven empfiehlt sich Regisseurin Angela Denoke als eine kluge Beobachterin der menschlichen Psyche. Denoke ist selbst eine international gefeierte wie auch mit Preisen ausgezeichnete Sopranistin und wagte im Jahre 2021 ihr Regie-Debüt. Auch in diesem Metier wurden ihre Arbeiten prämiert, u.a. bekam sie erst im September den renommierten Österreichischen Musiktheaterpreis 2023 für ihre Regie von SALOME am Tiroler Landestheater Innsbruck verliehen. Ihre Inszenierung in Bremerhaven besticht durch Schlichtheit, Intelligenz und Emotionalität.

Der politische Gefangene Angelotti versteckt sich in der Kirche St. Andrea, wo sein Freund, der Maler Mario Caravadossi ein Madonnenbild fertigstellt. Als Vorlage diente ihm das Gesicht einer jungen Frau, die zum Beten regelmäßig in die Kirche kommt. Der Mesner erkennt in diesen Gesichtszügen die Gräfin Attavanti, Angelottis Schwester. Als Tosca die Kirche betritt, versteckt sich Angelotti erneut. Im Bild der Maria erkennt die Primadonna ebenfalls die Ähnlichkeit mit der Gräfin und reagiert mit Eifersucht. Caravadossi überzeugt sie aber von seiner Liebe und schickt sie fort. Kanonenschüsse sind zu hören. Angelottis Flucht wurde entdeckt, und Cavaradossi bietet ihm seinen Garten als Versteck an. Der Polizeichef Scarpia kommt in die Kirche und bemerkt sofort anhand einiger Indizien, dass Angelotti an diesem Ort war. Außerdem findet Scarpia einen Fächer. Er behauptet gegenüber Tosca, dies sei der Fächer der Gräfin, die mit dem Maler eine Affäre hätte. Schluchzend verlässt Tosca die Kirche, in der jetzt ein „Te Deum“ anlässlich des Sieges über Napoleon gefeiert wird. Scarpia schwört sich unterdessen, die Gunst Toscas zu erobern. In seiner Villa lässt er Caravadossi durch seine Schergen Spoletta und Scarrione genau in dem Moment vorführen, als auch Tosca eintrifft. Der Polizeichef befiehlt, Mario Caravadossi foltern zu lassen, bis er das Versteck des geflohenen Angelotti verrät. Tosca ist erschüttert und verrät nun selbst das Versteck. Darüber ist nun Caravadossi so empört, dass er den Polizeichef verspottet, indem er sich über einen scheinbaren Sieg Napoleons freut. Daraufhin ordnet Scarpia seine Exekution an. Nur wenn Tosca sich mit ihm einlässt, würde er ihren geliebte Maler verschonen. Kurz darauf stellt sich heraus, dass sich Angelotti umgebracht hat, um der Gefangenschaft zu entgehen. Trotzdem bleibt Scarpia bei seiner erpresserischen Methode, um Tosca zu unterwerfen. Als Lohn für ihre Gunst würde er eine Scheinhinrichtung organisieren, Mario Cavaradossi aber anschließend freilassen. Als sich Scarpia schließlich Tosca nähert, ersticht sie ihn mit dem Ausruf „Hier ist Toscas Kuss!“. Die Hinrichtung von Mario Caravadossi findet in einer Stunde statt: Tosca kommt und erzählt ihm, dass sie Scarpia getötet hat, und ihm nur eine Scheinhinrichtung bevorstehe. Er solle wie in einem Theaterstück mitspielen und sich, nachdem geschossen wurde, zu Boden fallen lassen. Die Hinrichtung folgt, Schüsse fallen, und Cavaradossi stürzt zu Boden. Tosca flüstert ihm zu, dass er sich still verhalten soll, bis die Vollstrecker verschwunden sind. Dann bemerkt sie, dass ihr Geliebter tot ist. Scarpia hat sich nun endgültig gerächt und Mario tatsächlich töten lassen. Bevor der Polizeiagent Spoletta sie wegen dem Mord an Scarpia verhaften kann, wählt Tosca den Freitod.

Angela Denoke verzichtet auf billige Effekthascherei und bleibt nah am Realismus. Zeitlich ordnet sie die Handlung nicht eindeutig ein: Einerseits werden wir an die eigene Geschichte unseres Landes erinnert, andererseits wirft sie einen kritischen Blick auf aktuelle Geschehnisse in Ländern, wo Populisten an der Macht sind. Dabei zeigt sie aber ebenso auf, dass selbst in einem totalitären Regime, kleine Blumen der Menschlichkeit am Wegesrand erblühen können: Der Mesner sieht sich als Hirte/Beschützer und achtet liebevoll auf die Kinder seiner Gemeinde; der Schließer lehnt beinah scheu einen Lohn vom Gefangenen Cavaradossi ab, als er sich bereit erklärt, Tosca eine Nachricht zu überbringen.

Die Motivation der handelnden Personen entwickelt die Regisseurin aus den Vorgaben des Librettos und vermeidet klischeeartige Charakterisierungen (schwarz – weiß, schön – hässlich, gut – böse). So befreit sie die Personen aus dem Korsett schablonenhafter Opernfiguren. Vielmehr lässt Denoke sie als reale Wesen agieren, die auch durchaus eine ambivalente Haltung zueinander haben dürfen. So behauptet der „böse“ Scarpia zwar, dass er Tosca, wie alle bisherigen Frauen vor ihr, abservieren wird, nachdem er ihre Gunst erhalten hat. Allerdings sprechen ihre Porträts in seinem Zimmer und der gesenkte Blick voller Unsicherheit und Scham beim Zusammentreffen mit ihr eine andere Sprache. Und auch Tosca zeigt gegenüber ihrem Peiniger unvermittelt Mitgefühl, als sie ihm, nachdem er erstochen vor ihr liegt, beinah liebevoll das Totenbett richtet. Aus der inneren Diskrepanz und den Seelenzuständen der Figuren entwickelt sich eine so hohe emotionale Spannung, die eine äußere Ablenkung unnötig macht.

Ausstatterin Susana Mendoza kleidet das Ensemble in gedeckten Tönen bar jeglichem Glamour. Einzig Tosca darf ihre mondäne Robe einem Schutzwall gleich tragen, die ihr allerdings Schicht für Schicht entrissen wird, bis ihre Empfindungen völlig bar und bloß liegen. Auf der mit schwarzem Stoff ausgeschlagenen Bühne platziert Mendoza ein riesiges Holzkreuz, das mal als Altar, Schreibtisch oder Laufsteg fungiert und mal schutzbietend, mal offenbarend wirkt. Einzig ein langer Vorhang und die großen Porträts setzen (im Kombination mit dem stimmungsvollen Licht-Design von Thomas Güldenberg) gekonnt Akzente im eher reduzierten Bühnenbild. Minimalismus „at its best“.

Während in anderen Inszenierungen das Bild der Madonna im 1. Akt die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zieht, wird uns hier ein Blick darauf verwehrt. Vielmehr liegt der Fokus voll und ganz auf unserer Titelheldin, die ab dem 2. Akt durch drei überlebensgroße Porträts allgegenwärtig ist. Diese ausdrucksstarken Kunstwerke schuf die Performancekünstlerin anna.laclaque, und ich würde mir so sehr wünschen, dass sie nach Beendigung der Aufführungsserie einen festen Platz im Foyer des Theaters finden dürften.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


„Ich möchte Menschen zum Weinen bringen: darin liegt alles…!“ lautet ein überliefertes Zitat von Giacomo Puccini. Damit ihm dies gelang, wählte er melodramatische Sujets und schuf dafür eine aufwühlende Musik. Bei GMD Marc Niemann und dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven waren die Kompositionen des Maestros in den aller-allerbesten und -fähigen Händen. Die schwelgerischen Melodienbögen, die ich so sehr an Puccinis Musik mag, flossen schier aus dem Orchestergraben. Mal rollte die Musik leidenschaftlich und kraftvoll über mich hinweg, dann wieder erklangen die Arien zart und voller Süße. Wunderbar!

Mario El Fakih Hernández bewies auch diesmal, dass er mit Chor und Extrachor einen voluminösen Klangkörper schaffen kann, der u.a. beim „Te Deum“ stimmstark für einen Gänsehaut-Moment bei mir sorgte. Unterstützung erhielt er beim Kinderchor durch Katharina Diegritz, die abermals die kleine Rasselbande zu motivieren wusste, ohne dass der Wohlklang zu Schaden kam. Als Solist aus dem Kinderchor sang Paul Dimitrov mit einem berührenden, beinah brüchigen Knabensopran sein klagendes Lied und wirkte dabei in seinem Erscheinungsbild weniger als junger Hirte. Vielmehr stellte er für mich einen Engel des Todes dar, der in seiner Reinheit die Verstorbenen über die Schwelle führt: Richtung offen. Das Sterben kann durchaus durch schändliche Umstände befleckt sein, doch der Tod ist stets unschuldig und unberührt.

Die Schergen Scarpias wurden durch Andrew Irwin (Spoletta) und James Bobby (Scarrione) im Himmler-Look beängstigend unsympathisch porträtiert. Wobei besonders Andrew Irwin in seiner Rolle eine anbiedernde und umso abstoßendere Unterwürfigkeit darbot. Marcin Hutek konnte sein Talent in den beiden kleinen Rollen als Angelotti bzw. der Schließer leider nur bedingt zeigen: Eine große Partie (Barbier oder Don Giovanni) wäre ihm endlich zu gönnen. Ulrich Burdack gefiel als mitfühlender, allzu menschlicher Mesner und sorgte im Zusammenspiel mit dem Kinderchor für die wenigen auflockernden Momente in dieser „Opera drammatica“.

Bleibt „nur“ noch unser „Trio infernale“ bestehend aus Tosca, Cavaradossi und Scarpia: Gast Bryan Boyce ließ hinter Scarpias Fassade des machtbesessenen und geltungshungrigen Despoten auch die Unsicherheit der Figur durchblitzen. Mit seinem dunklen, vollen Bass-Bariton vermochte er sowohl die stätig unterschwellig mitschwingende Gefahr wie auch die innere Zerrissenheit, die Scarpia als gebrochenen Charakter kennzeichnet, zu vermitteln. So gelang es ihm, innerhalb eines eher statischen Rollenprofils, feine Nuancen in der Darstellung herauszukitzeln.

Konstantinos Klironomos vermittelte glaubhaft Mario Cavaradossis Wandel vom anfänglich jugendlichen Helden zum gebrochenen Mann: Klironomos platzierte seine ungestümen Ausbrüche voller tenoraler Kraft und agiler Geschmeidigkeit. In Etappen veränderte sich seine Stimme. Beinah schmerzlich spürte ich beim Zuschauen/Zuhören die zunehmende Tragik. Die Arie „E lucevan le stelle/ Es funkeln die Sterne“ gestaltete er einerseits voller Süße, und gleichzeitig schwang eine Bitterkeit in jedem Ton mit. Gemeinsam mit Signe Heiberg als Floria Tosca bildete er ein umwerfendes Leading-Paar, das sich vokal ergänzte und darstellerisch die Bälle zuwarf.

Heibergs Tosca war die absolut Künstlerin, die verehrungswürdige Diva und ganz Weib, der es unter anderen Umständen nie in den Sinn gekommen wäre, dass sie angreifbar sein könnte. Nur tröpfchenweise sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass von ihrem Verhalten das Wohl anderer Menschen abhängt, und dass der Verlust von Stolz und Würde ein geringeres Opfer bedeutet gegenüber dem Tod ihres Geliebten. Heiberg schleuderte ihren auftrumpfenden Sopran wie eine Waffe ihren Gegnern entgegen, nur um im nächsten Moment in fein geführten Gesangslinien die ambivalenten Gefühle der Figur zu verdeutlichen. Mit der berühmten Arie „Vissi d’arte, vissi d’amor/ Nur der Schönheit weihte ich mein Leben“ wendet sich Tosca flehentlich zu Gott, bei der ich in der brillanten Interpretation durch Signe Heiberg Empfindungen wie Machtlosigkeit und Resignation herauszuhören schien.

Von den anfangs so selbstbewussten und kraftstrotzenden Charakteren blieben nur noch Menschen mit zerbrochenen Seelen zurück, denen die Vergangenheit genommen und die Zukunft verwehrt wurde. Und so hilten sich Floria und Mario wie verängstigte Kinder in einem kurzen, flüchtigen Moment des Glücks nochmals an der Hand, vielleicht schon ahnende, dass keine frohe Zukunft auf sie wartet, sondern dass auch sie nur allzu bald dem Engel des Todes folgen werden…!

Zwischen dem letzten verklungenen Ton aus dem Orchestergraben und dem Einsetzten des aufbrausenden Beifalls löste sich aus meiner Brust ein Seufzer: „Schön war’s!“


Nachwort: Seitdem ich mich dem Stadttheater Bremerhaven verbundener fühle, verfolge ich auch ein wenig die mediale Berichterstattung über das Haus und besonders zu den jeweiligen Inszenierungen. Dabei fällt mir zunehmend auf, dass sich im Feuilleton immer noch Plattitüden standhaft halten, die – meiner Meinung nach – wenig aussagekräftig, wenig differenziert sind. Da wird sich einer Sprache bedient, die hinter ihrem scheinbaren Wohlwollen eine kleine Giftspritze verbirgt.

So schrieb Wolfgang Denker im „Weser Kurier“ über die gesanglichen Leistungen von Signe Heiberg und Konstatinos Klironomos „Beide würden in diesen Partien auch an weit größeren Häusern Eindruck machen.“. Ich las dies und stellte mir unverzüglich die Frage „Was möchte Herr Denker mit diesem Satz ausdrücken?“. Ich machte mir da durchaus so meine Gedanken, und natürlich sind meine Interpretationen absolut subjektiv. Aber ich bin in der Zwischenzeit auch müde geworden, ständig irgendwelche indifferenten Worthülsen lesen zu müssen.

Oberflächlich wirkt dieser Satz wie ein Lob: „Hey, die Beiden hätten das Zeug, auch an größeren Häusern zu singen.“, dann der Untertext: „Doch warum sind sie dann im Kaff Bremerhaven hängen geblieben?“. Der Umkehrschluss wäre für mich: An einer provinziellen Klitsche wie das Stadttheater Bremerhaven sind brillante Künstler*innen verschwendet, da täten es doch auch durchschnittliche Sänger*innen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie einige Schreiberlinge (m/w/d) es mit einer untrüglichen Sicherheit schaffen, den Künstler*innen und/oder dem Theater unterschwellig eine Watschen zu verpassen und dies als positives Feed-back zu verpacken. Ihr denkt vielleicht, dass ich übertreibe, allzu empfindlich reagiere, oder es sich gar um einen Einzelfall handelt?

Au contraire, mes amis!

Verpasst auch nicht die nächsten Folgen
unserer beliebten Rubrik FEUILLETON’SCHE FLOSKELN:
Folge 2 „…prädestiniert sie/ihn auch für Wagner-Partien.“
Folge 3 „…dem überdurchschnittlichen Sängercast.“
Garantiert echt und ohne Werbeunterbrechung!


Grandiose Sänger*innen, grandioses Orchester, grandiose Inszenierung: Worauf wartet ihr noch? Ab mit euch zu TOSCA am Stadttheater Bremerhaven.

[Rezension] Chloé Perarnau – Mit dem Orchester um die Welt. Wimmelbuch

Schon vor über einem Monat hat die Spielzeit 2023/2024 auch an meinem Stammtheater begonnen, und somit ist auch das Philharmonische Orchester Bremerhaven wieder voll im Einsatz. Doch in der Sommerpause genossen die Orchestermusiker*innen ihren verdienten Urlaub und waren über alle Länder verstreut. Doch via Social Media ließen sie ihre Fans und Follower daran teilhaben, indem sie fleißig Fotos schickten.

Beinah scheint es so, als hätte Chloé Perarnau sich dies zum Vorbild für ihr Wimmelbuch genommen. Doch im Vergleich zu den Musiker*innen in ihrer Geschichte, waren die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven wieder pünktlich zur Stelle und mussten nicht persönlich von ihrem GMD Marc Niemann eingesammelt werden.

Das große Konzert findet schon in einer Woche statt, aber alle Mitglieder des Orchesters sind noch im Urlaub. Daher müssen der Maestro und sein treuer Assistent sich auf die Suche nach ihnen machen. Rund um die Welt haben sich die Musiker verstreut: die Harfenistin ist in Porto, die Trompeter sind in Rio, die Flötisten in Abidjan, die Geiger in Tokio. Aber in den überfüllten und hektischen Straßen ist es nicht leicht, die Musiker aufzuspüren! Kannst du dem Maestro helfen, die Musiker zu finden?

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Als Kind liebte ich die Bücher von Ali Mitgutsch, der als „Vater der Wimmelbücher“ galt und leider im letzten Jahr verstorben ist. Mitgusch schärfte die Sicht von uns Kindern auf die Welt und zeigte den Zauber im Alltäglichen. So freute ich mich sehr, als ich in der Herbst-Vorschau vom Kunstmann-Verlag von diesem Wimmelbuch erfuhr – zumal es gleich zwei meiner Interessensgebiete streift: meine Schwärmerei für das Wimmelbuch und meinen Hang zum Theater und zum Konzert.

Nun halte ich dieses Buch in den Händen und fühle einen Hauch Enttäuschung in mir aufkeimen: Ja, ich weiß, dass ich unvoreingenommen sein und keine Vergleiche anstellen sollte. Doch ist es nicht allzu menschlich, dass ich voreingenommen bin und Vergleiche anstelle? Mitgutsch ist und bleibt in seiner Kunst unerreicht, und jede*r, die/der sich an ein Wimmelbuch wagt, begibt sich auf das berüchtigte und gefährliche „dünne Eis“.

Dabei hat Chloé Perarnau durchaus ihren eigenen Stil, der mich an kindliche Filzstift-Zeichnungen erinnert, und ist damit nah an der Erfahrungswelt ihres jungen Publikums. Zumal ihre Illustrationen recht detailreich daherkommen und mit so manchen skurril-witzigen Einzelheiten überraschen (Selbstverständlich besucht die Triangel-Spielerin die Pyramiden in Ägypten. 😉).

Auch gelingt es ihr gut, die Unterschiede der Länder in Architektur, Vegetation und Lebensgefühl zu vermitteln. Doch leider erfährt man von den jeweiligen Instrumenten so gut wie nichts. Gerade da hätte ich mir ein wenig „Mehr“ gewünscht, um das Interesse der Kids an ein klassisch besetztes Orchester zu wecken, und sie so sehr neugierig zu machen, dass sie ein Live-Konzert besuchen möchten.

Was bleibt, ist die Erinnerung an eine charmante Idee und meine Sehnsucht nach den alten Wimmelbüchern aus Kindertagen.


erschienen bei Kunstmann / ISBN: 978-3956145711 / in der Übersetzung von Mathilde Lully

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!