[Rezension] Doris Eisenburger – Ein Amerikaner in Paris. Sinfonische Dichtung von George Gershwin

Ungefähr zur selben Zeit als ich über Die Flöhe in der Oper stolperte, polterte mir auch dieses Bilderbuch vor die Füße. Bei diesem Titel musste ich zugreifen, zwangsläufig, ohne zu zögern und ohne Wenn und Aber, dafür liebe ich das gleichnamige MGM-Musical zu sehr. Doch ich sollte eine kleine Überraschung erleben: Doris Eisenburger, Autorin und Illustratorin in Personalunion, machte sich nämlich nicht die Filmgeschichte zu eigen, sondern kreierte eine eigenständige visuelle Fassung. Dabei lauschte sie dem Orchesterwerk von George Gershwin sehr genau und schuf um diese Komposition herum ihre Geschichte…

Paris an einem Frühlingstag im Jahre 1928: Der junge George Gershwin kommt am Bahnhof an. Einige Wochen wird er in Paris verbringen, in der Hoffnung, Inspiration für ein neues Orchesterwerk zu erhalten. Nachdem er sein Gepäck im Hotel verstaut hat, macht er sich auf einen Spaziergang durch die Straßen der legendären Seine-Metropole. Hungrig saugt er die Geräusche der Stadt in sich auf. Am Montmartre macht er die Bekanntschaft mit einer entzückenden Französin, die ihn zum Jardin des Tuileries begleitet. Doch die Liebe ist unstet – besonders in Paris: Am Pont Neuf trennen die Beiden sich wieder, und George setzt seinen Spaziergang alleine fort. Doch gänzlich alleine ist er nicht: Ein kleiner, entzückender Hund verfolgt ihn schon seit einer Weile. Gemeinsam besteigen sie den Eifelturm. Die Aussicht von dort oben ist einfach atemberaubend. Zurückgekehrt in seinem Hotelzimmer setzt er sich ans Klavier, beginnt zu komponieren und verwandelt alle seine Eindrücke des Tages in Musik.

Dieses Bilderbuch ist einfach nur entzückend! Bei dieser Thematik muss das entsprechende Orchesterwerk parallel zum Lesen der Geschichte angehört werden, und selbstverständlich ist eine CD mit der Musik zu „An American in Paris“ diesem Buch beigefügt. In ihren Texten kommentiert Doris Eisenburg den Spaziergang Gershwins, erklärt den Einsatz der Instrumente, gibt Hinweise zum Gehörten, symbolisiert dies aber auch in ihren Illustrationen. Entsprechende Hinweise, welcher Track zu welchem Bild gehört, sind im Text vermerkt.

Bei der Musikaufnahme konnte der Verlag dankenswerter Weise auf das Archiv vom renommierten NAXOS-Label zurückgreifen und wählte eine Aufnahme aus dem Jahre 1989 mit dem Slovak Philharmonic Orchestra unter der musikalischen Leitung von Richard Hayman, die frisch remastert sehr dynamisch erklingt.

HINWEIS: Bei der obigen Aufnahme handelt es sich nicht um die, die dem Buch beigefügt ist. Es ist eine ältere Aufnahme, und sie dient nur dazu, einen Eindruck von der Musik zu vermitteln. 


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Auf zweiseitigen Panoramabildern begleiten wir den Komponisten von rechts nach links zu den Sehenswürdigkeiten von Paris. Dabei wirken die Bilder in ihren zarten pudrigen Aquarell-Tönen wie durch leichter Hand aufs Papier gezaubert und besitzen eine flirrende Lebendigkeit. Detailreich fängt Eisenburger das Savoir-vivre dieser Stadt ganz und gar bezaubernd ein und schafft so kunstvolle Illustrationen voller Atmosphäre. Sogar der Wechsel der Tageszeiten wird bei ihr dadurch angedeutet, dass die Schatten immer länger werden und die Farbgebung der Bilder sich dezent verändert. Wunderbar!

So folgte ich dem berühmten Komponisten George Gershwin auf seinem Rundgang durch Paris. Und während ich seiner grandiosen Musik lauschte, schniefte ich voller Ergriffenheit ein wenig in ein Taschentuch.


erschienen bei Annette Betz / ISBN: 978-3219116175

ebenfalls erschienen bei Naxos/ CD 8.550295 (nur die Musik)

[Rezension] Fulvio Tomizza – Die Flöhe in der Oper/ mit Illustrationen von Axel Scheffler

Mit dem Besuch einer Oper in meinem Stamm-Theater war am vergangenen Sonntag die Abo-Saison 2022/2023 für mich beendet. Nur wenige Vorstellungen stehen noch auf dem Spielplan, bei vielen Inszenierungen taucht der Hinweis „zum letzten Mal“ auf, und bei mir macht sich ein wenig der Trennungsschmerz bemerkbar. Natürlich leide ich da auf sehr hohem Niveau: Schließlich startet mein Stamm-Theater im September mit der Oper „Tosca“ von Giacomo Puccini fulminant in die neue Spielzeit, und ich wünsche ihm bzw. jedem Theater viele, viele ausverkaufte Vorstellungen. In der noch aktuellen Spielzeit blieben leider so manche Plätze leer (An der Qualität der Inszenierungen kann es nicht gelegen haben, wie ich mich persönlich überzeugen durfte.).

Natürlich stellte ich mir die Frage, woran es liegen könnte. Stirbt da etwa so langsam eine Publikumsgeneration weg, wobei die nächste Generation noch nicht nachgewachsen ist? Scheuen die jungen Menschen den Besuch eines Theaters, weil sie der irrigen Meinung sind, dass die Oper eine veraltete Kunstform ist? Oder gibt es da Berührungs- bzw. Schwellenängste aus Unsicherheit, sich im holden Musentempel evt. daneben zu benehmen? Je früher der Nachwuchs an das Theater herangeführt wird, umso besser: Eine Berührungs- bzw. Schwellenangst entsteht dann erst gar nicht. Zudem gibt es da einige ganz wunderbare Kinder- und Jugendbücher, die dabei unterstützen können, Unsicherheiten zu vermeiden.

Im Hotel „Zur Oper“ lebt der Familien-Clan der Floh-Familie von Hupf auf dem Dachboden. Unter der Führung des weisen Familienoberhaupts Opa Hinkefuß lässt es sich die gesamte Sippe nicht nehmen, Abend für Abend die Vorstellungen im großen Opernhaus zu besuchen, das direkt gegenüber dem Hotel liegt. Opa Hinkefuß hat seinen Clan instruiert: In der Oper wird kein Quatsch gemacht, und die Zuschauer nicht angesprungen. Es wird nur geschaut, gegessen wird woanders! So werden die Vorstellungen von den Flöhen mit fachkundigem Blick beäugt. Besonders das kleine Flohmädchen Saltellina ist von der bunten Bühnenwelt so fasziniert, dass sie so nah wie möglich am Geschehen sein muss, am liebsten direkt auf dem Souffleurkasten. Ihre Cousins und Cousinen wollen da natürlich nicht zurückstehen und wagen sich noch weiter auf die Bühne. Einige springen sogar der Primmadonna direkt ins Dekolleté, und als der Tenor die Phrase schmettert „Einen Floh hat man mir ins Ohr gesetzt.“, kratzt er sich vehement genau am besungenen Körperteil. Die Sänger*innen können einfach nicht anders, müssen sich dauernd kratzen und lösen damit beim Publikum einen wahren Gelächter-Orkan aus. Opa Hinkefuß ist darüber „not amused“…!

Fulvio Tomizza hat mit „Die Flöhe in der Oper“ eine charmante, niedliche und gänzlich unaufgeregte Geschichte für die Kleinen geschrieben. Dabei lässt er die eine oder andere Verhaltensregel (wenn ich dies so nennen darf) äußerst dezent in die Handlung einfließen. Im Vordergrund steht bei ihm aber, das Interesse der Kids an der Oper zu wecken und deren Neugierde so stark zu schüren, dass sie bestenfalls das Gelesene auch gerne „live“ auf der Bühne erleben möchten. Als Anhang präsentiert er ebenso kindgerecht viele, viele Fakten u.a. zum Opernhaus, zum Orchester sowie zu den Werken und ihren Schöpfern.

Axel Scheffler ist als Illustrator – dank „Der Grüffelo“ – sicherlich vielen ein Begriff. Auch hier zauberte er wieder humorvolle Bilder, in denen er die Kunstform „Oper“ liebevoll auf den Arm nimmt, indem er ironisch mit gängigen Klischees spielt.

Ich freue mich immer, wenn ich Bücher entdecke, die schon den Kids die Magie des Theaters näher bringen und zeigen, dass die Oper eine Kunstform für jede und jedem ist, und seien sie noch so klein…! 😉


erschienen bei Jacoby & Stuart / ISBN: 978-3946593720 / in der Übersetzung von Edmund Jacoby

[Rezension] Nicholas Blake – Tod im Wunderland

Strahlender Sonnenschein, blaues Meer, nette Zerstreuungen mit sympathischen Menschen: Die Ferienkolonie „Wunderland“ verspricht ihren Gästen die perfekte Urlaubsidylle. Doch leider wird der Friede jäh gestört als ein Unbekannter, der sich selbst als „Der verrückte Hutmacher“ bezeichnet, seinen Schabernack mit den Gästen treibt. Was anfangs mit kleineren, eher harmlosen Sabotageakten beginnt, gipfelt in der Vergiftung eines Hundes. Der Manager Captain Wise fürchtet um den guten Ruf der Kolonie und bittet den jungen Forscher Paul Perry um diskrete Mithilfe: Perry soll im Rahmen einer Feldforschung für seine Studien die Gäste befragen, um aus deren Antworten auf die Identität des Übeltäters schließen zu können. Dumm nur, dass Perry zunehmend Zweifel an seinen eigenen Geisteszustand hegt und so befürchten muss, dass er selbst der Übeltäter ist. Als die „Streiche“ des verrückten Hutmachers zunehmend aggressiver werden, mischt sich James Thistlethwaite, der mit Gattin und Tochter ebenfalls als Gast im Wunderland weilt, in die Untersuchungen ein und fordert von Captain Wise, dass dieser, wenn schon nicht die Polizei, zumindest professionellere Hilfe in Anspruch nimmt, als Paul Perry zu leisten imstande ist. Als renommierter Herrenschneider kennt er die halbe Welt. Zufällig zählt zu seinen treuen Kunden auch der brillante Privatermittler Nigel Strangeways, der, sofern er nicht anderweitig beschäftigt wäre, sicherlich anreisen und eine unermessliche Hilfe bei der Enttarnung des verrückten Hutmachers sein würde. Doch als Nigel Strangeways im Wunderland eintrifft und die Ermittlungen aufnimmt, spitzen sich die Ereignisse unaufhaltsam zu…!

Mit „Tod im Wunderland“ erweitert der Klett-Cotta-Verlag seine Reihe an Wiederveröffentlichungen klassisch-britischer Kriminalromane um den dritten Fall rund um den gewieften Privatermittler Nigel Strangeways aus der Feder von Nicholas Blake (Pseudonym für Cecil Day-Lewis). Und wie schon bei den beiden Vorgängern Das Geheimnis von Dower House und Das Geheimnis des Schneemanns erfreute mich dieses Werk mit einer Fülle an prallen Charakteren, flüssigen Dialogen und einer scheinbar verworrenen Handlung mit überraschenden Wendungen.

Zudem scheut der Autor sich nicht, seinen Helden eher verspätet in die Handlung einzuführen. Vielmehr gönnt er sich die nötige Zeit, um die Atmosphäre in der besagten Ferienkolonie und die Stimmungsschwankungen unter den Gästen bei zunehmender Panik sehr detailliert zu schildern. Er schafft mit dem Setting der Ferienkolonie die Grundlage, um recht unterschiedliche Personen glaubhaft aufeinanderprallen zu lassen. Diese Personen, die aus verschiedenen Milieus stammen, reisen aus unterschiedlichen Richtungen an, verbringen ihre Urlaubswochen gemeinsam, reisen danach in unterschiedlichen Richtungen wieder ab und sehen sich womöglich nie wieder. Nur hier in der Ferienkolonie „Wunderland“ entsteht dieses Konglomerat aus vielfältigen Charakteren innerhalb eines ihnen unüblichen Rahmens. Zwischenmenschliche Reibungspunkte sind da unvermeidbar und sorgen für zusätzliche Spannung in der Handlung.

Apropos: Der Autor gliedert die Handlung in drei (ungleiche) Teile: Im 1. Teil überlässt er Paul Perry das Ruder und lässt uns an seinen Gedanken teilhaben. Im 2. Teil greift nun James Thistlethwaite ins Geschehen ein und rollt sozusagen den roten Teppich für den Ermittler aus. Erst in Teil 3 sind wir gänzlich bei unserem Helden. Dieser Teil ist verständlicherweise der kürzeste Teil dieser Trilogie, da alle nötigen Informationen zur Lösung des Falles in den ersten beiden Teilen zu finden sind.

Auch bei Nicholas Blake darf der Detektiv die Lösung des Falls vor großem Publikum kundtun: Privatermittler Nigel Strangeways lässt es sich am Ende nicht nehmen, die möglichen Verdächtigen zu versammeln, um die wahren Täter dann bei einer außergewöhnlichen Teeparty zu entlarven.

Doch mit dieser effektvollen Art, den Fall aufzulösen und somit zu beenden, ist er durchaus in bester literarischer Gesellschaft. 🧐


erschienen bei Klett-Cotta / ISBN: 978-3608986945 / in der Übersetzung von Elina Baumbach

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Peter Swanson – Neun Leben

Da gibt es neun Menschen von unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Berufen und in unterschiedlichen Staaten der USA lebend. Scheinbar sind sie sich noch nie begegnet und haben nichts miteinander gemein, außer dass ihre Namen auf einer Liste stehen. Neun Namen zu neun Leben: Jede*r dieser neun Menschen erhält die besagte Liste zugeschickt und reagiert darauf sehr unterschiedlich: ratlos, amüsiert, gleichgültig, verängstigt. Doch dann wird Frank Hopkins, ein harmloser älterer Herr, der ein Urlaubsresort in Maine betreibt, ermordet aufgefunden. Sein Name war ebenso auf der mysteriösen Liste vermerkt, wie der von FBI-Agentin Jessica Winslow, die nun verzweifelt versucht, die Personen hinter den Namen ausfindig zu machen, in der Hoffnung, so Rückschlüsse auf den Täter ziehen zu können. Es wird ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der Mörder bleibt nicht untätig. Schließlich weiß er als Einziger sehr genau, wo seine Opfer zu finden sind…!

Autor Peter Swanson greift in das Füllhorn der Kriminalliteratur, wählt die gewohnten Ingredienzien aus den Klassikern dieser Zunft und klöppelt aus ihnen einen kurzweiligen, gut zu lesenden Krimi. Dabei zitiert er hemmungslos eines der bekanntesten Werke aus der Feder von Agatha Christie Und dann gab’s keines mehr. Diesen offensichtlichen „Plagiat“ verzeihe ich ihm nur allzu gerne, denn es wird im Text offen auf diesen Roman angespielt.

In kurzen Episoden gibt Swanson seiner Leserschaft einen schlaglichtartigen Einblick in die Charaktere der Personen, die sich hinter den Namen auf der Liste verbergen. Er springt in kurzen Episoden von einem Leben zu einem anderen Leben, die alle recht unaufgeregt vergehen. Alles wirkt irgendwie banal alltäglich und darum nur allzu menschlich. Spannung schöpft der Autor aus der ständig präsenten und über alle schwebende Gefahr, da niemand weiß, wann der Mörder wieder zuschlagen wird. Umso überraschter reagierte ich, wenn plötzlich für mich absolut unvermittelt und somit nicht vorhersehbar ein Mord geschah. Dann starrte ich völlig ungläubig auf die gerade zuvor gelesenen Sätze und musste diese durchaus ein zweites Mal lesen, um das Unfassbare begreifen zu können. Ich erwartete es und war dann doch verblüfft, wenn es passierte. Großartig!

Dank dieser überschaubaren Episoden bzw. Kapitel liest sich der Roman flott „weg“. Zudem werden die Figuren äußerst abwechslungsreich geschildert und überzeugen durch eine durchaus ambivalente Charakterisierung. Auch scheut Swanson sich nicht, (Achtung: SPOILER!) seine Heldin zu opfern, somit meine bisherige Sichtweise auf die Handlung völlig durcheinanderzubringen und mich bis kurz vorm Schluss völlig im Unklaren zu lassen, in welche Richtung sich der Plot entwickelt.

Leider schlichen sich auch einige kleine Logikfehler in die Handlung ein. So konnte ich nicht immer schlüssig die Vorgehensweisen des Täters nachvollziehen, wobei die Auflösung ein wenig konstruiert auf mich wirkte, und somit einige Fragen unbeantwortet blieben.

Den kleinen überraschenden Twist am Ende des Romans empfand ich als Zugeständnis des Autors an die eher konventionellen Leser*innen, die am Ende eines Krimis ein wie auch immer geartetes Happy End für das persönliche Seelenheil benötigen. Für mein Empfinden war dieser Twist bei diesem ansonsten solide geschriebenen Roman absolut entbehrlich.

Mit diesem gut erzählten „Whodunit“ schenkt uns Autor Peter Swanson seine respektvolle Verbeugung vor dem klassischen Kriminalroman und seinen Schöpfer*innen.


erschienen bei Oktopus (bei Kampa) / ISBN: 978-3311300458 / in der Übersetzung von Fred Kinzel

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Oscar Wilde – Das Bildnis des Dorian Gray/ mit Illustrationen von Anna und Elena Balbusso

Er ist schön. Er ist so schön, dass er seinem ergebenen Freund dem Maler Basil Hallward zu einem seiner besten Porträts inspiriert. Er ist so schön, dass selbst der für seinen Sarkasmus bekannte Lord Henry Wotton von seiner Schönheit geblendet ist, ihm mit verführerischen Worten gänzlich neue Gedanken in den Kopf setzt und fortan zu seinem persönlichen Mentor wird. Er ist so schön, dass er den Gedanken nicht ertragen kann, dass diese Schönheit im Laufe der Zeit welkt, während sein Porträt in ewiger Jugend weiterhin erstrahlen wird. Wie ungerecht erscheint Dorian Gray diese Tatsache. Umso erstaunter bemerkt er eine Veränderung am besagten Gemälde, nachdem er beinah herzlos auf den Suizid seiner von ihm verstoßenen Geliebten reagierte. Die Veränderungen am Gemälde sind anfangs nur vage auszumachen, dann werden sie immer offensichtlicher. Keine seiner noch so verworfenen Ausschweifungen der vergehenden Jahre hinterlässt in seinem engelsgleichen Gesicht den allerkleinsten Makel. Stattdessen entwickelt sich sein Porträt zu einer widerwärtigen und abstoßenden Fratze seiner selbst. Dorian fühlt sich so sehr unantastbar, dass er selbst vor dem Mord an dem Schöpfer dieses Bildes nicht zurückschreckt. Doch auch wenn sein Antlitz unberührt bleibt, so bleibt das Bildnis als mahnendes Zeugnis für jede seiner Verfehlungen bestehen. Die Angst um seiner Entdeckung verführt Dorian zu einer verhängnisvollen Tat…!

Neben etlichen Erzählungen und Märchen, Bühnenstücke und Essays war „Das Bildnis des Dorian Gray“ der einzige Roman, den Oscar Wilde veröffentlichte. Ich las diesen Roman und war versucht, alle intelligenten Zitate, geistreichen Bonmots und süffisanten Bemerkungen zu markieren. Doch ich unterließ dies, da ich fürchtete, dass danach in meinem Buch mehr markierter als un-markierter Text zu finden wäre. Nachdem ich schon einige seiner Stücke auf der Bühne bewundern und mich an seinem Erstlingswerk Das Gespenst von Canterville erfreuen durfte, hege ich gegenüber diesem Autor eine kleine Bewunderung. Dieser Mann war ein so genauer Beobachter der menschlichen Natur und zudem ein brillanter Erzähler und fulminanter Satiriker. Mit geschliffenen Worten deckte er die Verlogenheit und Heuchelei der damaligen Gesellschaft auf, in der Schönheit und Jugend beinah götzenhaft verehrt wurden. Der schöne Schein galt mehr als die realen Personen hinter der Fassade. Wer es wagte, diese Fassade einzureißen, musste bestraft werden.

Nach Erscheinen des Romans wurde dieser von Kritikern wortwörtlich in der Luft zerrissen. Die Rezensenten fanden kein einziges gutes Wort an diesem Werk und wünschten es auf den Scheiterhaufen. War dieser Umstand schon empörend, sollte im Jahre 1895 im legendären Schauprozess gegen Wilde diese Farce auf die Spitze getrieben werden. Die Anklage versuchte mit genau diesem Roman, den Beweis für Wildes Schuld zu erbringen. Da wurden Textpassagen aus dem Zusammenhang der Handlung gerissen und öffentlich zitiert, um mit ihnen Wildes wahres Wesen, seine dekadenten Gedanken und abstoßenden Moralvorstellungen offenzulegen. Es ging hier nicht um die Wahrheitsfindung, vielmehr sollte eine kritische Stimme an der damaligen verklemmt-viktorianischen Gesellschaft mundtot gemacht und seine Reputation im Kreuzverhör demontiert werden. Der Künstler wurde unter Zuhilfenahme – oder vielmehr: Missbrauchs – seines Kunstwerks diskreditiert. Das Ergebnis: Wilde wanderte für zwei Jahre ins Zuchthaus.


Ich glaube, kaum ein anderer Roman ist in so vielen Übersetzungen und so vielen Verlagen erschienen wie „Das Bildnis des Dorian Gray“. Und auch der renommierte Reclam-Verlag hat schon einige Editionen dieses Romans im Verlags-Portfolie. Nun legt er auch eine illustrierte Fassung vor, zu der die Schwestern Anna und Elena Balbusso Illustrationen schufen, die beinah ätherisch bzw. wie ein Gemälde wirken. Wobei die Figuren mit makellos-maskenhaften Gesichtern theatralisch innerhalb eines Settings agieren, das – auch aufgrund der gewählten Perspektive – wie ein Bühnenbild eines Wilde-Stückes erscheint. Atmosphäre erhalten die Illustrationen durch das Spiel von Licht und Schatten sowie der detaillierten Wiedergabe von den Strukturen der dargestellten Stoffe und Tapeten. Das gesamte Erscheinungsbild dieses Buches ist äußerst geschmackvoll gestaltet: von der feinen Abstimmung der Farben über das ansprechende Muster des Vorsatzpapiers bis zur Gestaltung der Seitenzahlen. Das Papier fühlt sich glatt und seidig an, während der Einband eine leicht raue Textur vorweist, so als wäre er zum Schutz von einem Firnis, wie sie bei Gemälde verwendet werden, überzogen. Ich bin mir sehr sicher, dass der Ästhet Wilde Gefallen an diesem Buch gefunden hätte.


Im Mai 1897 wurde Oscar Wilde – durch die Zwangsarbeit psychisch und physisch massiv angeschlagen – aus dem Gefängnis entlassen. Er kehrte seinem Heimatland, dass ihn so wenig schätzte, den Rücken und ging nach Paris ins Exil, wo er mehr schlecht als recht lebte und ständig auf das Wohlwollen von Freunden und Gönnern angewiesen war. Im Laufe der verbleibenden Jahre verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends, und doch blieb er bis zum Schluss der Schöngeist mit dem erlesenen Geschmack. So warf er einen letzten Blick auf die abscheuliche Tapete seiner Unterkunft und verabschiedete sich von der Welt mit den Worten:

„Die Tapete und ich liefern uns ein tödliches Duell. Einer von uns beiden muss gehen.“


erschienen bei Reclam / ISBN: 978-3150114445 / in der Übersetzung von Ingrid Rein

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

ebenfalls erschienen bei Reclam/ ISBN: 978-3150050088, Diogenes/ ISBN: 978-3257214116, anaconda/ ISBN: 978-3730612583 und Insel/ ISBN: 978-3458360841 (alle ohne Illustrationen) oder als Graphic Novel erschienen bei Knesebeck/ ISBN: 978-3957285454

[Rezension] E.T.A. Hoffmann – Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde/ mit Illustrationen von Alexander Pavlenko

E.T.A. Hoffmann: Er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Romantik, der beeinflusst wurde von den Gespenstergeschichten des 18. Jahrhunderts, der englischen Schauerliteratur und den frühromantischen Märchen. Hieraus schuf er seinen sehr eigenen Stil für seine Novellen und Erzählungen, die wiederum prägend waren für nachfolgende Genrationen an Literaten. Aber seine Werke dienten auch bekannten Komponisten als Vorlage für ihre musikalischen Werke: Jacques Offenbach gestaltete aus seinen Geschichten die Oper Hoffmanns Erzählungen, und das Märchen Nussknacker und Mäusekönig inspirierte Pjotr Iljitsch Tschaikowsky zu seiner weltberühmten Ballettmusik.

Bei „Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde“ handelt es sich um ein so genanntes Kunstmärchen, das im Jahr 1822 erstmals erschienen ist. Nun würde jeder davon ausgehen, dass ein Märchen der Fantasie seines Autors entsprungen ist und somit viel Fiktion und wenig Realismus enthält. In diesem Fall scheint die satirische Adern Hoffmanns mit ihm durchgegangen zu sein: Die Erstfassung wurde zensiert und um zwei Kapitel gekürzt. Sie enthielt Details, die allzu deutlich auf einen Fall schließen ließen, den Hoffmann zuvor als Mitglied der „Immediat-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“ in Preußen zu untersuchen hatte. Und so erschien erst im Jahr 1908 die ursprüngliche Fassung.

Wir lernen in diesem Märchen als erstes nicht den Titelgeber kennen – Nein, der taucht erst im 3. Abenteuer auf! – sondern den jungen Kaufmannssohn Peregrinus Tyß aus Frankfurt, der sehr zurückgezogen ganz in seiner eigenen Welt lebt und Schwierigkeiten mit der Menschheit an sich und mit den jungen Damen im Besonderen hat. Eine Hauptrolle spielen dabei Meister Floh, das gelehrte Oberhaupt der Flöhe, und der intrigante Hofrat Knarrpanti, der Peregrinus Tyß die Entführung einer jungen Frau andichtet, die gar nicht stattgefunden hat. Doch der Hofrat erhofft sich einen Schub für seine Karriere, wenn er nicht nur eine Tat erfindet, sondern gleichzeitig den angeblichen Täter auf dem Silbertablett präsentiert. Doch wie im Märchen erhofft und erwünscht, kommt bei einem sensationellen Verhör die Wahrheit ans Licht, und der lächerliche Hofrat wird vom Rat der Stadt Frankfurt als intriganter Betrüger entlarvt und davongejagt. Die Gerechtigkeit hat gesiegt, und alle leben glücklich und zufrieden bis an ihr selig Ende…!

Ich gebe es gerne zu, dass ich meine Schwierigkeiten hatte, mich in die Geschichte hineinzufinden. Dies lag nicht an Hoffmanns Sprache, die ganz im Duktus der Romantik daherkommt und mit feiner Formulierung und charmant-antiquiert wirkenden Habitus den märchenhaften Charakter des Werkes eher noch unterstreicht. Vielmehr forderte er mich mit dem Aufbau seiner Geschichte heraus. Er verflechtet die verschiedenen Ebenen miteinander und lässt die Übergänge fließend ineinander verlaufen. So spielt er mit den Mitteln der Groteske indem er sowohl Märchenhaftes und Reales wie auch Wunderwelt und Alltagswelt aufeinandertreffen und miteinander verschmelzen lässt. Doch auch seine (reale) Kritik an sozialer Ungerechtigkeit, der Justiz und der Wissenschaft lässt er zwischen den Zeilen durchschimmern und setzt dieser einen Konterpart mit Themen wie Selbstverwirklichung, Kreativität und Liebe gegenüber.

Märchen „schreien“ geradezu nach einer optischen Umsetzung, oder kennt hier irgendjemand ein Märchenbuch, das ohne Illustrationen auskommt? Ich nicht, und wenn es eines gäbe, es würde sehr wenig Reiz auf mich ausüben. In diesem Fall schuf der deutsch-russische Künstler Alexander Pavlenko filigrane Scherenschnitte, die mit ihrer anmutenden Schwarz-Weiß-Ästhetik die romantische Note der Geschichte ganz wunderbar unterstreichen und dabei überraschende Details offenbaren.

In den letzten Jahren haben sich illustrierte Bücher eine treue Fangemeinde erobert und profitieren von einem größeren Format, um so die Illustrationen besser wirken zu lassen. Beim vorliegenden Buch ist dies mit den Maßen 13,5 x 19,5 cm leider nicht gegeben. Die Ausstattung wirkt eher „schlicht“: Es gibt weder einen Schutzumschlag, noch ein Lesebändchen. Auch hätte ich mir einen Anhang gewünscht, aus dem ich mehr aus dem Leben des Autors und zur Entstehungsgeschichte des Märchens erfahren hätte. Ebenso wäre eine kurze Biografie des Künstlers wünschenswert gewesen. Zumal sich dieses Buch in einem Preissegment einreiht, bei dem sonst die illustrierten Bücher der Büchergilde Gutenberg oder des Reclam Verlags zu finden sind.

So gilt meine Kritik ganz und gar nicht dem Inhalt sondern vielmehr der verlegerischen Umsetzung: Das Team „Hoffmann & Pavlenko“ hätte durchaus ein wenig „Mehr“ verdient…!


erschienen bei Edition Faust / ISBN: 978-3949774157

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

ebenfalls erschienen bei Reclam/ ISBN: 978-3150142226 (ohne Illustrationen)

[Rezension] Agatha Christie – Mord im Orientexpress. Ein Fall für Poirot

Es war kurz vor Weihnachten des Jahres 1931: Agatha Christie hatte archäologische Ausgrabungsarbeiten ihres Mannes Max Mallowan im Irak besucht und befand sich nun mit dem Orientexpress auf dem Rückweg nach England, als der Zug aufgrund eines heftigen Unwetters zwei Tage auf offener Strecke stehen blieb. Agatha Christie nutze diese Zeit, um sich Gedanken zu einer neuen Kriminalgeschichte zu machen und schuf so die Grundlage zu einem ihrer bekanntesten Romane. Dabei nahm nicht nur den bekannten Zug als luxuriöse Kulisse zum Vorbild sondern ließ sich auch von den dramatischen Ereignissen um die Entführung des Lindbergh-Babys inspirieren. So verwob sie wieder geschickt Realität mit Fiktion…!

Hercule Poirot kann nur nach einigen Mühen und dank der Hilfe des mitreisenden Direktors der Eisenbahngesellschaft Monsieur Bouc ein Abteil im Kurswagen Istanbul – Calais des Orientexpress ergattern. Mitten im der Nacht versperrt eine Schneeverwehung die Strecke und zwingt den Zug zum Anhalten. Genau zu diesem Zeitpunkt wird der amerikanische Reisende Mr. Ratchett durch zwölf Messerstiche in seinem verschlossenen Abteil ermordet. Monsieur Bouc bittet Poirot, sich dem Fall anzunehmen. Da im Schnee keinerlei Spuren zu entdecken sind, muss sich der Mörder noch im Zug befinden. Im Abteil des Ermordeten findet Poirot einen nicht vollständig verbrannten Brief, aus dessen Rest er auf die Identität des Toten schließen kann: Bei Mr. Ratchett handelt es sich um den Verbrecher Cassetti, der durch Korruption und Bestechung seiner gerechten Strafe entkommen konnte. Cassetti hatte vor einigen Jahren die kleine Daisy Armstrong entführt, Lösegeld für sie erpresst und sie nach Erhalt der Summe erbarmungslos ermordet. Ihre Mutter erlitt daraufhin eine Fehlgeburt und starb an den Folgen. Ihr Vater wurde so von der Trauer übermannt, dass er Selbstmord beging. Eine Zofe von Mrs. Armstrong wurde fälschlicherweise der Mittäterschaft bezichtigt und stürzte sich aus einem Fenster in den Tod. So gehen fünf Leben auf das Konto von Cassetti, dem niemand eine Träne nachweinen würde. Poirot nimmt die Ermittlungen auf, doch weder die gefundenen Indizien noch die Zeugenaussagen der Mitreisenden ergeben ein klares Bild: Erscheint einer der Passagiere verdächtig, taucht unvermittelt ein Zeuge auf, der ein wasserdichtes Alibi liefern kann. Die Situation ist verzwickt: Hercule Poirots berühmten grauen Zellen arbeiten auf Hochtouren…!

„Mord im Orientexpress“ ist eines jener Werke, die den Weltruhm von Agatha Christie begründet haben und deren Existenz über so manches weniger gelungene Werk der Autorin hinwegtröstet. Denn eine so fleißige Autorin wie Christie, die über Jahrzehnte produktiv war, hat (zwangsläufig) nicht nur herausragende Werke hervorgebracht: In ihrem Oeuvre finden sich auch weniger geglückte Romane, die ich wohlwollend als solide bezeichnen möchte. Doch mit einem Krimi wie „Mord im Orientexpress“ zeigt sie ihr ganzes Können und beweist, dass sie zu Recht den Titel „Queen of Crime“ verdient.

Dabei nimmt sie die bekannten Ingredienzien, wie einen mysteriösen Mord in einem geschlossenen Raum, eine üppige Anzahl an Verdächtige sowie verwirrende Indizien, und fordert die Intelligenz ihre Leserschaft mit der Frage „Who done it?“ heraus. Zudem geizt sie nicht mit prallen Rollenprofilen, indem sie ein sehr illustres wie internationales Handlungspersonal auf der Bildfläche erscheinen lässt. Einen gemeinsamen Nenner zwischen diesen Personen scheint nicht existent, oder wie sie es Monsieur Bouc so treffend ausdrücken ließ:

„Um uns herum sitzen Menschen aller Schichten, aller Nationalitäten, jeden Alters. Für drei Tage bilden diese Menschen, lauter Fremde füreinander, eine Gemeinschaft. Sie schlafen und essen unter einem Dach, sie können sich nicht aus dem Weg gehen. Und nach den drei Tagen trennen sie sich wieder, jeder geht seiner eigenen Wege, und sie werden sich vielleicht nie wieder sehen.“

Dabei konstruiert sie wieder einen äußerst interessanten Handlungsaufbau: Wir verfolgen das Geschehen zwar einerseits chronologisch doch parallel auch in Rückblenden. Der Leser begleitet Hercule Poirot durch die einzelnen Verhöre und kann die Aussagen, wer sich wann an welchem Ort befunden hat, anhand der vorhandenen Skizze der Zugabteile nachvollziehen. Brillant verflicht Christie die einzelnen Zeugenaussagen zu einem feinen Netz aus Details. Sie überzeugt auch in den glaubhaften Dialogen, die sie ihren Figuren in den Mund legt und die diese treffend skizzieren. Dabei erlaubt sie den Personen eine Emotionalität, die für einen Christie-Roman eher ungewöhnlich ist.

Auch wer die Auflösung schon kennt, wird am geschickten Aufbau der Geschichte seine wahre Freude haben. Für mich zählt „Mord im Orientexpress“ nicht nur zu einem der besten Poirot-Romane, sondern zu einem der besten Romane, die Agatha Christie je geschrieben hat.


3x Poirot / 3x Mord im Orientexpress

3x Poirot - 3x Mord im Orientexpress

Ein Roman wie „Mord im Orientexpress“ mit seiner Ansammlung prägnanter Charaktere innerhalb eines luxuriösen Ambientes „schreit“ geradezu nach einer visuellen Umsetzung und wurde entsprechend häufig adaptiert. Der Roman wurde zweimal für das Kino und dreimal für das Fernsehen verfilmt.

Für die Bühne wurde der Stoff vom Dramatiker Ken Ludwig bearbeitet und feierte im Jahr 2017 seine Uraufführung. Übrigens: Diese Fassung steht mit einer eigenständigen Inszenierung auch auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven (Beitrag folgt!).

Ich habe mich bei meiner Auswahl auf die drei bekanntesten Verfilmungen beschränkt.

  • (1974/ Film)/ Regisseur Sidney Lumet versammelte ein All-Star-Cast mit Albert Finney als Hercule Poirot sowie Lauren Bacall, Martin Balsam, Ingrid Bergman, Michael York, Jacqueline Bisset, Richard Widmark, Sean Connery, John Gielgud und Anthony Perkins. Dabei blieb Lumet in seiner Umsetzung nah am literarischen Original, gab jedem seiner Stars genügend Möglichkeiten zur Entfaltung, ohne dass jemand hervorgehoben wurde bzw. sich in den Mittelpunkt spielte, und schaffte so eine fulminante Ensembleleistung voller Klasse und Flair.
  • (2010/ TV)/ Regisseur Philip Martin brauchte sich mit der für die britische Krimi-Serie „Agatha Christie’s Poirot“ entstandene Adaption wahrlich nicht zu verstecken. Neben dem großartigen David Suchet als Hercule Poirot, der diese Figur bis zur Perfektion studierte, konnte er mit Jessica Chastain, Hugh Bonneville, Toby Jones, Susanne Lothar, David Morrissey, Barbara Hershey, Denis Ménochet, Serge Hazanavicius und Samuel West ein ebenso exzellentes Ensemble vereinen. Diese Fassung ist deutlich dunkler und melancholischer als die Film-Fassung von 1974 und beleuchtet beinah kammerspielartig die Beweggründe der Protagonisten ohne an Dramatik einzubüßen.
  • (2017/ Film)/ Regisseur Kenneth Branagh schlüpfte selbst in der Hauptrolle des Meisterdetektivs, legte diesen allerdings eher als draufgängerischen Abenteurer an. Ähnlich wie sein Kollege Sidney Lumet versammelte er mit Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Derek Jacobi, Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley, Lucy Boynton und Olivia Colman ebenfalls ein Star-Ensemble, das an die klangvollen Namen der Rollenvorgänger allerdings nicht heranreichte. Pathos ersetzt nicht Emotionen. Zudem wirkte der Film auf mich mit seinen digitalen Effekten seltsam aufgebläht.

Welche Verfilmung man nun präferiert, welcher Rollengestaltung man nun den Vorrang gibt, bleibt natürlich dem persönlichen Geschmack überlassen.


erschienen bei Atlantik / ISBN: 978-3455650013 / in der Übersetzung von Otto Bayer

ebenfalls erschienen als Hörbuch bei der Hörverlag / ISBN: 978-3899407907 / Sprecher: Stefan Wilkening

[Rezension] Guillaume Picon – Der Orient-Express. König der Züge/ mit Fotografien von Benjamin Chelly

Der Orient-Express: Er wird gerne als „König der Züge“ bezeichnet. Dabei gab es den einen Zug gar nicht, vielmehr bestand der Orient-Express aus einem ganzen System von Luxuszügen, die den Westen mit Mittel- und Südosteuropa verbanden. Am 5. Juni 1883 hatte der Zug, der ursprünglich jeweils nur aus einem Schlaf- und einem Speisewagen der Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) bestand, seine Jungfernfahrt. Gestartet wurde in Paris mit dem Ziel Konstantinopel. Anfangs mussten die Reisenden sogar auf Fähr- und Schiffsverbindungen ausweichen, bis ab dem Jahr 1889 eine durchgehende Verbindung per Schienen über Süddeutschland, Wien, Budapest und Sofia sie ans Ziel führte.

Der Orient-Express: Er wird auch gerne als „Zug der Könige“ bezeichnet und galt zu seiner Zeit als schnellste und luxuriöseste Art zu Reisen. Die Materialien für das Interieur waren erlesen, das Design auf der Höhe der Zeit, die Speisen exzellent und die Weine exquisit. Gekrönte Häupter sowie Staatsmänner und -frauen zählten ebenso zu seinen Fahrgästen wie Künstler, Literaten und natürlich die Haute Volée aus dem Inn- und Ausland.


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Guillaume Picon (Text) und Benjamin Chelly (Fotos) lassen in ihrem Bildband die Pracht dieser legendären Züge wieder aufleben und ermöglichen mir unbedeutendem Pimpf, der wohl nie leibhaftig einen dieser Züge zu Gesicht bekommen wird, so einen detaillierten Eindruck darüber zu erhalten, was den Reiz dieses legendären Verkehrsmittels ausmachte.

Auf 256 Seiten und mit Hilfe von ca. 200 Abbildungen lassen sie die Geschichte dieses Luxus-Zuges vor meinen Augen ablaufen. Dabei geizen sie wahrlich nicht mit interessantem Hintergrundwissen. So berichten sie uns von den Umständen, die zum Bau dieses Gefährts führten und den veränderten Reisegewohnheiten der Menschen geschuldet waren. Wir lernen mit Georges Nagelmackers den genialen Kopf hinter dieser Idee kennen, der vorausschauend den Bedarf an komfortablen Fernreisen erkannte. Beim Studium der informativen Texte wurde mir bewusst, dass erst die bahnbrechenden neuen Technologien der damaligen Zeit, diese Art des Reisens ermöglichen konnte und zur Entwicklung der modernen Schienenfahrzeuge führte. Doch nicht nur schnell sollte eine Strecke zurückgelegt werden sondern auch absolut komfortabel: So wurde viel Wert auf eine ansprechende Ausstattung gelegt, die auch gehobenen Ansprüchen genügen sollte. Edle Materialien und feine Handwerkskunst kamen hierbei zum Einsatz und sorgten für ein nobles Ambiente. Aufgrund der großen Nachfrage musste das Netz ausgeweitet werden, und weitere Züge wurden auf die Schienen gestellt, um andere attraktive Reiseziele anzufahren.

Diese prestigeträchtige Art zu Reisen zog natürlich auch berühmte wie berüchtigte Prominente an, wie Mata Hari, Lawrence von Arabien und natürlich Agatha Christie, die mit ihrem 9. Hercule Poirot-Roman „Mord im Orientexpress“ diesem eh schon legendären Zug ein literarisches Denkmal setzte. Doch ein Zug, der international verkehrt, bleibt leider auch nicht vor Unglücken oder Wetterkatastrophen verschont, und auch so mancher Krieg nahm Einfluss auf die Fahrtroute.

Die historischen Abbildungen und Illustrationen sind ebenso ausgesucht wie die Originalfotos von Benjamin Chelly. Jedes Kapitel wird mit einer Abbildung alter Stoffmuster von Teppichen oder Sitzmöbel eingeleitet, bevor wir einen ausschweifenden Blick in die Luxus-Kabinen, den Speisewagen und den Schlafwagen werfen. Da gibt es kostbaren Intarsien aus edlem Holz zu bewundern. Das mundgeblasene und handgeschliffene Lalique-Glas verströmt ebenso Glamour wie die auf Hochglanz polierten Messing-Armaturen. Etliche Fotos zeigen die Gesamtansicht eines Raumes, andere fokussieren das Auge des Betrachters auf wunderbare Details in der Ausstattung im erlesenen Design des Art déco.

Dank diesem Buch, das mit den informativen Texten, einem bisher unveröffentlichten Archivmaterial und den opulenten Fotografien den Flair dieses legendären Zuges aufleben lässt, wird der Mythos „Orient-Express“ auch in den kommenden Jahren weiterleben.


erschienen bei Frederking & Thaler / ISBN: 978-3954162963 / in der Übersetzung von albrecht schreiber

[Rezension] Curt Moreck – Ein Führer durch das lasterhafte Berlin: Das deutsche Babylon 1931

Da könnte ich beinah ein weiteres Kapitel zu meiner Rubrik LITERATEN IM FOKUS aufschlagen: Mit diesem Buch befreie ich ein weiteres Werk aus den Fängen meines SuB, das ich für meine kleine Retrospektive zu Christopher Isherwood vorgesehen hatte. Nach dem fiktiven bzw. biografisch geprägten Roman Leb wohl, Berlin werfen wir nun einen Blick auf das reale Babylon Berlin der damaligen Zeit.

Curt Moreck war nur eins von vielen Pseudonymen, die der Schauspieler, Autor und Journalist Konrad Haemmerling sich gab. Neben seiner Tätigkeit für div. Zeitungen schrieb er auch Romanen und Erzählungen und veröffentlichte in den 20er bis Anfang der 30er Jahre Werke zu kultur- und sittengeschichtlichen Themen. 1933 fielen seine Werke nationalsozialistischen Verboten zum Opfer.

Wenn ich diesem Stadtführer der frivolen Art Glauben schenken darf, dann war Berlin in den 30er Jahren der Nabel der vergnügungssüchtigen Welt. Wir begleiten Moreck auf einen Rundgang durch eine pulsierende und weltoffene Metropole, die Berlin damals vor der Machtergreifung der Nazis noch war. Hemmungslos konnte dort dem lüstern-lasterhaften Vergnügen gefrönt werden. Dabei schlägt der Autor einen journalistisch-respektvollen Grundton an und kommt so nie in Gefahr, bei seinen Beschreibungen ins Vulgäre abzudriften.

Vielmehr lässt er vor meinem inneren Auge eine Epoche wiederaufleben, die zum damaligen Zeitpunkt für Toleranz, Gleichheit und Emanzipation stand, und in der Menschen aller Couleur in einer friedvollen Koexistenz leben konnten. Er führt uns zu den „offiziellen“ ebenso wie zu den „halbseidenen“ Etablissements. So wandern wir von den Theatern zum Kabarett, verlustigen uns auf den Rummelplätzen, schauen in Varietés und Nachtclubs vorbei und stillen Durst und Hunger in einem der internationalen Restaurants. Es gab Clubs für Homosexuelle (männlich wie weiblich), Bars für Transvestiten und eine Vielzahl an erotischen Shows. Auch die Prostitution schien eine tolerable Art des Broterwerbs zu sein.


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Durchaus spitzzüngig warnt er den naiven Besucher vor „Neppern, Schleppern, Bauernfängern“, die dem allzu unbedachten Touristen erst bereitwillig behilflich sind, das Portemonnaie von seiner Last zu befreien, um ihm dann auch noch das letzte leinene Hemd vom Leibe zu mopsen.

Abgerundet wird dieses Werk durch eine Vielzahl an Original-Fotos und –illustrationen, die einen authentischen Eindruck der damaligen Atmosphäre vermitteln.

Morecks Führer durch das lasterhafte Berlin verdeutlichte mir nochmals, warum diese Vergangenheit und besonders diese Stadt zum besagten Zeitraum auch noch heute so einen Reiz auf uns ausüben: Zwischen Glamour und Talmi, zwischen Edel-Etablissement und Kaschemme, zwischen großen Gefühlen und kleinen Dramen galt es – trotz aller Verherrlichung – immer noch als „die gute alte Zeit“.


erschienen bei btb/ ISBN: 978-3442719280

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin/ illustrierte Ausgabe und Hörspiel

Vor Jahren begegnete mir Christopher Isherwoods Episodenroman „Leb wohl, Berlin“ zum ersten Mal: Damals entflammte meine Liebe zum Musical und ließ mich zu den Klassikern des Genres auch immer einen neugierigen Blick auf die literarischen Vorlagen werfen. Irgendwann spielte mir das Schicksal (oder der Zufall) diesen Roman abermals in die Hände. Mit dem Abstand der Jahre und mit einem gereifteren Blick hatte dieses Werk eine gänzlich andere Wirkung auf mich. Dieser Umstand veranlasste mich, eine Rezension zu verfassen, die am 17. August 2019 hier auf meinem Blog erschien. Schnell kam mir die Idee, diesen interessanten Autor im Rahmen meiner kleinen Reihe LITERATEN IM FOKUS wieder mehr Aufmerksamkeit zu gönnen.

Und so kündigte ich vollmundig im März 2020 die Retrospektive zu Christopher Isherwood für Oktober desselben Jahres an. Doch wie so oft im Leben kommt zuerst etwas dazwischen und danach alles anders als man denkt. So schmachteten seitdem zwei besondere Fassungen von Isherwoods Erfolgsroman „Leb wohl, Berlin“ ein äußerst tristes Dasein auf meinem SuB und waren in ernsthafter Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Dies hätten sie nun wahrlich nicht verdient! So befreite ich sie aus ihrem Dornröschen-Schlaf und puschelte sie ordentlich mit dem Staubwedel ab, um sie von der Patina der vergangenen drei Jahre zu befreien. Und obwohl Christopher Isherwood es wert wäre, eine Retrospektive zu erhalten, verzichte ich momentan auf eben jene, da ich Euch die schon erwähnten Fassungen nicht weiter vorenthalten möchte.



Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin/ mit Illustrationen von Christine Nippoldt

Willkommen! Bienvenue! Welcome!

Berlin, Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts: Der junge Schriftsteller Christopher Isherwood kommt in diese pulsierende Metropole auf der Suche nach Inspiration für einen Roman. Inspiration findet er nicht – dafür verleiten ihn die vielen Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten: Persönlichkeiten, die nur eine Stadt wie Berlin hervorbringen oder anlocken kann. Inspiration! – Inspiration brauchte der reale Isherwood nicht zu suchen! Inspiration hatte Isherwood zuhauf direkt vor seiner Nase! Da ist seine ältliche Zimmerwirtin Fräulein Schroeder, die ihren besseren Zeiten hinterher träumt und trauert, über ihre Mieter stellvertretend am Leben teilnimmt und sich gezwungenermaßen mit jeglicher Regierung akklimatisiert. Was bleibt ihr auch übrig: Wo soll sie sonst hin? Da ist der junge Otto Nowak, der mit seiner Familie in einem Hinterhof des Hinterhofs eines Hinterhofs lebt, und die in ihrer erbärmlichen Trostlosigkeit willig den Nährboden bietet für die Versprechungen der Nazis. Da ist der intellektuelle Bernhard Landauer, Geschäftsmann aus dem noblen Villenviertel, der in seiner passiven Resignation gegenüber der Realität zwangsläufig zum Opfer für die Gräueltaten der Nazis wird. Da ist die kapriziöse Sally Bowles, semi-talentiert aber dafür selbst-überschätzend, mit einem Hauch Verrücktheit, einer sexuellen Freigiebigkeit und einem hohen Maß an Unkompliziertheit, die in der damaligen Zeit sowohl für Faszination wie für Verwirrung bei ihren Mitmenschen sorgt.

 „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“

Der Autor wirkt beinah neutral und begegnet seinen Protagonisten wertfrei: Er ist Beobachter, nicht Analytiker. Er beschreibt die Szenerie durchaus detailliert aber unvoreingenommen. Trotzdem schafft er Atmosphäre ohne indifferent zu erscheinen.

Er porträtiert seine Protagonisten mit Witz, vermeidet es indes, sie der Lächerlichkeit preiszugeben – im Gegenteil: Oftmals offenbart sich in den alltäglichen Szenen und den scheinbar belanglosen Begegnungen eine bemitleidenswerte Tragik. Während die ersten Kapitel noch sehr detailliert das Geschehen wiedergeben, wirkt das letzte Kapitel mit seinen kurzen Episoden wie schnelle Schlaglichter, die eine wahrgenommenen Situation fragmentiert wiederspiegeln und trotz ihrer Kürze das Vage einer zunehmend unsicheren Wirklichkeit vermitteln.

Somit ist Christopher Isherwoods Episodenroman aus dem Jahre 1939 ein literarisches Zeugnis seiner Zeit und spiegelt eine Gesellschaft im Umbruch wieder: Das Weltoffene und Tolerante der Weimarer Republik ist noch spürbar, das Kleingeistige und Menschenverachtende des Nationalsozialismus ist schon zu erahnen. Das Berlin einer Sally Bowles wird bald Vergangenheit sein: Eine Epoche neigt sich dem Ende entgegen…!

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Die Büchergilde Gutenberg ist bekannt für ihre außergewöhnliche Buchgestaltung: Mit ihren illustrierten Fassungen von (modernen) Klassikern sorgt sie gerne für Furore bei Buchliebhaber*innen und heimste in der Vergangenheit schon so manchen Preis ein. In diesem Fall hat sich die Künstlerin Christine Nippoldt dem Roman von Christopher Isherwood angenommen. So wie Isherwood sich in seinen Geschichten von realen Personen inspirieren ließ, so lässt auch Nippoldt bei der Schaffung ihrer Bilder sich von realen Personen inspirieren (wie sie in einem Nachwort verrät) und stöberte in historischem Bildmaterial. Optisch erinnern ihre Kunstwerke an Linol- oder Holzdrucke und sind in einer Art Collagentechnik entstanden, indem die Farbschichten nacheinander aufgetragen wurden. Dies verleiht ihnen einen beinah morbiden Charme und sorgt für Akzente. Nippoldts Illustrationen sind sehr atmosphärisch und variieren in ihrer Farbgebung je nachdem, welche Episode des Romans zu erzählen gilt. Dabei werden die Illustrationen nicht „nur“ einfach in die Handlung eingefügt: Das gestalterische Konzept wird konsequent auf das gesamte Buch angewendet. So schmückt die passende Vignette jedes Kapitel, und Initiale stehen am Anfang eines jeden Absatzes.


erschienen bei Büchergilde Gutenberg / ISBN: 978-3763269181 / in der Übersetzung von Kathrin Passing und Gerhard Henschel

ebenfalls erschienen bei Hoffmann & Campe/ ISBN: 978-3455405002 und Atlantik/ ISBN: 978-3455650778 (alle ohne Illustrationen)



Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin (Hörspiel)

4 CDs/ Bearbeitung: Heinz Sommer/ Regie: Leonhard Koppelmann/ Originalkomposition & musikalische Leitung: Jörg Achim Keller/ es spielt die HR-Bigband/ mit Mathieu Carrière, Christopher Nell, Laura Maire, Barbara Philipp u.v.m.

 „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“

Mit diesem Satz beginnt auch eines der fulminantesten Hörspiele, das ich mir je anhören durfte. Wie einem Mantra gleich bleibt Mathieu Carrière als Erzähler dieser Aussage treu: Er beobachtet und kommentiert aber urteilt nicht. Er hält Distanz zu seiner Berichterstattung, wirkt dabei aber nie unbeteiligt oder gleichgültig. Dabei verwebt sich seine Stimme immer wieder gekonnt mit der von Christopher Nell. Während Carrière den deutschen Text spricht, können wir auch dem englischen Original durch Nell lauschen, was so für eine beängstigende Nähe zum Autor sorgt. Die Stimme des Erzählers verschmilzt mit der Stimme des jungen Christopher Isherwood. Christopher Nell mimt den aufstrebenden Autor als einen unvoreingenommenen Charakter mit jugendlichem Charme, dem wir den gebildeten Literaten ebenso abnehmen wie den jungen Mann, der nur allzu empfänglich ist für die mannigfaltigen Verführungen im damaligen Berlin.

Laura Maire schafft in ihrem Porträt der Sally Bowles die gekonnte Balance zwischen Pragmatismus, Selbstüberschätzung und Verführung, ohne dass sie ins allzu Ordinäre abrutscht. Ihre Stimme pendelt zwischen unbändiger Lebenslust, verruchter Erotik und kindlicher Naivität. Barbara Philipp verleiht der Zimmerwirtin Fräulein Schroeder mit prägnanter Stimme eine liebenswerte Kauzigkeit und geizt nicht mit bodenständigen Humor. Dabei ist es eine Freude zuzuhören, wie ein tolle Schauspielerin einer literarischen Figur ihre Stimme schenkt: Aufgrund mangelnder Englischkenntnisse spricht Fräulein Schröder Christopher Isherwood immer mit „Herr Issiwu“ an, was von Philipp ganz entzückend moduliert wird.

Diese vier talentierten Schauspieler*innen führen ein hochkarätiges Ensemble an, das in div. Rollen u.a. durch Lucie Heintze, Daniela Kiefer, Ole Lagerpusch, Gisa Flake, Felix von Manteuffel, Wanja Mues, Friedhelm Ptok und Franziska Troegner auf das Vortrefflichste komplementiert wird. Diese renommierten Sprecher*innen sind sich nicht zu schade, um in die div. (Neben-)Rollen zu schlüpfen und so zur hohen Qualität dieses Hörspiels wesentlich beizutragen.

Heinz Sommer bleibt in seiner Bearbeitung der bekannten Übersetzung durch Kathrin Passing und Gerhard Henschel treu und verflechtet die Dialoge gekonnt mit dem Erzähltext. Dabei verzichtet er nur auf die beschreibenden Passagen, die über Musik, historische Original-Einspielungen (z. Bsp. Auszüge aus dem Film „Der blaue Engel“ oder ein Radio-Interview mit Max Schmeling) und den Hintergrundgeräusche dem Hörer vermittelt werden. Den musikalischen Rahmen liefert Jörg Achim Keller mit der HR-Bigband, die mit ihrem authentischen Sound das so genannte Babylon Berlin wiederaufleben lassen. Strippenzieher hinter all dieser einzelnen Komponenten und somit derjenige, der dies alles zu einem Gesamtkunstwerk bündelt, ist der Regisseur Leonhard Koppelmann, der hier eine großartige Arbeit abliefert. Er sorgt für eine enorme „Tiefe“ und verleiht diesem Hörspiel so eine unwiderstehliche Sogkraft, der ich mich nicht entziehen konnte. Ein sensationelles Hör-Erlebnis…!!!

Auf Wiedersehen! A bientôt! Good night!


erschienen bei der Hörverlag/ ISBN: 978-3844536317

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Hörexemplar!