[Oper] Engelbert Humperdinck – HÄNSEL UND GRETEL / Stadttheater Bremerhaven

Märchenoper von Engelbert Humperdinck / Libretto von Adelheid Wette

Premiere: 4. November 2023 / besuchte Vorstellungen: 11. und 23. November 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Davide Perniceni
INSZENIERUNG Marie-Christine Lüling
BÜHNE & KOSTÜME Judith Philipp
DRAMATURGIE Torben Selk
CHOR Mario El Fakih Hernández
LICHT Katharina Konopka

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
KINDERCHORASSISTENZ & STIMMBILDUNG Katharina Diegritz
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
THEATERPÄDAGOGIK Elisabeth Schneider


Als im vergangenen Jahr im digitalen Adventskalender des Stadttheaters Bremerhaven gleich zwei Versionen des „Abendsegens“ aus HÄNSEL UND GRETEL erklangen, wagte ich dreist, Intendant Lars Tietje via Instagram die Frage zu stellen, wann mit dieser Oper endlich am Stadttheater zu rechnen wäre. Seine Antwort fiel knapp aber äußerst vielversprechend aus:

„Bald!“

Kaum ein Jahr später verirrt sich dieses berühmte Geschwisterpaar auch schon im Bremerhavener Watt – Äh! – Wald…! 😄

HÄNSEL UND GRETEL ist – neben LA BOHÈME – die Oper, die ich am häufigsten auf der Bühne anschauen durfte. Kaum ein anderes musikalisches Werk trifft so sehr meinen romantischen Nerv. Schon beim Klang der Ouvertüre beginne ich dahin zu schmelzen, und spätestens beim „Abendsegen“ habe ich mich emotional völlig verflüssigt. „Schuld“ daran ist diese unwiderstehliche Mischung aus bekannten Volksweisen, träumerischen Melodien und großen orchestral-üppigen Kompositionen, die Engelbert Humperdinck hier so vortrefflich miteinander vereint hat. Leider scheint dieses Werk aber auch prädestiniert zu sein, die Phantasie von einigen (über-)ambitionierten Regisseur*innen herauszufordern: Da präsentierten sich Hänsel und Gretel in der Vergangenheit durchaus auch mal als Punks, die in der Drogenhöhle der Hexe keine Lebkuchen sondern Joints „naschten“. Oder die beiden Partien von Mutter und Knusperhexe wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert, um so im Sinne der Sozialpsychologie die Ambivalenz in der Beziehung zwischen der Mutter und den Kindern zu verdeutlichen… …bla bla bla! Wer es darauf anlegt, könnte in jeden Text und jedes Libretto je nach Intention so allerlei hineininterpretieren. Wobei ich der Meinung bin, dass es – insbesondere bei einem musikalischen Werk – Grenzen in der Interpretation gibt, die von der Musik vorgegeben werden.

Marie-Christine Lüling überzeugt bei ihrer Inszenierung mit einer charmanten und wohltuend unaufdringlichen Modernisierung, ohne den märchenhaften Charakter des Werkes zu vernachlässigen. Es beginnt schon mit der fein inszenierten Ouvertüre, die sich wortlos vor dem geschlossenen Vorhang abspielt. Hänsel und Gretel sind anfangs zwei hyperaktive Gören mit einer Tendenz zum ADHS, die sich rüpelhaft gegenüber der alten Nachbarin verhalten und ihre Eltern beinah in den Wahnsinn treiben. So war es mehr als verständlich, dass die beiden überforderten Erziehungsberechtigten (erfolglos) versuchen, ihren Nachwuchs ins Bett zu scheuchen, um sich endlich eine wohlverdiente Pause gönnen zu können. Im verwunschenen Wald gleiten die Geschwister im Schlaf hinüber in einen phantastischen Traum, der sie zu einer Hexe führt, die verdächtig viel Ähnlichkeit mit der Nachbarin aufweist. Lülings Konzept überrascht mit so manchen gut durchdachten, aufeinander aufbauenden Details, warf aber auch die eine oder andere Frage auf – insbesondere dann, wenn das Libretto etwas anderes aussagt als das, was auf der Bühne gezeigt wurde. Doch dieser Umstand störte absolut nicht das Gesamtbild, da die Inszenierung mit guten Ideen punktet und sehr viel fürs Auge zu bieten hat.

Ausstatterin Judith Philipp hat die Optik dieser Inszenierung deutlich aber dezent der Erlebniswelt und somit den Sehgewohnheiten der heutigen Kindergeneration angepasst. Bei ihr werden die Engel zu Waldgeistern und entspringen direkt aus dem Kinderzimmer von Hänsel und Gretel: Die Spielsachen und Plüschtiere entwickeln ein Eigenleben, und so wachen Rabe, Puschel, Dino, Nordchen und Friedel beschützend über den Schlaf der Geschwister. Bedauerlicherweise sind von den ursprünglich 14 Engeln nur noch 5 Waldgeister übrig geblieben, was für mich den Zauber in dieser Szene etwas minimierte. Der Wald wächst dschungelartig-üppig aus dem Schnürboden hinab zur Erde. Das Hexenhaus wirkt wie die Geschenkverpackung aus einer Confiserie. Hier knabbern Hänsel und Gretel nicht an Lebkuchen, vielmehr naschen sie an Donuts, Schaumzucker, Macarons und Lollis. Auch die verzauberten Kinder bestehen nicht aus Lebkuchen sondern sind zuckersüße Marshmallow-Männchen.

Ⓒ Foto Stadttheater Bremerhaven. HÄNSEL UND GRETEL

Das Taumännchen: Von der Kinderzeichnung über die Figurine zum Kostüm auf der Bühne.

Im Vorfeld fand ein Workshop mit Grundschul-Kindern statt, bei dem die Schüler*innen unter der Anleitung der Theaterpädagoginnen eigene Figuren zu Taumännchen, Sandmännchen und den Engeln/Waldgeistern entwickeln konnten. Die phantasievollen Kreationen sind dann in die Entwürfe von Judith Philipp eingeflossen. Eine großartige und nachahmenswerte Vorgehensweise, um in einer Inszenierung die Ideen von Kindern für Kinder sichtbar zu machen.


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Unter der musikalischen Leitung des 1. Kapellmeisters Davide Perniceni bot das Philharmonische Orchester Bremerhaven genau das, was ich eingangs bereits erwähnt und mir so sehr erhofft hatte: Schwelgerisch strömten die Melodien aus dem Orchestergraben. Dramatisch akzentuiert lässt Perniceni die Musiker das Geschehen auf der Bühne kommentieren, um im nächsten Augenblick die Gesangsstimmen der Sänger*innen fein nuanciert unterstützen zu lassen. Schön!

Das Stadttheater Bremerhaven gönnt sich den Luxus und besetzt die Partien von Sandmännchen und Taumännchen jeweils mit einer Sängerin. Aufgrund der Überschaubarkeit der Rollen (oder aus Kostengründen) werden diese auch gerne von nur einer einzigen Sopranistin verkörpert, was allerdings durchaus zur Folge haben kann, dass die Partien sehr ähnlich interpretier werden. Doch manchmal gibt es auch für Sänger*innen Termine, die unaufschiebbar sind: In der besuchten Vorstellung übernahm Marlene Mesa neben ihrer Rolle als Sandmännchen auch für die verhinderte Kollegin die Rolle des Taumännchen und verlieh beiden Partien ein eigenständiges Profil. Ihr Sandmännchen amüsierte mit einer sympathisch-drolligen Gemütlichkeit, während sie das Taumännchen vor positiver Energie überschäumen ließ. Die junge Künstlerin gestaltete ihre Solis mit sehr viel Wärme und erfreute mit einer individuellen Klangfarbe in ihrer Stimme.

Die gestressten Eltern werden von Eva Maria Summerer und Marcin Hutek verkörpert. Die Hektik, Überforderung und Anspannung der Mutter spiegeln sich passenderweise in der Stimme von Eva Maria Summerer wider: Ein klassischer Schöngesang wäre auch völlig fehl am Platze wäre. Der Vater von Marcin Hutek wirkt da deutlich gemächlicher und versucht im chaotischen Haushalt für Ruhe zu sorgen. Dabei sind seine Maßnahmen, um die Kids zur Räson zu bringen, nicht unbedingt „pädagogisch wertvoll“. Bei „Wenn sie sich verirrten im Walde“ zitiert Hutek mit seinem warmen, flexiblen Bariton beinah ein Horrorszenario herauf, nur um die Gören im Bett zu halten. Einziger Kritikpunkt sowohl bei Summerer als auch bei Hutek: Bei Beiden hätte ich mir eine bessere Textverständlichkeit gewünscht.

Andrew Irwin zeigt – auch dank Maske und Kostüm – abermals sein Wandlungsfähigkeit: Doch was nützt die schönste Maske, wenn der Künstler ihr kein Leben einhauchen könnte. Anfangs als alte Nachbarin war er noch bemitleidenswert unsicher auf den Beinen, ließ da aber schon nur mit einem Blick die Bedrohung erahnen. Bei seinem ersten Auftritt im Wald schwebt er spektakulär vom Himmel herab, um sich dann in einen „Devil on Drag“ zu verwandeln, der die Bühne einem Laufsteg gleich für sich einnimmt. Dabei variiert er seine Stimme vom tenoralen Ausbruch bis zum verführerischen Gesäusel und bleibt trotz rollenbedingtem Gezicke und Gezeter der faszinierende Anti-Held.

Mit Boshana Milkow und Victoria Kunze verkörpern zwei talentierte Künstlerinnen die Titel-Partien, die ihre immense Spielfreude mit Feingefühl und Takt verbinden, sodass zu keinem Zeitpunkt der feine Grad zwischen kindlichem Enthusiasmus und peinlicher Übertreibung überschritten wurde. Vielmehr spielen sich die Beiden immer wieder schelmisch die Bälle aka die Pointen gegenseitig zu. Von kleinen Gesten über gegenseitige Frotzelei bis zum liebevollen Gute-Nacht-Kuss zeigen sie ganz und gar entzückend die innige Verbundenheit des Geschwisterpaares. Dass sie zudem wundervolle Sängerinnen sind, habe ich in der Vergangenheit schon häufig und ausführlich erwähnt. Hier überzeugen sie abermals in ihren Solis mit fein geführten Gesangslinien und harmonieren ausgesprochen stimmschön in den reichlich vorhandenen Duetten. Stichwort: „Abendsegen“: Seufz!

Apropos „kindlicher Enthusiasmus“: Nicht nur der Opernchor erfuhr durch Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández in den letzten Jahren eine Frischzellenkur. Gemeinsam mit Katharina Diegritz formte er ebenfalls einen ganz und gar wunderbaren Kinderchor, dessen jugendliche Mitglieder so entzückend natürlich agierten und dabei auch noch ganz famos sangen. Bravo!

In diesen verrückten Zeiten schenkt das Stadttheater Bremerhaven seinem Publikum mit dieser Inszenierung eine Rundum-Wohlfühl-Packung: 2 Stunden lang durfte ich mich einfach nur fallen lassen und konnte so meine Sorgen um mich herum sowie das Chaos auf dieser Welt vergessen. Danke! 💖


Nachtrag zum 23. November 2023: Manchmal komme ich in den luxuriösen Genuss und darf mir eine Inszenierung mehrmals anschauen. In diesem Fall habe ich es meinem Gatten zu verdanken, der beim ersten Besuch malade daheim bleiben musste. Doch dann hat er so sehr gequengelt, dass ich des lieben Friedens willen abermals Karten orderte.

So saßen wir gestern im Stadttheater Bremerhaven in einer Aufführung der Märchenoper HÄNSEL UND GRETEL. Und während für meinen Gatten alles aufregend neu war, konnte ich mich entspannt zurücklehnen, da ich mich weniger auf die Haupthandlung konzentrieren brauchte. Dafür durfte ich mehr die vielen, kleinen charmanten Details genießen, die mir teilweise beim ersten Anschauen völlig entgangen sind (Hat der Mond mir bei meinem ersten Besuch auch schon vom Bühnenhimmel zugeblinzelt?). Diesmal stand als Taumännchen die junge Sopranistin Annemarie Pfahler auf der Bühne, die diesen Part entzückend gestaltete. Für den erkrankten Kollegen übernahm Bariton Patrick Ruyters die Partie des Vaters. Ruyters ist Mitglied des Opernchores und bewies nachdrücklich, dass die dortigen Sänger*innen weit mehr sind als nur „die 2. Reihe“. Naja, und das vokale Dreigestirn, bestehend aus Hänsel, Gretel und Knusperhexe, war abermals exquisit…!

Ich bin so froh, dass ich als Zuschauer in meiner Sichtweise und Wahrnehmung nicht so festgefahren bin, dass ich ungewöhnliche Regie-Konzepte nicht zu schätzen wüste. Vielmehr empfinde ich es als eine wunderbare Chance, dass ich in einem mir bekannten Werk überraschend neue Aspekte entdecken darf.

Ich glaube, dass es gerade bei HÄNSEL UND GRETEL schier unmöglich ist, den Geschmack aller zu treffen, da viele Erinnerungen mit diesem Werk verknüpft werden. Diese Erinnerungen können es durchaus erschweren, sich unvoreingenommen einer Inszenierung zu nähern. Der daraus resultierende Unmut wird dann von einigen „Theater-Fans“ ungefiltert in die Hemisphäre gepustet. Da tauchen dann so manche „kritische“ Kommentare in den sogenannten sozialen (!) Medien auf, die weit weniger etwas über die Inszenierung als vielmehr etwas zur Geisteshaltung des Verfassers aussagen. Da gab/gibt und wird es bedauerlicherweise wohl immer geben die ewig Gestrigen und permanent Traditionellen, die eine starre Vorstellung davon haben, wie eine gelungene HÄNSEL UND GRETEL-Inszenierung auszusehen hat. Abweichungen unerwünscht! Entsprechen besagte Abweichungen nicht ihren Vorstellungen, dann taugt die gesamte Aufführung nichts, und selbst die musikalischen Qualitäten von Orchester und Sänger*innen-Ensemble verschwinden hinter dem vernichtenden Urteil. Da wird von der „schrecklichsten Produktionen, die ich je gesehen habe“ gepoltert, und Forderungen nach „Subventionen streichen“ werden laut. Ein differenziertes, faires und vor allem respektvolles Feedback scheint nicht möglich!

Wenn ich eine solche „Kritik“ lese, frage ich mich immer ernsthaft, ob ich tatsächlich genau dieselbe Inszenierung wie der Verfasser gesehen habe. Auch ich habe durchaus die eine oder andere kritische Anmerkung in meinem obigen Beitrag hinterlassen. Doch ich konnte nichts feststellen, was diese geballte Masse an Negativität rechtfertigen könnte. Im Gegenteil: Ich fühlte mich ganz und gar wunderbar unterhalten! 😍

Ich persönlich möchte nicht die ewig, gleichen Inszenierungen, die nach einem vorgegebenen Schema entstehen, auf der Bühne sehen. Ich wünsche es mir nicht nur – Nein! – ich erwarte und fordere es regelrecht, dass mir ein buntes, lebendiges Theater geboten wird, das mich auch durchaus herausfordern und zum (Mit-)Denken animieren darf und muss.


Noch bis Mitte Januar 2024 besteht die Möglichkeit, sich mit HÄNSEL UND GRETEL am Stadttheater Bremerhaven märchenhaft verführen zu lassen.

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