[Oper] Missi Mazzoli – BREAKING THE WAVES (DEA) / Stadttheater Bremerhaven

Oper von Missy Mazzoli / Libretto von Royce Vavrek / nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier / Deutsche Erstaufführung / in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere: 6. Mai 2023 / besuchte Vorstellung: 21. Mai 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Toni Burkhardt
Bühne: Wolfgang kurima Rauschning
Kostüme: Adriana Mortelliti
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Ich saß im Theater, schaute auf die Bühne, und Tränen rannen über meine Wangen…!

Die naive und psychisch labile Bess verliebt sich in den Offshore-Ölrigger Jan und heiratet ihn entgegen der Zweifel der Ältesten ihrer tiefreligiösen calvinistischen Gemeinde. Als Jan nach einer kurzen doch glücklichen gemeinsamen Zeit wieder zur Bohrinsel zurückkehren muss, betrauert Bess die Trennung so sehr, dass sich ihre psychischen Probleme wieder manifestieren, die sie bisher mit Medikamenten gut kontrollieren konnte. In dieser Situation ist ihr ihre strenge Mutter keine Unterstützung, die der Meinung ist, dass jeder noch so harte Schicksalsschlag stoisch ertragen werden muss. Hilfe erfährt sie von ihrer Schwägerin Dodo, der Frau ihres verstorbenen Bruders, die sich immer wieder schützend zu ihr stellt. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass Bess zunehmend schizophrene Züge zeigt: So ist sie immer wieder im Zwiegespräch mit Gott und bittet diesen, ihren Mann wieder zu ihr nach Hause zu bringen. Kurz darauf erleidet Jan auf der Bohrinsel einen fast tödlichen Unfall und wird ins Krankenhaus auf dem Festland gebracht. Als Bess erfährt, dass der Unfall Jan fast vollständig gelähmt hat, glaubt sie, dass es ihre Schuld sei. Schließlich hat sie Gott inständig gebeten, Jan zu ihr nach Hause zu bringen. Jan weiß, dass Bess niemals ihr Ehegelübde brechen würde, glaubt aber, dass er sie daraus befreien muss, damit sie ein erfülltes Leben führen kann. Er ermutigt sie, Liebhaber zu finden und ihm davon zu erzählen, damit er sich einreden kann, sie beide würden Liebe machen. Doch Bess weigert sich, dem ungeheuerlichen Wunsch ihres Mannes Folge zu leisten. Als Jan versucht, sich durch eine Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, ist sie sich sicher, dass sie ihm gehorchen muss. Scheiternde Versuche, Dr. Richardson, den behandelnden Arzt ihres Mannes zu verführen, und halbherzige sexuelle Begegnungen mit Fremden gehen mit einer Verschlechterung von Jans Gesundheit einher. Als Bess einen Mann findet und Sex mit ihm hat, stabilisiert sich überraschend Jans Gesundheit, worauf Bess weitere Sex-Bekanntschaften sucht. Doch ihr Ruf holt sie ein: Ihre Mutter verachtet sie, und die Kirchenältesten verstoßen sie aus der Gemeinschaft. Bess versteht nicht warum, da sie doch dem Willen ihres Mannes folgt und seine Genesung direkt proportional zu ihren außerehelichen Aktivitäten voranschreitet. Dodo versucht ihr begreiflich zu machen, dass Jan diesen Wunsch im Fieberwahn geäußert hat. Doch Bess lässt sich nicht aufhalten: Eines Nachts wird sie von Matrosen brutal vergewaltigt und sadistisch misshandelt. Mit letzter Kraft schleppt sie sich zu Dodo und stirbt, als Jan von seiner Operation aufwacht, und sich sein Gesundheitszustand dramatisch verbessert. Die Kirchenältesten stimmen zu, dass Bess zwar ein calvinistisches Begräbnis erhält, bestehen aber darauf, dass sie als Sünderin begraben und ihre Seele der Hölle übergeben wird. Jan, der sich vollständig erholt hat, stiehlt mit Hilfe seines besten Freundes Terry die Leiche, bevor sie beigesetzt wird. Als er ihre Überreste dem Ozean übergibt, erklingen die Glocken Gottes…!


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Regisseur Toni Burkhardt kreierte eine schlüssige Inszenierung, bei der die Dramatik sich Szene für Szene logisch zwingend steigerte. Dabei fühlte er sich – trotz aller Symbolik – dem Realismus verpflichtet: So standen die Beweggründe der Protagonist*innen mit all ihren vielfältigen Emotionen im Vordergrund. Er forderte von den Sänger*innen viel und ließ sie in drastischen Bilder agieren, die manchmal für das Publikum kaum zu ertragen waren. Die erdrückende Stimmung innerhalb einer Gemeinschaft, die dogmatisch an ihren Normen festhält, sorgte auf der Bühne für eine (An-)Spannung, die bis in den Zuschauersaal spürbar war.

Bühnenbildner Wolfgang kurima Rauschning schuf eine durchlässige Metallkonstruktion, die je nach Stellung der Drehbühne unterschiedliche Perspektiven bzw. Spielräume offenbarte. Zusammen mit den stimmigen Projektionen wandelte sich so das Bühnenbild von der Ölplattform über das Krankenhaus zur Kirche, bei der drei überdimensionale Kreuze dominierten. Ein großer, anfangs noch schneeweißer Kuschelbär, dessen Fell mit fortschreitender Handlung dunkler und dunkler wurde, als wäre er dem Feuer zu nah gekommen, stand sinnbildlich für die ursprünglich reine Seele von Bess, die nach und nach zu Asche verbrannte. Auch die Kostüme von Adriana Mortelliti verweigerten sich in ihrem miefigen 70er Jahre-Look jeglichem Glamour und unterstützten vielmehr den Realismus-Gedanken des Regisseurs.

Davide Perniceni webte mit dem kammermusikalisch besetzten Philharmonischen Orchester Bremerhaven einen emotionalen Klangteppich zwischen aufbrausenden Instrumental-Sound, musikalischem Minimalismus und Industrieklänge. Mizzy Mazollis Komposition passen nicht in das gewohnte Opern-Schema: Es gibt keine klassische Ouvertüre, Arien oder Duette. Wie beim Underscoring eines Films unterstützt die Musik das auf der Bühne Gezeigte und spiegelt so äußerst individuell die Gefühlswelten der Protagonist*innen wieder. Dazu kamen große Bleche ebenso zum Einsatz, wie Metallspiralen zum Klingen gebracht wurden.

Auf dem ersten Blick scheinen die Männer die Bühne zu dominieren. Da gab es den vom Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández exzellent disponierten Männerchor, aus dem einige Herren auch solistisch überzeugten, sei es James Bobby als verbissener Kirchenoberhaupt über Patrick Ruyters als sadistischer Matrosen bis zu MacKenzie Gallinger, der die ersten beiden „Freier“ von Bess mimte. Andrew Irwin zeichnete Dr. Richardson als einen mitfühlenden Charakter mit einer noblen, beinah schüchternen Zurückhaltung. Ulrich Burdack sorgte als Terry für die wenigen humorigen Momente des Abends, wenn er als Jans loyaler Freund positive Stimmung verbreitete und diesen am Krankenbett mit Bier versorgte. Marcin Hutek als Jan gelang die überzeugende Wandlung vom kraftstrotzenden jungen Kerl über den siechenden Kranken bis zum trauernden aber gereiften Mann.

Obwohl die Männer auf der Bühne in der Überzahl waren, bedurfte es nur drei herausragende Künstlerinnen, um die „Herren der Schöpfung“ in den Schatten zu stellen:

Signe Heiberg gab die Mutter mit einer beängstigenden Intensität. Diese Frau hatte alle Empfindungen tief in sich verschlossene, und doch zeigte Heiberg nur mit einem Blick oder mit einem Zucken im Gesicht, dass mächtige Emotionen unter der verhärteten Fassade tobten. Ihre Annäherungsversuche am Schluss an Tochter und Schwiegertochter wirkten beinah unbeholfen linkisch, da sie verlernt hatte, Empathie auszudrücken und weckten darum umso mehr mein Mitgefühl. Auch gesanglich variierte Heiberg ihren Sopran zwischen einem unterdrückten „piano“ und einem ausbrechenden „fortissimo forte“.
Brava,…

Boshana Milkov porträtierte Dodo als eine warmherzige und mitfühlende Frau. Zart ließ sie anklingen, dass ihre Gefühle zu Bess durchaus über denen einer Schwägerin hinausgingen. Doch niemals würde sie diese feine Grenze überschreiten, um das gemeinsame emotionale Band nicht zu zerreißen. Dabei war sie die unterstützende, haltgebende Schulter, die weder die Mutter noch Jan für Bess sein konnten, und bot sogar den Kirchenältesten mutig die Stirn. Milkovs reicher Mezzo erklang hierbei weniger protzend als vielmehr warm-umfangend.
…brava,…

Victoria Kunze schlüpfte nicht in diese Rolle, sie stürzte sich regelrecht hinein – gesanglich, darstellerisch, emotional,…! Ihre Bess taumelte zwischen Freude und Verzweiflung, zwischen Resignation und Hoffnung, war präsent und verlor sich selbst zunehmend und war dabei beängstigend nah am Wahnsinn. Gesanglich changierte sie zwischen kehlig-rauen Tönen bei den Gesprächen mit Gott bis zu den klirrenden Höhen voller Emotionalität. Hätte Victoria Kunze nicht schon im letzten Jahr den Herzlieb-Kohut-Preis erhalten, nach dieser fulminanten Leitung wäre er ihr sicher gewesen.
…bravissima!

Ich schaute auf die Bühne – eine verzweifelte Dodo schließt die sterbende Bess in ihre Arme, neben ihnen die hilflose Mutter – und Tränen rannen über meine Wangen…!

Es war wahrlich kein lustiger Opernabend: Ich verließ emotional aufgewühlt und tief bewegt das Theater. Doch ich war froh, dass ich dieser äußerst gelungenen deutschen Erstaufführung beiwohnen durfte. Das Stadttheater Bremerhaven hat abermals seinen Ruf als eine Bühne gefestigt, die abseits der großen Metropolen künstlerisch hochrangiges Theater auf die Bretter bringt. Vielen Dank!


Es gibt leider nur noch eine Vorstellung von BREAKING THE WAVES, und dann verabschiedet sich diese außergewöhnliche Oper schon wieder vom Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven.

[Operette] Jacques Offenbach – ORPHEUS IN DER UNTERWELT (Orphée aux enfers) / Stadttheater Bremerhaven

Operette bzw. Opéra-Buffon in zwei Aufzügen und vier Bildern von Jacques Offenbach / Libretto von Hector Crémieux und Ludovic Halévy / Textfassung von Isabel Hindersin und Markus Tatzig unter Verwendung der deutschen Textfassung von Ludwig Kalisch und Frank Harders-Wuthenow / in deutscher Sprache

Premiere: 11. Februar 2023 / besuchte Vorstellung: 9. April & 28. Mai 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Hartmut Brüsch
Inszenierung: Isabell Hindersin
Bühne & Kostüme: Dietlind Konold
Choreografie: Rosemary Neri-Calheiros
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Irgendwie gefällt mir der Gedanke, dass Intendant Lars Tietje vor Monaten bei der Planung der Spielzeit 2022/23 sinnierend in seinem Büro saß und immer wieder einen Blick auf die Liste mit den in Frage kommenden Stücke warf. Seine Entscheidung für die Oper und das Musical war schnell getroffen, galt es nun noch das Genre der Operette zu bedienen. Da dachte er sich vielleicht „Zwischen der geballten Dramatik von Weber und Massenet gönne ich meinem Musiktheater-Ensemble eine Verschnaufpause und kredenze ihm so `nen kleinen Happenpappen für Zwischendurch!“ Und so fiel seine Wahl auf dieses Leichtgewicht des Operetten-Repertoires.

Orpheus ist seiner Gattin Eurydike überdrüssig: Ständig hat sie etwas an ihm rumzumäkeln. Wie soll er sich bei diesem ständigen Gezanke auf das Komponieren und seine weibliche Anhängerschaft konzentrieren. Beidem widmet er sich gleichermaßen gerne. Eurydike langweilt sich und tröstet sich derweilen mit Aristäos, nichtsahnend, dass sich hinter der Maske des strammen Naturburschen niemand geringerer als Pluto, der Herr der Unterwelt versteckt. Aristäos aka Pluto würde die holde Schöne gerne in sein Reich entführen und ist darum nur allzu bereit, Orpheus bei der Beseitigung seiner Angetrauten zu helfen: Ein Schlangenbiss soll da helfen. Doch kaum meint Orpheus sich seiner Gattin entledigt zu haben, da taucht die öffentliche Meinung auf und setzt ihm zu. Schließlich hat er als Konservatoriumsdirektor einen guten Ruf zu wahren, und eine abhandengekommene Ehefrau wäre diesem wahrlich nicht zuträglich. Also macht er sich – mit der öffentlichen Meinung immer dicht auf den Fersen – auf den Weg Richtung Olymp, um dort vom Göttervater Jupiter Hilfe zu erbitten. Doch auf dem Olymp ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Vielmehr vergnügen sich Jupiters Kinder und Enkelkinder bei nächtlichen Amouren und verprassen so das göttliche Gold, während der Olymp vor die Hunde geht. Jupiter dreht ihnen kurzerhand den Geldhahn zu, würde allerdings allzu gerne auch selbst einen kleinen Seitensprung wagen. Doch seine eifersüchtige Gattin wacht mit Argusaugen über ihn. Da trifft Orpheus Bitte bei ihm auf offene Ohren: Wenn Pluto dieses Menschenkind in die Unterwelt entführt, dann muss es sich dabei um eine wahre Schönheit handeln. Da seine Sippe mit einer Revolte gegenüber seinen Sparmaßnahmen droht, nimmt er diese kurzerhand mit in die Unterwelt. In der Unterwelt sitzt Eurydike wie in einem Käfig fest und langweilt sich (schon wieder), da sie sich von ihrem derzeitigen Lover Pluto extrem vernachlässigt fühlt. Bewacht wird sie vom ständig angetrunkenen Hans Styx, der auch schon bessere Tage erlebt hat. Als Fliege verwandelt surrt Pluto durch das Schlüsselloch in Eurydikes Gemächer, verführt sie und verspricht, sie abermals zu entführen – diesmal in die Freiheit zu ihrem angetrauten Gatten. Eurydikes Begeisterung hält sich in Grenzen. Ebenso wenig begeistert ist Orpheus, als er von Jupiter erfährt, dass er Eurydike nur dann wieder mit nach Hause nehmen darf, wenn er sich nicht nach ihr umdreht. Dann aber schleudert Jupiter einen Blitz. Orpheus erschrickt, dreht sich um und – Schwupps! – finden die Beiden sich trotzdem daheim in ihrem Ehebett wieder. So wankelmütig sind auch die Götter…!


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Ich saß in der Vorstellung von ORPHEUS IN DER UNTERWELT und merkte irritiert, dass ich mit dem Stück fremdelte. Dies lag weder an der Inszenierung, noch an der Ausstattung und schon gar nicht an der musikalischen Umsetzung durch Sänger*innen und Orchester. Vielmehr drängte sich mir der Verdacht auf, dass die einzige Daseinsberechtigung dieses Werkes – neben dem klangvollen Namen des Komponisten – allein auf den wohl bekanntesten Cancan der Musikgeschichte beruht.

Oftmals hatte ich das Gefühl, als wollte der junge Jacques Offenbach und die Texter Hector Crémieux und Ludovic Halévy damals gerne neue Wege gehen, hatten aber nicht die Traute, ihre revolutionären Ideen konsequent zu Ende zu denken. Gleich zu Beginn gaben sie der öffentlichen Meinung eine Rezitative, die an Brecht-Weil erinnerte (obwohl beide zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Operette noch gar nicht geboren waren) und sie als Kommentatorin des Stückes prädestinierte. Dann ließen sie sie aber recht schnell wieder in der Versenkung verschwinden, um sie erst gegen Ende des Stücks „wiederzubeleben“. Auch verabschiedeten sie sich von der klassischen Rollenaufteilung mit Leading- und Buffo-Paar, setzten den Fokus augenzwinkernd nicht wie zu erwarten auf den Titelhelden Orpheus sondern vielmehr auf dessen Gattin Eurydike. Doch die Chance, das Ballett als erzählerisches Element in die Handlung zu integrieren, versäumten die Drei völlig. Vielmehr sind die Ballett-Einlagen so sehr von der eigentlichen Handlung separiert, dass sie wahllos irgendwo zwischengeschoben werden könnten. Zudem weist der 2. Aufzug (besonders im 4. Bild) eine solch spürbare Länge auf, dass man als Zuschauer beinah sehnsüchtig auf den berühmten Cancan wartet. Andererseits geizten sie nicht mit Ironie, schubsten die hehren Götter vom Thron, fegten kräftig durch die Unterwelt und verhohnepiepelten sogar die holde Kunst. Das Werk entstand im Jahre 1858 als Persiflage auf die großbürgerliche Bigotterie, die die freie Sinneslust aufgrund von Zwängen, die das soziale Leben bestimmten, einschränkte. Und trotzdem wirkte es auf mich, als standen beim Komponisten und seinen Librettisten vielmehr der Klamauk im Vordergrund und weniger eine nachvollziehbare Motivation der handelnden Personen.

Was bleibt mir da noch, was ich positives zu dieser Aufführung berichten kann? Es bleibt vieles oder vielmehr alles, bei dem Offenbach & Co. keinen Einfluss mehr hatten. Regisseurin Isabel Hindersin holt mit ihrer Inszenierung aus der kruden Geschichte das Bestmögliche heraus. Sie fokussiert in den intimeren Szenen, „gibt Kante“ bei den Ensemble-Szenen, setzt Akzente in der Personenzeichnung und überzeugt mit kleinen, witzigen Regie-Einfällen. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist die holde Eurydike, die bei ihr weniger das von Männern manipulierte Weib darstellt, als vielmehr die junge Frau, die sich selbstbestimmt (auch sexuell) nimmt, was bzw. wer ihr gefällt. Dietlind Konold präsentiert eine Ausstattungsorgie, nimmt im Bühnenbild mit Mole und schiefen Leuchtturm deutlich Bezug auf Bremerhavener Verhältnisse, kleidet die Bewohner*innen des Olymps und der Hölle erwartungsgemäß in Gold- bzw. Rot-Schwarz-Nuancen. Sie schießt dabei absichtlich über das Ziel hinaus und kleidet die Protagonist*innen der Mythenwelten allesamt herrlich überkandidelt. Da stechen die Kostüme für Orpheus und Eurydike sowie für die öffentliche Meinung beinah anachronistisch (in jeweils unterschiedliche Richtungen) heraus.

Isabel Hindersin traf in Bremerhaven nicht nur auf ein exzellent singendes sondern auch absolut spielfreudiges Gesangsensemble, das sich ungehemmt mit sichtlichem Vergnügen und voller Wonne in diesem musikalischen Klamauk suhlte. Angefangen von den Damen und Herren des Chores (Einstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández), die auch in den div. Nebenrollen glänzten, über Sydney Gabbard, die voller Energie als quirliger Cupido über die Bühne hüpfte, bis zur Lady Macbeth erprobten Signe Heiberg, die als taffe Jagdgöttin Diana gefiel. Spätestens beim schon erwähnten Cancan konnte auch das Ballett in der Choreografie von Rosemary Neri-Catheiros zeigen, was in ihm steckte, und ein tänzerisches Feuerwerk entfachen.

Boshana Milkov gab eine resolute und gestrenge öffentliche Meinung im Zeitungs-Kleid und mit einem Twitter-Vögelchen auf dem Käppi. Marcin Huteks Jupiter war ein liebenswerter Lüstling mit einem Humor, der ebenso schräg war wie seine Frisur. Konstantinos Klironomos brachte als Charmeur Aristäos/Pluto nicht nur Eurydikes Herz zum Schnellerschlagen sondern sicher auch bei etlichen Zuschauer*innen die Hormone in Wallung. Andrew Irwin gab den Titelhelden mit dem spröden Charme des Intellektuellen und beinah kindlicher Naivität bar jedem Schuldgefühl. Victoria Kunze schaffte es, dass Eurydike nie zum bloßen Flittchen verkam. Ihre Eurydike propagierte mit einem natürlichen Selbstverständnis das, was sich die so genannten Herren der Schöpfung schon seit Jahrhunderten herausnehmen: die eigene Sexualität vorurteilsfrei und ohne Gewissensbisse zu genießen.

Es war so eine Freude nach all den Jahren Hans Neblung wieder auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven erleben zu dürfen. Ende der 90er Jahre/ Anfang der 2000er stand er hier in großen Musical-Partien auf diesen Brettern. Nun stelzte er wunderbar kauzig und mit viel Selbstironie als Hans Styx in Korsage und Highheels über die Bühne und erinnerte so mit angepassten Text bei seinem Song „Als ich noch Prinz war in Arkadien“ an seine früheren Erfolge als Frank N. Furter und Graf Dracula.

Hartmut Brüsch entlockte dem Philharmonischen Orchester die für Offenbach unumgängliche Leichtigkeit. Er akzentuierte bei den Couplets, schmachtete bei den Liebesarien und ließ mit Schmackes beim bekannten Cancan, dem so genannten Höllengalopp, aufspielen.

Vielleicht sollte ich mir diese Operette noch ein weiteres Mal anschauen. Diesmal wäre ich vorbereitet und würde keinen tieferen Sinn erwarten. Ich nehme dann einfach dieses Werk als das, was es ist: eine knallbunte, lustvoll überschäumende Posse.

Nachtrag zum 28. Mai 2023: Ich habe es tatsächlich getan! Ich habe mir ein weiteres Mal diese Operette angesehen. Zugegeben: Es war eine eher spontane Eingebung in der Mittagszeit des Pfingstsonntags, der mich dazu verleitete, zuerst einen Blick auf den Spielplan und dann auf den Saalplan zu werfen. Es war die letzte Vorstellung im Musiktheater der Saison 2022/2023 und somit auch Dernière der Operette ORPHEUS IN DER UNTERWELT: Wenige Klicks später war die Eintrittskarte mein!

Ja, bei dieser Operette macht es Sinn, keinen Sinn zu erwarten. Eingedeckt mit diesem Wissen saß ich im Zuschauersaal und amüsierte mich gar königlich. Meine kritischen Anmerkungen zum Werk an sich blieben natürlich bestehen, doch diese konnte ich wunderbar ausblenden. Vielmehr entdeckte ich plötzlich Details im Zusammenspiel der Akteur*innen, die mir beim ersten Zuschauen nicht aufgefallen waren. Beim ersten Zuschauen war ich viel zu sehr auf die Haupthandlung konzentriert. Da diese mir nun bekannt war, konnte ich mein Augenmerk auf witzige Begebenheiten „am Rand“ lenken, die mich teilweise mehr unterhielten als die im Vordergrund platzierte Hauptaktion. So kicherte ich manchmal in Momenten, in denen meine Nachbarn auf dem ersten Blick nichts Komisches entdecken konnten.

Ja, es ist durchaus von Vorteil, sich eine Inszenierung ein weiteres Mal anzusehen: Ich genoss sehr diese Freiheit, meinen Blick hemmungslos schweifen lassen zu können, ohne Angst zu haben, dass ich evtl. etwas Wichtiges verpasse. Dies sind meine kleinen Glücksmomente. Und natürlich ist dies ein Luxus, den auch ich mir nicht allzu oft gönnen kann. Das Budget meiner Geldbörse ist bedauerlicherweise begrenzt, und dafür interessieren mich einfach zu viele Inszenierungen. Aber wenn ich mir diesen Luxus gönne, dann genieße ich ihn aus vollem Herzen!


Wer nun Lust hat, selbst das Tanzbein zu schwingen, da habe ich hier die passende musikalische Untermalung:


Es gibt leider nur noch wenige Möglichkeiten, um mit ORPHEUS IN DER UNTERWELT abzutauchen.

[Oper] Carl Maria von Weber – DER FREISCHÜTZ / Stadttheater Bremerhaven

Romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber / Libretto von Johann Friedrich Kind / nach einer Novelle von Johann August Apel und Friedrich Laun

Premiere: 25. Dezember 2022 / besuchte Vorstellung: 5. Februar 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Wolfgang Nägele
Bühne & Kostüme: Stefan Mayer
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Ich stand an der Theaterkasse des Stadttheaters Bremerhaven, um einige Dinge rund um Abo, Karten und Vorverkauf vis-à-vis zu klären und war mitten in den Verhandlungen, als plötzlich ein Gespräch an der Nebenkasse meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen und musste folgendem Dialog belauschen.

Eine ältere Dame echauffierte sich „Das Weihnachtsmärchen war schon nicht schön, und nun ist der Freischütz auch so furchtbar!“ „Schicken sie gerne eine Info mit ihren Eindrücken an die Intendanz.“ schlug ihr Gegenüber an der Kasse diplomatisch vor Hach, das bringt doch nichts. Ich habe es dem Herrn Tietje schon persönlich in der Pause gesagt, und wissen sie, was er gesagt hat? Nichts! Er hat nur die Augenbrauen hochgezogen!“ Und nach dieser Bemerkung musste ich meine Aufmerksamkeit leider wieder auf meine eigenen Angelegenheiten lenken.

Ich weiß natürlich nicht, was Herr Tietje mit seinen hochgezogenen Augenbrauen ausdrücken wollte. Nach dem Besuch besagter Inszenierung hätte ich eine vage Ahnung: Überraschung, Erstaunen, Unverständnis, vielleicht auch: Ärger über die mangelnde Wertschätzung. Zumindest würden meine Augenbrauen dies ausdrücken, und ich bewundere Herrn Tietjes noble Zurückhaltung: Ich hätte meine Klappe nicht halten können!

Der Jägerbursche Max liebt Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno und möchte sie gern heiraten. Bevor er Agathe zur Frau bekommt und die Nachfolge des Försters antreten kann, soll er mit einem Probeschuss seine Treffsicherheit beweisen. Kurz zuvor gibt es im Dorf ein Sternschießen. Max misslingt ein Schuss, und er wird von allen Dorfleuten verspottet und ausgelacht – insbesondere von Kilian, dem der Schuss gelingt. Kaspar, ein anderer Jägerbursche, der Max insgeheim hasst und beneidet, will sich an ihm rächen. Er verspricht Max, ihm eine Kugel verschaffen zu können, die mit Sicherheit ins Ziel trifft. Dazu soll Max um Mitternacht in die berüchtigte Wolfsschlucht kommen. Es geht die Sage, dass die in der Wolfsschlucht um Mitternacht gegossenen Kugeln verzaubert sind und sechs davon genau in das gewünschte Ziel treffen, die siebende aber vom Teufel gelenkt wird. Am Vorabend der Hochzeit wartet Agathe ängstlich auf Max. Sie hat böse Vorahnungen, lässt sich allerdings von ihrer Freundin Ännchen aufheitern. Max erscheint und berichtet, dass er nochmals zur Wolfsschlucht gehen wird. Agathe wie auch Ännchen sind entsetzt. In der Wolfsschlucht gießt Max mit Kaspar zusammen die sieben Kugeln. Kaspar ruft dazu Samiel, den schwarzen Jäger an, der eigentlich der Teufel ist, und verspricht ihm die Seele von Max. Dann bekommt Max vier Kugeln, drei behält Kaspar zurück. Am Morgen berichtet Agathe Ännchen von ihrem Traum: Sie träumte, sie wäre eine Taube, und Max würde auf sie schießen. Die eintreffenden Brautjungfern überreichen ihr versehentlich eine Totenkrone anstatt des Brautkranzes. Durch diese bösen Omen zutiefst erschreckt, besteht Agathes letzte Hoffnung, das bevorstehende Unglück noch abwenden zu können in einem Kranz aus den weißen Rosen, die ein frommer Eremit ihr geschenkt hat. Am Tag der Probeschuss-Zeremonie kommt der Landesfürst Ottokar zum Zuschauen und bestimmt als Ziel des Probeschusses ausgerechnet eine weiße Taube. Agathe, voller Entsetzen, läuft Max in die Schusslinie. Die Taube fliegt weg, Agathe stürzt zu Boden, und auch Kaspar fällt. Es stellt sich heraus, dass er von dem Schuss, vom Teufel gelenkt und vom heiligen Eremiten umgelenkt, getroffen wurde, und Agathe unverletzt geblieben ist. Sie sank nur vor Schreck zu Boden. Max gesteht, dass er mit Kaspar Freikugeln gegossen hat. Fürst Ottokar will ihn bestrafen und die Heirat mit Agathe verbieten, aber der Eremit und das ganze Volk setzen sich für die Liebenden ein. Das Urteil wird umgewandelt: Max muss ein Probejahr bestehen und darf, falls er sich bewährt, Agathe dann heiraten. Der Probeschuss wird für alle Zeit abgeschafft.


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Regisseur Wolfgang Nägele verweigert dem Publikum jegliche Jäger-Romantik: Statt leutseligem Heimatkitsch à la „Der Förster vom Silberwald“ präsentiert er tristen 70er Jahre-Muff. So zwingt er seine Figuren, sich von trivialen Äußerlichkeiten abzuwenden, stattdessen den Blick ins Innere zu richten und in die Tiefen ihrer Psyche einzutauchen.

Bühnenbild und Kostüme von Stefan Mayer unterstützen stringent das Konzept des Regisseurs: Der Vorhang öffnet sich, und auf der Drehbühne präsentiert sich ein verrotteter Trecker samt Anhänger incl. div. Schrotteile. Von der Decke schwebt ein Holzgestell, das wie der Rohbau eines Heuschobers wirkt. Dies alles spiegelt die Tristesse des Landlebens in den 70er Jahren wieder, wo die Dorfjugend sich regelmäßig beim besagten Heuschober oder im Häuschen der einzigen Bushaltestelle trifft, um heimlich eine Kippe zu rauchen oder rumzuknutschen, und wo das Schützenfest der kulturelle Höhepunkt des Jahres war. Auch die Kostüme verströmen in ihrer beige-braun-grünen Langeweile die damalige Spießigkeit. Einzig die Freundinnen Agathe und Ännchen setzten mit ihren Outfits farbige Akzente und symbolisieren, dass beide bereit sind, sich zu emanzipieren.

Doch was nützen die besten Ideen eines Regisseurs, was hilft es, Psychogramme der handelnden Personen zu erstellen, wenn die Besetzung nicht fähig ist, dies auf der Bühne umzusetzen. Das Publikum des Stadttheater Bremerhavens kann sich glücklich schätzen, dass dieses Haus über ein talentiertes Ensemble verfügt und sich nicht scheut, ebenso talentierte Gäste zu verpflichten.

Signe Heiberg (Agathe) singt ihre Partie fein nuanciert mit strahlendem Sopran, ist weniger die unbedarft Naive als vielmehr die melancholisch Hinterfragende. Ihren Sidekick gibt Victoria Kunze (Ännchen) mit lyrisch-perlender Stimme und ansteckendem Optimismus. Das Zusammenspiel der beiden Frauen gestaltet sich äußerst natürlich und zeigt die innige Vertrautheit dieser Figuren. Der Max von Konstantinos Klironomos ist ein Zweifelnder: Er zweifelt an seiner vorgegebenen Bestimmung aber auch an sich selbst. Die dunkle Seite in ihm versucht immer wieder, die Oberhand zu gewinnen. Klironomos bringt diese innere Zerrissenheit auch mit seinem brillanten Tenor zum Ausdruck. Apropos dunkle Seite: In dieser Inszenierung stellt Regisseur Wolfgang Nägele dem Max ein Double zur Seite, sozusagen sein böses Ich, das ihn immer wieder dazu animiert, Grenzen zu überschreiten und Konventionen zu brechen. Schauspieler Martin Maecker ist hierbei Verführer, Scharlatan und Gaukler in Personalunion. Zudem übernimmt er auch den Part des Samiels, wandert gekonnt zwischen den Rollen, bis diese sich immer mehr und mehr zu einer Person manifestieren. Gast Thomas Weinhappel überzeugt sowohl mit seinem markant-dramatischen Bariton als auch mit seinem intensiven Spiel. Sein Kasper ist eine verlorene Seele, der trotz aller Ambivalenz auch Mitleid erregt.

Bei diesem starken Quartett aus Agathe, Ännchen, Max und Kaspar (In dieser Inszenierung ist es mit Max Double/Samiel sogar ein Quintett.) bleiben alle anderen Rollen stückbedingt nichts anderes als bessere Stichwortgeber. Das Stadttheater Bremerhaven gönnte sich den Luxus, besetzte diese Rollen ebenfalls mit Solisten und schuf so eine Aufwertung der Partien. Der Kilian von Andrew Irwin ist ein aufbrausender Jungspund, der die Muskeln spielen lässt, um seinen Platz in der männlichen Hackordnung zu erkämpfen. Ulrich Burdack tänzelt als Eremit geschmeidig in seinen Leoparden-Puschen durch die Szenerie und schnuppert dabei verträumt an einem Strauß weißer Rosen, um diese dann spielerisch kreis- bzw. kranzförmig um Agathe zu drapieren. Marcin Hutek gibt einen unangenehm schmierigen Ottokar, der lüsternd nach Agathe schielt und so seine Machtposition hemmungslos ausnutzt. Bart Driessen gibt den Erbförster Kuno als obrigkeitstreuen Duckmäuser, dem seine Stellung wichtiger zu sein scheint, als das Glück seiner Tochter.

Nach MACBETH liefert Chorleiter Mario Orlando El Fakih Hernández mit seinen Sänger*innen ein weiteres Beispiel dafür, welche Qualität der Opernchor sich in der Zwischenzeit erarbeitet hat. Seien es die Herren beim bekannten Jägerchor oder die kessen Brautjungfern in Gestalt von Katharina Diegritz, Sydney Gabbard, Lilian Giovanini und Brigitte Rickmann bei Wir winden dir den Jungfernkranz – immer überzeugt der Chor stimmlich bestens disponiert und zeigt zugleich darstellerische Präsenz.

Davide Perniceni lässt mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven Webers Melodien im üppigen Glanz erklingen. Dabei wandelt er mit seinen Musiker*innen stets gekonnt zwischen den Extremen: von überschäumend-romantischen Klängen bis zu den dunklen, unheilvollen Tönen der Partitur.

Und so schenkt uns das Stadttheater Bremerhaven einen FREISCHÜTZ, der musikalisch und darstellerisch keine Wünsche offen lässt und uns mit seinem ungewöhnlichen Regiekonzept neue Perspektiven eröffnet,…

…natürlich vorausgesetzt, dass wir flexibel und mutig genug sind, die gewohnten Pfade zu verlassen. 😉


Es gibt leider nur noch wenige Möglichkeiten, um mit DER FREISCHÜTZ in den dunklen Wald abzutauchen.