[Schauspiel] Magnus Vattrodt – EIN GROSSER AUFBRUCH / Stadttheater Bremerhaven

Drama von Magnus Vattrodt / nach dem gleichnamigen Film von Matti Geschonneck

Premiere: 14. Januar 2023 / besuchte Vorstellung: 19. Januar 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Inszenierung: Niklas Ritter
Bühne & Kostüme: Annegret Riediger
Musik: Nikolas Garin


Aufmerksame Verfolger*innen (!) meines Blogs werden es sicherlich schon bemerkt haben: Bei Kulturelles Kunterbunt tauchen deutlich mehr Werke des Musik- als des Sprechtheaters auf. Müsste ich mich zwischen einem Besuch von Puccinis La Bohème oder Shakespeares Ein Sommernachtstraum entscheiden, ich würde ohne zu zögern La Bohème wählen. Die Begründung ist ganz einfach: Die Musik bzw. der Gesang berührt mich auf einer anderen, emotionaleren Ebene und dringt tiefer in meine Seele.

Bei der puren Sprache bin ich durchaus auch emotional berührt, bleibe allerdings auf einer rationaleren Ebene. Ich erfreue mich am Klang des gesprochenen Wortes, an der gekonnten Deklamation eines Monologs oder an dem perfekten Timing bei Dialogen. Da ich mich als Vor-Leser mit meiner eigenen Stimme auseinandersetze, schaue ich den Profis gerne mal „aufs Maul“, in der Hoffnung, von ihnen lernen zu können. Wenn zudem noch das Sujet des Stücks – wie in diesem Fall – meine Neugier anheizt, dann muss ich hin…

Adrian und Katharina sind auf Holms Einladung in sein Haus am Chiemsee gekommen, aber der Hausherr ist nicht da. Während Katharina Unrat wittert, macht sich Adrian ans Kochen. Gut gelaunt taucht Holm doch noch auf. Aber nicht nur der.  Hintereinander kommen auch seine beiden Töchter an. Charlotte mit dem Taxi, aber ohne Geld, und Marie mit ihrem Verlobten Heiko, aber ohne Zeit. Sie muss heute noch einen Flieger nach New York erwischen und geht ihren Vater harsch an, dass der sie per Sprachnachricht in sein Haus beordert hat, weil er sich verabschieden wolle. Zur Überraschung aller, taucht auch Holms Ex-Frau und Mutter der Töchter Ella auf, die die Familie vor dreißig Jahren verlassen hatte. Was zuerst nach Holms schrägem Sinn für Humor klingt, entpuppt sich als bitterer Ernst: Holm ist unheilbar erkrankt und hat den Plan, sich zum begleiteten Freitod in die Schweiz abzusetzen. Und das möchte er mit einem großen Essen und Champagner feiern. Der gute Holm ist zwar begeistert von seinem Plan, hat aber nicht wirklich über die Konsequenzen nachgedacht. Und da er das offensichtlich schon sein ganzes Leben lang so betreibt, drehen die anderen jetzt den Spieß um und holen eine Leiche nach der anderen aus dem Keller der gemeinsamen Vergangenheit…

(Inhaltsangabe der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven entnommen.)


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Keine leichte Kost wird hier dem Publikum geboten. Doch das Stadttheater Bremerhaven lässt sein Publikum mit ihren offenen Fragen nicht allein und lädt Interessierte am Anschluss der Vorstellung ein, sich mit fachkundigen Gästen auszutauschen. Denn Fragen bleiben/blieben offen – zumindest bei mir. Nach der Vorstellung machte ich mir durchaus meine eigenen Gedanken zu einem Sterben in Würde. Diese Gedanken waren mir nicht neu: Nach etlichen gesundheitlichen Krisen haben mein Mann und ich jeweils Wünsche zur Beisetzung schriftlich festgehalten. Doch allzu konkrete Gedanken zur Gestaltung des Sterbeprozesses hatten wir uns noch nicht gemacht. Doch dies können wir ja noch nachholen…!

Ich hatte nie das Gefühl, dass mich meine Gedanken zur eigenen Sterblichkeit emotional runterziehen. Vielmehr spürte ich eine Leichtigkeit, als ich schon vor Jahren den Ablauf meiner Trauerfeier festlegte. Voller Kreativität beschrieb ich Form und Farbe meiner Urne und erstellte eine Playlist mit Songs, die mir in meinem Leben wichtig sind und für mich nochmals erklingen sollen. Makaber? Nein, ganz und gar nicht: Vielmehr ist das Sterben ein Teil des Lebens. Warum sollte ich mir also über diesen Teil meines Lebens keine Gedanken machen? Zumal die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, ihm einen Teil seines Schreckens nimmt.

Und genau dies gelingt auch Regisseur Niklas Ritter mit seiner Inszenierung: Er ziseliert aus der papierenen Vorlage filigrane Rollenprofile und setzt sie passgenau auf die Mitglieder seines Ensembles. Er schafft für die Charaktere die Möglichkeit, sich zu entwickeln, zu entfalten und lässt sie so atmen. Dabei hält er fein ausjustiert die Waage zwischen Tragik und Komik. Ja, es darf auch gelacht werden! Wir lachen über das Unvermögen der Bühnenfiguren und lachen gleichzeitig über unser eigenes Unvermögen, das uns manches Mal blockiert.

Das Bühnenbild von Annegret Riediger erinnert mit seinem Scandic-Chic der 70er an ein Ferienhaus, das irgendwie aus der Zeit gefallen ist, und als wolle es das jugendliche Ich seines Besitzers konservieren. Ihre Kostüme unterstreichen wohltuend unaufdringlich den jeweiligen Charakter.

Mit Kay Krause (Holm), Frank Auerbach (Adrian), Sibylla Rasmussen (Katharina), Julia Lindhorst-Apfelthaler (Charlotte), Marsha Zimmermann (Marie), Marc Vinzing (Heiko) und Isabel Zeumer (Ella) steht auf der Bühne ein absolut homogenes und aufeinander eingespieltes Schauspielensemble, in dem jede*r ihren/seinen Moment innerhalb der Aufführung erhält, um zu brillieren. Ich empfände es als vermessen, würde ich einzelne Namen hervorheben. Es ist eine fulminante Ensemble-Leistung!

Die Vorstellung wird ohne Pause gegeben, d.h. 90 Minuten lang oder lange 90 Minuten ist das gesamte Ensemble auf der Bühne. Egal, wann ich meinen Blick von den momentanen Hauptakteur*innen abwand und andere Schauspieler*innen beobachtete, immer waren alle zu 100% in der jeweiligen Rolle. Ein Beispiel: Während Holm auf der Vorderbühne mit Adrian und Katharina diskutiert, sitz seine Tochter still an der Seite, und eine Träne rinnt langsam ihre Wange entlang. Hier wird auf der Bühne „großes Kino“ geboten!



Tragisch oder tragisch-komisch? Egal! Leider kommt EIN GROSSER AUFBRUCH am Stadttheater Bremerhaven nur noch zwei Mal zur Aufführung, doch dafür gibt es noch Karten. Also: hingehen und anschauen!

[Schauspiel] Günter Grass – DIE BLECHTROMMEL / Stadttheater Bremerhaven

Schauspiel nach Günter Grass / für die Bühne bearbeitet von Peter Schanz

Premiere: 9. November 2019 / besuchte Vorstellung: 17. November 2019

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Inszenierung: Mark Zurmühle
Bühne: Eleonore Bircher
Kostüme: Ilka Kobs
Video: Aaron Bircher
Musikalische Einstudierung: Hartmut Brüsch

„Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus den Augen.“

…dies ist nicht nur der erste Satz des Romans „Die Blechtrommel“, so beginnt auch das Schauspiel. Oskar Matzerath blickt zurück sowohl auf 50 Jahre Familiengeschichte als auch auf 50 Jahre deutscher Geschichte. Der Junge, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr weiterzuwachsen, ist Unschuld und Verkommenheit zugleich. Scheinbar harmlos wirkend beobachtet er mit einem beinah sezierenden Blick die Entwicklungen in der Familie und der Gesellschaft und zieht an den Schicksalsfäden ganz nach seinem Gusto. Mit dem Klang seiner Trommel und der Fähigkeit, Glas mit seiner Stimme zum Zerspringen zu bringen, manipuliert er erbarmungslos seine Umwelt.

Dem Regisseur Mark Zurmühle ist mit seinem 7-köpfigen Ensemble eine stringente, aufwühlende Inszenierung gelungen, in der – außer Max Roenneberg als Oskar Matzerath – alle übrigen Schauspieler*innen mehrere Rollen verkörpern. Das Schauspiel beginnt in der besagten Heil- und Pflegeanstalt: Beinah steril wirkt das Bühnenbild mit seinem runden Pavillon und den weißen Stühlen. Oskar liegt angeschnallt auf einer Behandlungsliege und wird von Ärzten, Pflegern und Schwestern in weißer, uniformierter Kluft beobachtet. Und während Oskar mit dem Erzählen beginnt, verwandelt sich das Personal der Heil- und Pflegeanstalt mit wenigen Requisiten und Kostümteilen in die Protagonisten seiner Geschichte…!

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Ein aufwendiges Bühnenbild wird nicht benötigt: Das Können der Schauspieler*innen fesselt das Publikum. Die Kraft ihrer Darstellung macht Hilfsmittel wie ein üppiges Bühnenbild überflüssig.

Max Roenneberg gibt einen wendigen Oskar, der jungenhaft naiv und diabolisch abstoßend zugleich ist, und bildet mit seinen Kolleg*innen ein eingespieltes Ensemble, das wie Perlen auf einer Schnur die Geschehnisse vor den Augen des Publikums aufreiht. Sascha Maria Icks, Richard Lingscheidt, Julia Lindhorst-Apfelthaler, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Kay Krause und Henning Bäcker bilden ein so homogenes Ensembles, dass es mir schwerfällt, einzelne Künstler hervorzuheben: Jede*r zeigte eine immense Wandlungsfähigkeit und hatte große, bewegende Momente. Mark Zurmühle verzichtet wohltuend auf plakative Gesten und greller Symbolik: Der Freitod mit dem Strick wird mit Hilfe einer Krawatte und einer Kartoffel dargestellt, und auch das Hakenkreuz wird nicht benötigt, um die Atmosphäre dieser Zeit zu repräsentieren.

Wer ein 60 Jahre altes Werk modern und eindrucksvoll auf der Bühne sehen möchte, sollte den Weg nach Bremerhaven nicht scheuen!


Oskar Matzerath wird DIE BLECHTROMMEL weiterhin für einige Vorstellungen am Stadttheater Bremerhaven schlagen…!