[Musical] Marc Shaiman – HAIRSPRAY / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Marc Shaiman / Liedtexte von Scott Whitman & Marc Shaiman / Buch von Mark O’Donnell & Thomas Meehan / Deutsche Fassung von Jörn Ingwersen (Dialoge) und Heiko Wohlgemuth (Songs) / Basierend auf dem New Line Cinema Film, Drehbuch und Regie von John Waters

Premiere: 5. November 2022 / besuchte Vorstellungen: 08.01., 03.03. & 30.04.2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Tonio Shiga (08.01. & 30.04.) / Hartmut Brüsch (03.03.)
Inszenierung: Toni Burkhardt / nach einem Konzept von Iris Limbarth
Choreografie: Sabine Arthold
Bühne: Britta Lammers
Kostüme: Heike Korn
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Jedes kleinere Mehr-Sparten-Haus kennt diese Probleme bei der Besetzung eines Musicals aus dem hauseigenem Ensemble: Der Sopran kann wunderbar singen aber weniger gut tanzen. Der Schauspieler spielt sich ´nen Wolf, hat´s aber nicht so mit dem Singen. Und der Ballett-Tänzer kann nichts außer tanzen, tanzen und nochmals tanzen. Hinzu kommt ein in die Jahre gekommener Opernchor, dessen Mitglieder auch für die div. Nebenrollen herhalten müssen. Und das Philharmonische Orchester schmachtet sich zwar durch Puccini & Co., doch alles, was nach den 60er Jahren komponiert wurde, gilt als schnöde Populärkultur. Mit Biegen und Brechen würde man so noch eine halbwegs solide „My Fair Lady“ auf die Bretter zimmern, doch der Intendant schielt auf die neueren Werke des Genres, die vor Pop, Jazz und Soul nur so strotzen. Das Stadttheater Bremerhaven kennt diese Probleme…

NICHT! Hier formte Regisseur Toni Burkhadt gemeinsam mit Choreografin Sabine Arthold aus den hauseigenen Künstler*innen der unterschiedlichen Sparten in Kombination mit Gästen ein so homogenes Ensemble, dass sich die scheinbaren Schwächen zu Stärken wandelten. Burkhardts Inszenierung setzt auf Tempo: Leerlauf scheint hier nicht existent. Dafür sorgt er für fließende, beinah filmartige Übergänge. Doch er erlaubt seinem Ensemble auch die leisen, emotionalen Momente, die zum Kreieren glaubhafter Charaktere so wichtig sind. Arthold setzt in ihren tänzerischen Bewegungsabläufen auf zeittypische Elemente der Sixties. Sie lässt die Nicht-Tänzer*innen neben den Profis sehr gut aussehen. Dank ihrer gelungenen Choreografie bilden die Künstler*innen aus den unterschiedlichen Sparten eine homogene Einheit. Abgerundet zu einem gelungenen Gesamtkonzept wird die Inszenierung durch das wandlungsfähige Bühnenbild von Britta Lammers, in dem die Künstler*innen in den herrlich bunten Retro-Kostümen von Heike Korn agieren dürfen.

Doch nun: WELCOME TO THE 60’s!

Baltimore 1962: Die pummelige Schülerin Tracy Turnblad lebt mit ihrer übergewichtigen Mutter Edna, die aufgrund ihrer Figurprobleme alle ihre Träume und Hoffnungen aufgegeben hat, und ihrem Vater Wilbur, der einen schlecht laufenden Scherzartikelladen besitzt, sehr einsam. Ihre einzige echte Freundin ist die Außenseiterin Penny Pingleton, die von ihrer Mutter permanent unterdrückt und bevormundet wird. Tracys größter Traum ist es, in der Corny-Collins-Show mitzutanzen, der angesagtesten Show des Lokalfernsehens, in der nur die beliebtesten Teenager der Stadt tanzen. Außerdem hat sie sich vorgenommen, die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl zu gewinnen. Während ihre Mutter skeptisch ist und Angst hat, dass ihre Tochter wegen ihres Aussehens verspottet wird, unterstützt ihr Vater sie und macht ihr Mut, dass man seine Träume verwirklichen soll. Als sie dank ihrer Hartnäckigkeit und ihres Selbstbewusstseins tatsächlich an der Show teilnehmen darf, wird sie – gerade wegen ihres Aussehens und ihrer Natürlichkeit – über Nacht zum Vorbild für viele Teenager, die sich mit ihr identifizieren. Sie verliebt sich in den Star der Show, den jungen Sänger Link Larkin, der auf seinen großen Durchbruch wartet und darum eine kamerataugliche Zweck-Beziehung mit der arroganten Amber von Tussle hat. Durch ihre neugewonnenen Freunde Seaweed, seiner kleinen Schwester Inez und deren Mutter Motormouth Maybelle erfährt Tracy von den vielfältigen Repressalien, denen farbige Menschen ausgesetzt sind. Ihre neue Berühmtheit nutzt sie zu einer Kampagne gegen die Trennung von Schwarzen und Weißen in der Corny-Collins-Show, was Amber von Tussle und ihre Mutter Velma zu verhindern versuchen. Dann geht die „Miss Teenage Hairspray“-Wahl in ihre entscheidende Runde. Amber von Tussle ist siegessicher, doch in letzter Sekunde taucht Tracy auf und wendet – mit Unterstützung ihrer Eltern und Freunde – die Wahl zu ihren Gunsten…!


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Ich glaube, ich durfte auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven noch nie ein so großes Ensemble erleben, das sich aus Künstlern aller Sparten incl. Gäste zusammensetzte: Da waren die wunderbaren Tänzer*innen des Balletts, die agilen Sänger*innen des Opernchores und die entzückenden Kids des Kinderchores. Einem Chor der griechischen Antike gleich sorgten Louisa Heiser, Sharon Isabelle Rupa und Nicole Rushing als The Dynamites verführerisch rotgewandet für einen authentischen Motown-Sound. Schauspieler Karsten Zinser lieferte ein kleines humoristisches Kabinettstückchen als selbstverliebter Corny Collins. Iris Wemme-Baranowski überzeugte als rustikale Gefängnisaufseherin ebenso wie als psychopathische Prudy Pingelton. Sydney Gabbard warf sich als quirlige Penny Pingleton mit Leidenschaft in die Arme ihres Seaweed, den Malcom Quinnten Henry mit geschmeidigem Körper und ebensolcher Stimme zum Leben erweckte. Vanessa Weiskopf gefiel in der liebenswerten Rolle der kleinen Schwester Inez. Getoppt wurden die beiden allerdings durch ihre Bühnenmutter Motormouth Maybelle: Debrorah Woodson verkörpere diese Rolle schon bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Köln und hat sie so sehr verinnerlicht, dass jede Geste, die Mimik und jedes Wort ganz natürlich erschienen. Den Song Ich weiß, wo ich war gestaltete sie zu einer berührenden Hymne, die das Publikum für einen Moment still innehalten ließ, bevor Woodson mit einem frenetischen Applaus belohnt wurde.

Mezzo Boshana Milkov als Velma von Tussle sonderte mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit ihre rassistischen Plattitüden ab. Bei der Interpretation der Songs, die sie mit Grandezza darbot, spürte man deutlich ihre Liebe zum Jazz. Ganz als Mini-Me einer übermächtigen Mutter schlüpfte Schauspielerin Julia Lindhorst-Apfeltahler in die Rolle der Amber von Tussle und ließ hinter der schönen Fassade des blonden Dummchens einen willensstarken (nur leider fehlgeleiteten) Geist durchblitzen. Beiden Künstlerinnen gelang das Kunststück, den jeweiligen Part nicht eindimensional böse erscheinen zu lassen, sondern auch den schrägen Humor aus der Rolle herauszukitzeln.

Tenor Andrew Irwin schmachtete sich als umschwärmter Teeny-Star Link Larkin hingebungsvoll durch seine Songs und amüsierte mit überkandidelten Star-Attitüden, indem er z. Bsp. immer wieder seine Haartolle kokett zurück warf. Doch sobald die Scheinwerfer erloschen waren, kam der sympathische Junge von Nebenan zutage, der seine Zweifel und Ängste nicht verbergen konnte, und in den sich Tracy verständlicherweise verlieben musste.

Seit 1988 beschäftige ich mich sehr intensiv mit dem Genre Musical: Einige Werke haben für mich einen herausragenden Stellenwert und sich einen besonderen Platz in meinem Herzen erobert. Da verspüre ich immer, wenn ich ins Theater gehe, eine gewisse Unsicherheit aus Angst, die jeweilige Inszenierung würde diesem Werk nicht gerecht werden. Ähnlich geht es mir mit einigen Rollen, die oberflächlich das pure Entertainment versprechen, aber unter der glitzernden Oberfläche eine wichtige Botschaft transportieren. Eine dieser Rollen ist Zaza aus LA CAGE AUX FOLLES, die andere Rolle ist Edna aus HAIRSPRAY. Beiden Rollen ist gemein, dass ein Mann in Frauenkleider schlüpft: Es besteht durchaus die Versuchung, dem „Affen Zucker zu geben“ und dem Klamauk zu frönen. Oder die Rolle wird wertschätzend behandelt, ohne dass die unterhaltenen Aspekte vernachlässigt werden. Regie und Darstellung wandeln da auf einem schmalen Grat zwischen Trash und Ernsthaftigkeit. Die Fallhöhe kann dabei enorm sein.

Voller Erleichterung spürte ich schon bei ihrem ersten Erscheinen, dass Edna hier am Stadttheater Bremerhaven bei Regisseur und Darsteller in den allerbesten Händen ist. Ein respektvolles Raunen gepaart mit einem überraschten Auflachen waren im Publikum zu vernehmen, als Bass Ulrich Burdack (O-Ton: „ein 2 Meter großer 3 Zentner-Mann“) zum ersten Mal hinter dem Bügelbrett in Erscheinung trat. Burdack verzichtete wohltuend auf eine übertriebene Feminisierung in der Stimme: Er blieb seiner Stimmlage Bass treu, was in manchen Dialogen zur Erheiterung des Publikums führte. Seine Edna ist eine Matriarchin, die pragmatisch die Geschicke der Familie lenkt. Von ihren eigenen Träumen hat sie sich verabschiedet. Dabei wirkt sie durchaus nicht verbittert: Das Leben hatte eben anderes mit ihr vor, und mit diesem Leben hat sie sich arrangiert. Und so bügelt und wäscht sie sich „eine Wölfin“ zum Wohle ihrer Lieben. Doch tief in ihrem Inneren versteckt sich sowohl die Revoluzzerin, die Ungerechtigkeiten vehement mit vollem Körpereinsatz bekämpft, als auch das junge Mädchen, das nach wie vor in ihren Wilbur verliebt ist. Schauspieler Kay Krause bildet zu Ulrich Burdacks Edna einen wunderbaren Gegenpart: Sein Wilbur ist ein ältlicher Harlekin, der sich seine kindliche Freude an den Kuriositäten in seinem Scherzartikelladen (und des Lebens) bewahrt hat, dem Schicksal vorbehaltlos gegenübertritt und seine Edna bedingungslos so liebt wie sie ist. Das gemeinsame Duett Du bist zeitlos für mich entpuppte sich als rührende Liebeserklärung, bei dem Burdack und Krause munter das Tanzbein schwangen, sich ihrer Liebe versicherten und voller Stolz auf ihre Tochter Tracy blickten.

Sopranistin Victoria Kunze begeisterte mich schon in so mancher Rolle des Opern-Repertoires und sang dort die Koloraturen ihrer Partien immer makellos. Als Tracy nahm sie ihre klassische Stimme bescheiden zurück, doch brillierte in den Songs auch in den höchsten Tönen. Zudem tanzte sie sich mit überschäumender Energie die Seele aus dem Leib und gestaltete ihre Rolle mit einer überzeugenden Natürlichkeit, gepaart mit einer immensen Freude am Spiel, die sich über den Orchestergraben hinweg auf das Publikum übertrug. Ihre Tracy Turnblad ist ein wahrer Sonnenschein mit dem Herz am rechten Fleck. Bravo!

„Bravo!“ möchte ich auch dem musikalischen Leiter Tonio Shiga zurufen, der das Philharmonische Orchester zur Höchstleitung anheizte und für einen süffigen Sound sorgte. Die mitreißende Musik mit ihrer Mischung aus R&B, Motown und Rock’n’Roll bahnte sich aus dem Orchestergraben heraus ihren Weg zuerst ins Ohr über das Herz direkt in die Füße, um dort für ein permanentes Wippen zu sorgen. Auf meinem Gesicht nistete sich ein seliges Dauergrinsen ein, und ich konnte mich beim fulminanten Schlussapplaus dem Ruf des Ensembles nur anschließen:

YOU CAN’T STOP THE BEAT!


Im Stadttheater Bremerhaven wird noch bis zum Ende der Saison reichlich HAIRSPRAY versprüht – und das alles mit viel Witz und Esprit!!!

[Musical] Benny Andersson & Björn Ulvaeus – CHESS / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Benny Andersson & Björn Ulvaeus / Liedtexte von Tim Rice / basierend auf einer Idee von Tim Rice / neue deutsche Textfassung von Kevin Schroeder

Premiere: 30. Oktober 2021 / besuchte Vorstellungen: 19.11.2021, 23.01. & 08.06.2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni (19.11. & 08.06.) / Tonio Shiga (23.01.)
Inszenierung: Andreas Gergen
Spielleitung & Choreografie: Till Nau
Bühne & Video: Momme Hinrichs (fettFilm)
Kostüme: Conny Lüders
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández

Es gibt sie eben diese musikalischen Werke, die beim Ansehen/Anhören die Emotionen zum Überlaufen bringen. Und jede*r von uns hat da eine ganz persönliche Hit-Liste. Ich liebe die eher klassischen bzw. symphonischen Musicals: Wenn am Ende der „West Side Story“ Tony gemeinsam mit Maria ein paar Noten von „Somewhere“ haucht, um dann in ihren Armen zu sterben, breche ich in Tränen aus. Bei „Les Miserablés“ beginne ich spätestens bei Eponines Tod hemmungslos zu schluchzen, kralle mich in die Hand meines Gatten und beruhige mich erst wieder auf dem Weg Richtung Heimat. Doch auch mein Mann hat seine Emotions-Musicals: So stellt sich jedes Mal eine Gänsehaut bei ihm ein, wenn Graf Krolock seine „Unstillbare Gier“ besingt. Doch feuchte Augen bekommt er nur bei einem einzigen Musical: CHESS. So war der November 2021 ein einziges Freudenfest für ihn. Als bekennender ABBA-Fan der ersten Stunde kam nicht nur ein neues Album nach 40 Jahren auf dem Markt – Nein! – auch „unser“ Stadttheater Bremerhaven hatte das erste Musical der beiden ABBA-Männer auf den Spielplan gesetzt. So saßen wir am 19. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit lieben Freunden im Zuschauersaal, und diesmal war es mein Mann, der während der Vorstellung seine Hand in meine krallte – mehrmals!!!

Bei der Schachweltmeisterschaft in Merano kämpft der amtierende Weltmeister der Amerikaner Frederick Trumper gegen den Russen Anatoly Sergievsky um die Schachkrone. Begleitet wird Trumper von seiner Managerin und Partnerin Florence Vassy, die im Budapester Aufstand von 1956 ihren Vater verloren und so ein ambivalentes Verhältnis zum russischen Regime hat. Trotzdem kommen sie und Sergievsky sich näher, als sie versucht – nachdem Trumper das Turnier wütend verlassen und somit einen Skandal ausgelöst hat – die Wogen zu glätten. Am nächsten Tag wird das Turnier unter dem strengen Blick des Schiedsrichters fortgesetzt, aus dem Anatoly Sergievsky als Sieger hervorgeht. Trotz strengster Überwachung durch Alexander Molokow, dem Chef der russischen Delegation, kann er die Gunst der Stunde nutzen und in den Westen überlaufen, um dort mit Vassy zu leben. Ein Jahr später muss Sergievsky sich in Bangkok einem neuen sowjetischen Herausforderer stellen. Dabei trifft er zwangsläufig auf bekannte Gesichter. Trumper arbeitet mittlerweile als TV-Kommentator, der ihn während eines Interviews mit provakanten Fragen aus der Reserve lockt. Auch Molokov ist vor Ort und scheut keine Mittel, um Anatoly Sergievsky zu einer Niederlage zu bewegen. Dabei manipuliert er hemmungslos die Mitmenschen, als würde er Schachfiguren über ein Spielfeld schieben. So lockt er Vassy mit dem Versprechen, ihren verschollenen Vater wiederzusehen, und lässt Sergievskys Ehefrau Svetlana nach Bangkok einfliegen, um sie und die gemeinsamen Kinder als Druckmittel einzusetzen. Anatoly Sergievsky trifft seine Entscheidungen: Er gewinnt abermals das Turnier, verlässt aber Vassy, um mit seiner Frau nach Russland zurückzukehren.

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Nobody’s Side, Pity The Child, Heaven Help My Heard, Anthem, Someone Else’s Story, I Know Hím So Well und natürlich das vielleicht bekannteste Stück One Night in Bangkok, dazu grandiose Chorpartien wie Merano und Hymn To Chess: An der exzellenten Musik lag es nie, warum dieses Musical eher selten gespielt wurde. Vielmehr lag das „Problem“ eher im etwas sperrigen Buch begründet, in dem manche Handlungsstränge unmotiviert und die Beweggründe der Personen wenig nachvollziehbar schienen. Doch Benny Andersson und Björn Ulvaeus waren sich nie zu schade, auf ihre Werke einen kritischen Blick zu werfen, um sie dann nochmals zu überarbeiten. So machte auch CHESS einige Veränderungen durch: Songs wurden umgestellt, flogen komplett aus der Show, oder wurden neu hinzugefügt. Die Handlung wurde gestrafft, und statt den Schwerpunkt auf die Politik-Parabel mit Ost-West-Konflikt zu belassen, lenkten sie den Fokus mehr auf die (zwischen)menschlichen Komponenten. Alle diese Maßnahmen haben dem Werk durchaus gutgetan, trotzdem bedarf es ein schlüssiges Regie-Konzept, um CHESS aus dem anfänglichen Korsett eines Konzept-Albums zu lösen.

Unter der neuen Intendanz von Lars Tietje gönnt sich das Stadttheater Bremerhaven genau diesen „Luxus“ und geht eine Kooperation mit dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin ein, wo diese Inszenierung in der letzten Spielzeit Premiere hatte und leider nach nur wenigen Vorstellungen dem Lockdown zum Opfer fiel. „Never change a winning team!“ wird sich Tietje vielleicht gedacht haben und lockte gemeinsam mit dem Produktions-Team auch zwei der Hauptdarsteller in die Seestadt an der Weser. Musical-Magier Andreas Gergen schafft mit seinem Team ein so stimmiges Konzept, bei dem die einzelnen Teile aus Regie, Choreografie, Bühne, Kostüme und Video-Projektionen zusammen mit den heimischen Kräften nahtlos ineinander übergehen und so ein perfektes Ganzes bilden. Dabei liefert Gergen dem Publikum durchaus die große Show, setzt aber ebenso wichtige Akzente im Schauspiel: Durch kleine Gesten oder nur einem Blick bis zum großen dramatischen Ausbruch wird so das Handeln der Protagonist*innen für die Zuschauer nachvollziehbar gemacht. Dies gelingt natürlich nur, da ihm talentierte Darsteller*innen zur Verfügung stehen.

Femke Soetenga (Florence Vassy) und Marc Clear (Anatoly Sergievsky) wiederholen ihre Parts aus Schwerin und sind ein eingespieltes Team ohne routiniert zu wirken. Soetenga gestaltet ihren Part zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzweifel sehr geschmackvoll. Glücklicherweise hat sie viel zu singen, so kamen wir oft in den Genuss, ihrer wunderschönen Stimme lauschen zu dürfen. Marc Clears Sergievsky ist alles andere als der unterkühlte Stratege. Vielmehr porträtiert er Sergievsky als mitfühlenden Charakter mit einer empfindsamen russischen Seele, was er auch gesanglich famos auszudrücken versteht. Tobias Bieri gibt den Frederick Trumper mit überheblicher Arroganz – ein Jungspund, der unter der scheinbar makellosen Oberfläche seine Narben verbirgt:  Bei Pity The Child sorgt er mit seiner fulminanten Pop-Stimme für Gänsehaut.

Sowohl optisch wie auch stimmlich scheint Ulrich Burdack der Vorzeige-Molokow zu sein. Er strahlt – trotz scheinbar äußerer Ruhe – eine enorme Gefährlichkeit aus. Zudem verfügt er über einen vollen, flexiblen Bass, den er mal voluminös, mal verführerisch-lockend zum Klingen bringt. Patrizia Häusermann (Svetlana) gelingt das Kunststück, eine Nebenrolle durch Spiel und Gesang aufzuwerten. Sie harmoniert ganz wunderbar mit Soetenga bei I Know Hím So Well. Bei Someone Else’s Story zeigt sie ihr Können als klassisch-geschulte Liedsängerin und kann mit ihrer sensiblen Interpretation berühren. Svetlana ist für mich in diesem Musical die einzig wahre tragische Figur, da ihr eine Wahlmöglichkeit verwehrt bleibt: Alle anderen Protagonist*innen können für sich selbst entscheiden. Sie ist – vom Ehemann im Stich gelassen – einem Regime ausgeliefert, das droht, ihr die Kinder zu nehmen. Häusermann lässt mit nuanciertem Spiel ihre Rolle mit Würde trauern, ohne eine innere Stärke vermissen zu lassen.

Da wir nun schon zum wiederholten Mal diesem musikalischen Schachturnier beiwohnten, hatten wir das Glück, zwei unterschiedliche Sänger in der Rolle des Schiedsrichters sehen zu dürfen. Während MacKenzie Gallinger (19.11. & 08.06.) eher der ruhende Pol im Spiel war, der beständig die Fäden in der Hand behielt, gestaltete Benjamin-Edouard Savoie (23.01.) den Part deutlich exaltierter und amüsierte mit beinah „monk“schen Allüren.

CHESS braucht einen voluminösen Chor! CHESS bekommt ihn: Unter der versierten Leitung von Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernandez bringen die Damen und Herren die Hymnen überwältigend zu Gehör und gefallen ebenso in mancher kleinen Nebenrolle. Unterstützung erhalten die Solisten zusätzlich durch ein variables Pop-Trio (bestehend aus Sydney Gabbard, Carmen Danen und Konstantin Busack), das sie in ihren Solis stimmstark begleitet und auch in div. Mini-Rollen überzeugen. Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Davide Perniceni bzw. Tonio Shiga musiziert absolut auf dem Punkt und meistert gekonnt den Spagat zwischen Pop, Rock und Symphonie. Apropos Spagat: Das ich ein Fan der Ballettcompagnie des Stadttheaters Bremerhavens bin, habe ich schon mehrfach betont, und auch in diesem Fall wurde ich nicht enttäuscht: Ob als kecke Trachtengruppe, als lebensgroße Schachfiguren oder als Bangkoks Liebesdiener*innen – die Tänzer*innen beherrschen ihre Kunst zwischen Sinnlichkeit, Ästhetik und Athletik perfekt.

Wer großartiges Musik-Theater abseits der großen Metropolen sehen möchte, der MUSS sich auf den Weg nach Bremerhaven machen!

Epilog: Seit einigen Tagen bekomme ich von meinem Gatten – völlig unvermittelt und ohne Zusammenhang zum vorangegangenen Gespräch – Bemerkungen wie „CHESS kann man (!) sich auch durchaus ein drittes Mal ansehen!“ zu hören. Ich schwanke noch mit mir, ob ich das Gehörte geflissentlich ignoriere oder mich an den PC setzte, um Eintrittskarten zu reservieren. Mal schauen…! 😉


So saßen wir am 19. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit zwei lieben Freunden im Zuschauersaal, wie wir es vor über 2 Jahren schon für Sunset Boulevard taten, und wo sich folgendes zugetragen hatte. Während sie durchaus schon das eine oder andere Musical gesehen hatte, war er diesbezüglich eher unbeleckt und schien somit beinah überwältigt vom Orchester, von den Sänger*innen und der Inszenierung. In der Pause fragte er mich nach meiner Meinung als „Musical-Kenner“, und ich bestätigte ihm seinen positiven Eindruck. Voller Enthusiasmus postete er diesen auf Instagram und bekam von einer „lieben“ Freundin prompt folgende Rückmeldung „Schön, dass es dir gefällt, aber es gibt bessere Inszenierungen.“ …und danach schwärmte sie von einer wahrhaft fulminanten „Sunset Boulevard“-Inszenierung, die sie vor einigen Jahren mit einer namhaften Musical-Diva in der Hauptrolle gesehen hatte. Ernüchtert zeigte mir mein Freund diese (wenig empathische) Nachricht, und ich bestätigte ihm „Ja, irgendwo auf der Welt gibt es bestimmt eine bessere Inszenierung.“ Aber: Alles sollte in einer realistischen Relation betrachtet und bewertet werden. Wir befinden uns weder am Broadway noch im West End oder in Hamburg, wo eine Eintrittskarte der besseren Kategorie mein Portemonnaie locker um 180,– bis 200,– Euro erleichtert. Im Stadttheater Bremerhaven sitze ich für ca. 1/5 dessen, was eine Eintrittskarte für ein sogenanntes großes Musicals kostet, auf den besten Plätzen. Und dieses Haus schafft es immer wieder auf’s Neue mit den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten eine sehens- und hörenswerte Inszenierung auf die Beine zu stellen.

Natürlich gefällt auch mir in „meinem“ Stadttheater nicht jede Inszenierung gleichermaßen gut. Natürlich könnte auch ich an Kleinigkeiten herumkriddeln. „Suchet, so werdet ihr finden!“ doch die Suche nach Negativem empfinde ich als extrem ermüdend. Auch ein ständiges miteinander Vergleichen würde mir die Freude am Augenblick, den Genuss des Moments verleiten. Darum lautet(e) mein Credo:

Schön locker bleiben und die kulturelle Vielfalt in meiner Region (wert)schätzen und genießen.


Das Erstlings-Musical CHESS der beiden ABBA-Männer steht bis zum Ende der Saison auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven. Hingehen, anschauen & genießen…!!!