Operette von Paul Abraham / Libretto von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda nach Imre Földes / Bühnenpraktische Rekonstruktion von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus
Wie lautete meine Einschätzung nach meinem Besuch der Operette Der Bettelstudent im Stadttheater Bremerhaven vor beinah genau zwei Jahren:
Entweder du nimmst als Regisseur*in die Handlung einer Operette ernst (wenn es das Sujet hergibt!) oder du machst – nachdem du einen Blick auf die oftmals hanebüchene Story geworfen hast – das genaue Gegenteil.
In diesem Fall nahm Regisseur Erik Petersen die Handlung und die dort agierenden Personen ernst, schenkte den Zuschauer*innen ein Übermaß an Gefühle mit einer gehörigen Portion Entertainment und überzeugt durch eine detailreiche, wohl durchdachte Personenführung, die auch den Opernchor nicht ausschließt…!
Stephan Koltay und sein Bursche Janczi sind in russischer Kriegsgefangenschaft. Ein Wächter verhilft ihnen zur Flucht nach Japan. Dort angekommen begegnet Koltay überraschend seiner großen Liebe Viktoria. Sie ist mittlerweile verheiratet. Im Glauben, dass Koltay gefallen sei, hatte sie sich dem amerikanischen Diplomaten John Cunlight versprochen und war ihm nach seiner Ernennung zum amerikanischen Botschafter in Japan nach Tokio gefolgt. Nun befindet sich das Botschafterehepaar erneut vor der Abreise. Für Viktoria ist der Schock groß, den totgeglaubten Koltay wieder zu sehen, der sich Cunlight unter dem Namen Czaky vorstellt. Cunlight weiß nichts von Viktorias Vorgeschichte. Er bietet Koltay und Janczi an, unter diplomatischem Schutz nach St. Petersburg zu reisen – gemeinsam mit ihm, Viktoria, deren Bruder Ferry samt frischgebackener Ehefrau O Lia San und Viktorias Zofe Riquette, auf die Janczy ein Auge geworfen hat. In Russland scheitern Koltays Versuche, Viktoria zurückzugewinnen. Überzeugt, dass Viktoria ihn nicht mehr liebt, liefert er sich dem russischen Geheimdienst aus. Abermals muss Viktoria glauben, ihre große Liebe für immer verloren zu haben. Einige Zeit später kehrt Viktoria, mittlerweile von Cunlight geschieden, in ihr ungarisches Heimatdorf Dorozsma zurück. Ferry ist glücklich mit O Lia San, und auch Janczi und Riquette leben zusammen. Der Brauch des Weinlesefestes sieht aber drei Hochzeitspaare vor. Da steht Koltay auf der Matte – durch Cunlights Hilfe…!
(Inhaltsangabe dem Programmheft zu dieser Produktion entnommen.)
Die Musik drückt das aus,
was nicht gesagt werden kann
und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Victor Hugo
Es wirkt beinah so, als hätte sich Paul Abraham beim Komponieren die Worte Hugos zu Herzen genommen. So schenkte er der Nachwelt eine abwechslungsreiche Partitur voller Melodienreichtum und einer Fülle an Evergreens. Es schmachten die Geigen, Puszta-Klänge wabern aus dem Orchestergraben und vereinen sich mit fetzigen Jazz-Rhythmen, um dann in einen zarten Walzer-Takt überzugehen…! Abraham galt zu seiner Zeit völlig zu Recht als neuer König der Operette, der es verstand die musikalische Tradition mit den Klängen der modernen Zeit zu verbinden – bis die Nazis an die Macht kamen, und er gezwungen war, als gebrochener Mann ins Exil zu flüchten. Tonio Shiga entlockt dem fabelhaft aufspielenden Philharmonischen Orchester Bremerhaven süffig-schmachtende Töne zur Untermalung der überschwänglichen Gefühle der Figuren, um gleich darauf im Offbeat dem Swing zu frönen, der über das Ohr direkt durch das Herz in die Füße des Zuhörenden rutscht.
Das Stadttheater Bremerhaven schafft bravourös die Mamutaufgabe, diese personenintensive Ausstattungs-Operette (mit nur einem Gast) aus dem hauseigenem Ensemble zu besetzten: Signe Heiberg entlockt ihrer Viktoria gesanglich ebenso zarte Kadenzen wie dramatische Ausbrüche und besticht in ihrer Darstellung durch ihre Emotionalität, die sie hinter vornehmer Zurückhaltung zu verstecken versucht. Marcin Hutek als Viktorias Gatte John Cunlight gelingt es famos, die Noblesse seines Baritons in sein Rollenporträt einfließen zu lassen. Alexander Geller gibt optisch einen attraktiven Stephan Koltay und lässt mit seinem dynamischen Tenor die innere Zerrissenheit seiner Figur erkennen.
Es ist immer wieder eine Freude, einem Bühnenpaar zuzuschauen, bei dem ihre Darsteller so vertraut miteinander scheinen, dass ihre Aktionen auf der Bühne wie selbstverständlich wirken: Victoria Kunze als O Lia San und Andrew Irwin als Graf Ferry Hegedüs harmonieren ausgesprochen gut miteinander und überzeugen in ihren Darbietungen sowohl durch schauspielerisches Talent und Komik als auch durch gesangliches Können. Gelegenheit zum Üben hatten sie reichlich: So stehen sie u.a. auch als Blonde und Pedrillo in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf eben dieser Bühne.
Jan-Philipp Rekeszus (als Gast) gefällt als quirliger Janczy mit rustikalem Charme. Als Mitglied des Opernchors kann Sydney Gabbard als Riquette ihre solistischen Qualitäten zeigen und nutzt diese Chance zur Freude des Publikums. Gleiches darf ich auch Katharina Diegritz, Brigitte Rickmann, Patrick Ruyters und Róbert Tóth attestieren, die in kleineren Rollen zu gefallen wissen. Und auch die restlichen Damen und Herren vom (mir hin und wieder gescholtenen) Opernchor entpuppen sich dank der versierten Führung des Regisseurs und unter der Leitung von Mario Orlando El Fakih Hernández zu einer spielfreudigen wie stimmstarken Einheit. Bei dieser Fülle an musikalischen Stilen konnte auch Sabine Arthold bei ihrer Choreografie aus den Vollen schöpfen und präsentiert mit dem vorzüglichen Ballett-Ensembles des Stadttheaters eine wunderbar abwechslungsreiche tänzerische Bandbreite.
Der international gefragte Bühnen- und Kostümbildner Lukas Pirmin Waßmann schenkt uns eine Ausstattung voller Eleganz und Flair. So geschmackvoll und bis ins kleinste Detail edel durfte ich bisher noch keine Operette erleben. Mit dieser Produktion muss sich das Stadttheater Bremerhaven wahrlich nicht hinter größeren Häusern verstecken. Bravo!
Seit letztem Sonntag summe und pfeife ich die Melodien aus dieser Operette bei jeder möglichen (aber leider auch unmöglichen) Gelegenheit und ernte dafür in der Öffentlichkeit verwunderte Blicke. Doch ich kann diesen Impuls einfach nicht unterdrücken: Ist es noch in einem vertretbaren Maße, oder muss ich mir schon Sorgen machen…? 😉
Bis zum Ende der Spielzeit bleibt VIKTORIA UND IHR HUSAR am Stadttheater Bremerhaven noch ein wenig Zeit, sich schmachtend in die Arme zu fallen.