[Oper] Carl Maria von Weber – DER FREISCHÜTZ / Stadttheater Bremerhaven

Romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber / Libretto von Johann Friedrich Kind / nach einer Novelle von Johann August Apel und Friedrich Laun

Premiere: 25. Dezember 2022 / besuchte Vorstellung: 5. Februar 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Inszenierung: Wolfgang Nägele
Bühne & Kostüme: Stefan Mayer
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Ich stand an der Theaterkasse des Stadttheaters Bremerhaven, um einige Dinge rund um Abo, Karten und Vorverkauf vis-à-vis zu klären und war mitten in den Verhandlungen, als plötzlich ein Gespräch an der Nebenkasse meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen und musste folgendem Dialog belauschen.

Eine ältere Dame echauffierte sich „Das Weihnachtsmärchen war schon nicht schön, und nun ist der Freischütz auch so furchtbar!“ „Schicken sie gerne eine Info mit ihren Eindrücken an die Intendanz.“ schlug ihr Gegenüber an der Kasse diplomatisch vor Hach, das bringt doch nichts. Ich habe es dem Herrn Tietje schon persönlich in der Pause gesagt, und wissen sie, was er gesagt hat? Nichts! Er hat nur die Augenbrauen hochgezogen!“ Und nach dieser Bemerkung musste ich meine Aufmerksamkeit leider wieder auf meine eigenen Angelegenheiten lenken.

Ich weiß natürlich nicht, was Herr Tietje mit seinen hochgezogenen Augenbrauen ausdrücken wollte. Nach dem Besuch besagter Inszenierung hätte ich eine vage Ahnung: Überraschung, Erstaunen, Unverständnis, vielleicht auch: Ärger über die mangelnde Wertschätzung. Zumindest würden meine Augenbrauen dies ausdrücken, und ich bewundere Herrn Tietjes noble Zurückhaltung: Ich hätte meine Klappe nicht halten können!

Der Jägerbursche Max liebt Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno und möchte sie gern heiraten. Bevor er Agathe zur Frau bekommt und die Nachfolge des Försters antreten kann, soll er mit einem Probeschuss seine Treffsicherheit beweisen. Kurz zuvor gibt es im Dorf ein Sternschießen. Max misslingt ein Schuss, und er wird von allen Dorfleuten verspottet und ausgelacht – insbesondere von Kilian, dem der Schuss gelingt. Kaspar, ein anderer Jägerbursche, der Max insgeheim hasst und beneidet, will sich an ihm rächen. Er verspricht Max, ihm eine Kugel verschaffen zu können, die mit Sicherheit ins Ziel trifft. Dazu soll Max um Mitternacht in die berüchtigte Wolfsschlucht kommen. Es geht die Sage, dass die in der Wolfsschlucht um Mitternacht gegossenen Kugeln verzaubert sind und sechs davon genau in das gewünschte Ziel treffen, die siebende aber vom Teufel gelenkt wird. Am Vorabend der Hochzeit wartet Agathe ängstlich auf Max. Sie hat böse Vorahnungen, lässt sich allerdings von ihrer Freundin Ännchen aufheitern. Max erscheint und berichtet, dass er nochmals zur Wolfsschlucht gehen wird. Agathe wie auch Ännchen sind entsetzt. In der Wolfsschlucht gießt Max mit Kaspar zusammen die sieben Kugeln. Kaspar ruft dazu Samiel, den schwarzen Jäger an, der eigentlich der Teufel ist, und verspricht ihm die Seele von Max. Dann bekommt Max vier Kugeln, drei behält Kaspar zurück. Am Morgen berichtet Agathe Ännchen von ihrem Traum: Sie träumte, sie wäre eine Taube, und Max würde auf sie schießen. Die eintreffenden Brautjungfern überreichen ihr versehentlich eine Totenkrone anstatt des Brautkranzes. Durch diese bösen Omen zutiefst erschreckt, besteht Agathes letzte Hoffnung, das bevorstehende Unglück noch abwenden zu können in einem Kranz aus den weißen Rosen, die ein frommer Eremit ihr geschenkt hat. Am Tag der Probeschuss-Zeremonie kommt der Landesfürst Ottokar zum Zuschauen und bestimmt als Ziel des Probeschusses ausgerechnet eine weiße Taube. Agathe, voller Entsetzen, läuft Max in die Schusslinie. Die Taube fliegt weg, Agathe stürzt zu Boden, und auch Kaspar fällt. Es stellt sich heraus, dass er von dem Schuss, vom Teufel gelenkt und vom heiligen Eremiten umgelenkt, getroffen wurde, und Agathe unverletzt geblieben ist. Sie sank nur vor Schreck zu Boden. Max gesteht, dass er mit Kaspar Freikugeln gegossen hat. Fürst Ottokar will ihn bestrafen und die Heirat mit Agathe verbieten, aber der Eremit und das ganze Volk setzen sich für die Liebenden ein. Das Urteil wird umgewandelt: Max muss ein Probejahr bestehen und darf, falls er sich bewährt, Agathe dann heiraten. Der Probeschuss wird für alle Zeit abgeschafft.


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Regisseur Wolfgang Nägele verweigert dem Publikum jegliche Jäger-Romantik: Statt leutseligem Heimatkitsch à la „Der Förster vom Silberwald“ präsentiert er tristen 70er Jahre-Muff. So zwingt er seine Figuren, sich von trivialen Äußerlichkeiten abzuwenden, stattdessen den Blick ins Innere zu richten und in die Tiefen ihrer Psyche einzutauchen.

Bühnenbild und Kostüme von Stefan Mayer unterstützen stringent das Konzept des Regisseurs: Der Vorhang öffnet sich, und auf der Drehbühne präsentiert sich ein verrotteter Trecker samt Anhänger incl. div. Schrotteile. Von der Decke schwebt ein Holzgestell, das wie der Rohbau eines Heuschobers wirkt. Dies alles spiegelt die Tristesse des Landlebens in den 70er Jahren wieder, wo die Dorfjugend sich regelmäßig beim besagten Heuschober oder im Häuschen der einzigen Bushaltestelle trifft, um heimlich eine Kippe zu rauchen oder rumzuknutschen, und wo das Schützenfest der kulturelle Höhepunkt des Jahres war. Auch die Kostüme verströmen in ihrer beige-braun-grünen Langeweile die damalige Spießigkeit. Einzig die Freundinnen Agathe und Ännchen setzten mit ihren Outfits farbige Akzente und symbolisieren, dass beide bereit sind, sich zu emanzipieren.

Doch was nützen die besten Ideen eines Regisseurs, was hilft es, Psychogramme der handelnden Personen zu erstellen, wenn die Besetzung nicht fähig ist, dies auf der Bühne umzusetzen. Das Publikum des Stadttheater Bremerhavens kann sich glücklich schätzen, dass dieses Haus über ein talentiertes Ensemble verfügt und sich nicht scheut, ebenso talentierte Gäste zu verpflichten.

Signe Heiberg (Agathe) singt ihre Partie fein nuanciert mit strahlendem Sopran, ist weniger die unbedarft Naive als vielmehr die melancholisch Hinterfragende. Ihren Sidekick gibt Victoria Kunze (Ännchen) mit lyrisch-perlender Stimme und ansteckendem Optimismus. Das Zusammenspiel der beiden Frauen gestaltet sich äußerst natürlich und zeigt die innige Vertrautheit dieser Figuren. Der Max von Konstantinos Klironomos ist ein Zweifelnder: Er zweifelt an seiner vorgegebenen Bestimmung aber auch an sich selbst. Die dunkle Seite in ihm versucht immer wieder, die Oberhand zu gewinnen. Klironomos bringt diese innere Zerrissenheit auch mit seinem brillanten Tenor zum Ausdruck. Apropos dunkle Seite: In dieser Inszenierung stellt Regisseur Wolfgang Nägele dem Max ein Double zur Seite, sozusagen sein böses Ich, das ihn immer wieder dazu animiert, Grenzen zu überschreiten und Konventionen zu brechen. Schauspieler Martin Maecker ist hierbei Verführer, Scharlatan und Gaukler in Personalunion. Zudem übernimmt er auch den Part des Samiels, wandert gekonnt zwischen den Rollen, bis diese sich immer mehr und mehr zu einer Person manifestieren. Gast Thomas Weinhappel überzeugt sowohl mit seinem markant-dramatischen Bariton als auch mit seinem intensiven Spiel. Sein Kasper ist eine verlorene Seele, der trotz aller Ambivalenz auch Mitleid erregt.

Bei diesem starken Quartett aus Agathe, Ännchen, Max und Kaspar (In dieser Inszenierung ist es mit Max Double/Samiel sogar ein Quintett.) bleiben alle anderen Rollen stückbedingt nichts anderes als bessere Stichwortgeber. Das Stadttheater Bremerhaven gönnte sich den Luxus, besetzte diese Rollen ebenfalls mit Solisten und schuf so eine Aufwertung der Partien. Der Kilian von Andrew Irwin ist ein aufbrausender Jungspund, der die Muskeln spielen lässt, um seinen Platz in der männlichen Hackordnung zu erkämpfen. Ulrich Burdack tänzelt als Eremit geschmeidig in seinen Leoparden-Puschen durch die Szenerie und schnuppert dabei verträumt an einem Strauß weißer Rosen, um diese dann spielerisch kreis- bzw. kranzförmig um Agathe zu drapieren. Marcin Hutek gibt einen unangenehm schmierigen Ottokar, der lüsternd nach Agathe schielt und so seine Machtposition hemmungslos ausnutzt. Bart Driessen gibt den Erbförster Kuno als obrigkeitstreuen Duckmäuser, dem seine Stellung wichtiger zu sein scheint, als das Glück seiner Tochter.

Nach MACBETH liefert Chorleiter Mario Orlando El Fakih Hernández mit seinen Sänger*innen ein weiteres Beispiel dafür, welche Qualität der Opernchor sich in der Zwischenzeit erarbeitet hat. Seien es die Herren beim bekannten Jägerchor oder die kessen Brautjungfern in Gestalt von Katharina Diegritz, Sydney Gabbard, Lilian Giovanini und Brigitte Rickmann bei Wir winden dir den Jungfernkranz – immer überzeugt der Chor stimmlich bestens disponiert und zeigt zugleich darstellerische Präsenz.

Davide Perniceni lässt mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven Webers Melodien im üppigen Glanz erklingen. Dabei wandelt er mit seinen Musiker*innen stets gekonnt zwischen den Extremen: von überschäumend-romantischen Klängen bis zu den dunklen, unheilvollen Tönen der Partitur.

Und so schenkt uns das Stadttheater Bremerhaven einen FREISCHÜTZ, der musikalisch und darstellerisch keine Wünsche offen lässt und uns mit seinem ungewöhnlichen Regiekonzept neue Perspektiven eröffnet,…

…natürlich vorausgesetzt, dass wir flexibel und mutig genug sind, die gewohnten Pfade zu verlassen. 😉


Es gibt leider nur noch wenige Möglichkeiten, um mit DER FREISCHÜTZ in den dunklen Wald abzutauchen.