[Krimi] Agatha Christie – MORD IM ORIENTEXPRESS / Stadttheater Bremerhaven

Kriminalstück von Agatha Christie / für die Bühne bearbeitet von Ken Ludwig / deutsch von Michael Raab

Premiere: 25. Februar 2023 / besuchte Vorstellungen: 19. März & 17. Mai 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Andreas Kloos
BÜHNE Sven Hansen
KOSTÜME Viola Schütze
MUSIKALISCHE LEITUNG Jan-Hendrik Ehlers
CHOREOGRAFIE Lidia Melnikova


Der Vorhang hebt sich ca. 80 cm über den Boden und gibt den Blick auf verschiedene Beinpaare frei. Wie Stimmen aus der Vergangenheit hören wir über den Lautsprecher, wie die kleine Daisy Armstrong ihren Eltern gute Nacht sagt, von ihrem Kindermädchen ins Bett gebracht wird, mitten in der Nacht erwacht, da ein Fremder vor ihrem Bett steht und sie entführt. Und mit dem letzten verzweifelten Schrei eines Kindes verstummen die Stimmen aus der Vergangenheit, der Vorhang öffnet sich zur Gänze und enthüllt die Gegenwart des Jahres 1934. Das Spiel um Mord, Rache und Selbstjustiz beginnt…!

„Wenn ich nachts allein im Dunkeln liege, frage ich mich wieder und wieder:
Habe ich richtig gehandelt? War das wirklich Gerechtigkeit?“
Hercule Poirot

Auf den Beginn der Vorstellung wartend, saß ich im Zuschauersaal und war sowohl äußerst gespannt als auch ein wenig ängstlich. Ich war gespannt auf diese Bühnen-Adaption des wohl bekanntesten Romans von Agatha Christie durch den amerikanischen Dramatiker Ken Ludwig, gespannt, wie „mein“ Stadttheater diese Adaption auf der Bühne umsetzten würde und ängstlich, ob ich mich mit der Interpretation der von mir so geliebten Figuren – allen voran Hercule Poirot – anfreunden könnte. Doch glücklicherweise überwog die Spannung vor meiner Ängstlichkeit!

Ken Ludwig hat die Anzahl der Charaktere des Romans geschickt für die Bühne auf 10 Personen reduziert und ihnen dabei teilweise neue Aufgaben zugewiesen, ohne die Grundgeschichte zu verfälschen. Auch bei den Dialogen orientierte er sich an dem literarischen Original und bereicherte sie durch launige Bonmots.


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Regisseur Andreas Kloos hätte aus diesem Stück eine wahre Klamauk-Klamotte zimmern können: Die Rollen bieten in ihrer Gestaltung durchaus das Potential dazu. Doch er verzichtet glücklicherweise auf dieses „Zuviel“ und überrascht mit witzigen Regie-Ideen. Gemeinsam mit dem Ensemble lotet er äußerst geschickt die Grenzen des Humors aus, ohne ins übertrieben Alberne abzudriften. Die Personen werden leicht „over-the-top“ als scheinbar unantastbare Upper-Class porträtiert. Doch als ihre fein konstruierte Fassade aus Lügen von Poirot eingerissen wird, stehen plötzlich verletzliche und verletzte Wesen auf der Bühne, die weit weniger unantastbar sind.

Schauspieler Frank Auerbach schlüpft in die Rolle des Meisterdetektivs und stellt sich somit der herausfordernden Aufgabe, den Erwartungen des Publikums an dieser Figur gerecht zu werden. Denn schließlich hatten schon einige renommierte Mimen (Finney, Ustinov, Suchet) diese Rolle in der Vergangenheit höchst überzeugend verkörpert und jeweils ihren ureigenen Stempel aufgedrückt. Doch auch Auerbach überzeugt mit seiner Darstellung auf ganzer Linie: Sein Poirot ist durchaus eine Spur rustikaler, wenn nicht sogar bodenständiger als in der Rollengestaltung seiner namhaften Vorgänger. Er bleibt im bekannten Rahmen der literarischen Vorgaben, zeigt Poirots Marotten aber sehr dezent, bemüht den Akzent nur wohldosiert und findet so zu einer eigenständigen und überzeugenden Interpretation.

Eingerahmt wird Auerbach durch seine talentierten Schauspiel-Kolleg*innen, die jede*r für sich in der jeweiligen Rolle eine fulminante Performance bieten. Kay Krause (Monsieur Bouc), Julia Lindhorst-Apfelthaler (Mary Debenham), Marc Vinzing (Hector MacQueen), Leon Häder (Michel), Isabel Zeumer (Prinzessin Dragomiroff), Nikola Frehsee (Greta Ohlson), Marsha Zimmermann (Gräfin Andrenyi), Sibylla Rasmussen (Helen Hubbard) und Richard Feist (Oberst Arbuthnot/ Samuel Ratchett) agieren gemeinsam auf Augenhöhe und liefern sich geschickt einen gekonnten Wechsel zwischen Slapstick und Dramatik.

Die Drei-Mann Band, bestehend aus Jan-Hendrik Ehlers, Marco Priedöhl und Olaf Satzer, sorgt für die passende musikalische Untermalung, unterstütz das Ensemble bei swingenden Show-Einlagen (Choreografie: Lidia Melnikova) und amüsiert auch solistisch u.a. am Akkordeon als verkapptes Funkgerät oder beim gefühlvollen Schlagen der Triangel.

Bühnenbildner Sven Hansen bemüht die Technik, ohne dass er diese in den Mittelpunkt stellt. Er zaubert sowohl die Außenansicht einen Wagon wie auch das Innenleben des Speisewagens auf die Bühne. Der Schlafwagen wird von ihm über zwei Ebene präsentiert, bei denen das Publikum gleichzeitig Einblicke erhält, was im Inneren der Kabinen sowie auf dem Gang davor passiert. Dabei wirkt die Ausstattung des titelgebenden Fortbewegungsmittels eher dezent. Es scheint, als sollte die Aufmerksamkeit des Publikums auf die handelnden Personen fokussiert und nicht von einem luxuriösen Ambiente des Orientexpress abgelenkt werden. Die Kostüme von Viola Schütze unterstreichen das „over-the-top“ der Personen und überzeugen durch Raffinesse und witzige Details.

Auf dem Heimweg machte ich mir so meine Gedanken. Es ist ganz und gar erstaunlich: Unabhängig davon, wie häufig ich diese Bühne besuche und egal, was ich mir dort anschaue, es gefällt mir. Das kann doch nicht sein? Selbst an der Bühnen-Adaption eines meiner Lieblingsromane von Agatha Christie mit dem von mir heißgeliebten und hochverehrten Hercule Poirot fand ich keinen Makel. Es muss doch irgendwann eine Inszenierung geben, die mir nicht oder zumindest weniger zusagt, oder?

Doch glücklicherweise neige ich nicht dazu, das vielbemühte Haar in der Suppe zu suchen. Vielmehr genieße ich mit wachen Sinnen und aus vollem Herzen, dass diese Bühne eben verdammt gutes Theater macht!


Alle, die beim MORD IM ORIENTEXPRESS miträtseln möchten, haben dazu noch bis Mitte Mai 2023 am Stadttheater Bremerhaven die Möglichkeit.

[Ballett] Alfonso Palencia – DORNRÖSCHEN (UA) / Stadttheater Bremerhaven

Märchenballett von Alfonso Palencia / nach dem Märchen von Charles Perrault / mit Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky / Uraufführung

Premiere: 22. Oktober 2022 / besuchte Vorstellung: 30. Oktober 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Choreografie & Inszenierung: Alfonso Palencia
Bühne & Kostüme: Dorin Gal
Video: Rasmus Freese


Wenn ein Ballettmeister seine bisherige Wirkungsstätte verlässt, um sich an einem anderen Ort neuen Herausforderungen zu stellen, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, dass ihm mehrere Tänzer*innen aus der Kompagnie folgen. Nicht so in Bremerhaven: Hier entschied sich die Kompagnie beinah vollzählig, der Seestadt an der Weser treu zu bleiben und sich in die fähigen Hände eines neuen Ballettdirektors zu begeben. So konnte Alfonso Palencia für seine Einstands-Produktion auf ein eingespieltes Ensembles zurückgreifen, das durch Akademist*innen (junge Tänzer*innen, die noch in der Ausbildung sind) ergänzt wurde.

Mit dem Märchenballett „Dornröschen“ zur bekannten Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky wählte er ein eher traditionelles Sujet, das einem kundigen Theaterpublikum in der einen oder anderen Form durchaus bekannt sein dürfte.

Zur Taufe von Prinzessin Aurora sind drei Feen eingeladen, die das Kind mit getanzten Segenswünschen ehren, darunter Schönheit, Klugheit, Anmut und Kraft. Die böse Fee Carabosse wurde versehentlich nicht eingeladen. Sie verflucht die Prinzessin und prophezeit den Tod an ihrem 16. Geburtstag. Die gute Fliederfee kann das Unheil gerade noch abwenden. Aurora fällt in einen hundertjährigen Schlaf, aus dem nur ein Prinz sie erlösen kann.

(Inhaltsangabe der Homepage des Stadttheaters Bremerhaven entnommen.)


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Zuschauer und Kritiker, die immer lautstark Reformen fordern, könnten diese Wahl durchaus als wenig innovativ bemäkeln. Aber hat ein Theater nicht auch die Verpflichtung – neben der Präsentation zeitgenössischer Werke – die klassischen Stücke zu pflegen und sie neu zu interpretieren, um so ein junges Publikum für das Theater zu begeistern? Alfonso Palencia gelingt dieser Spagat mit seiner Inszenierung zu „Dornröschen“ aufs Vortrefflichste. Seine Choreografie ist sinnlich und voller Grazie, dann wieder energetisch und dynamisch. Er zitiert den traditionellen Spitzentanz ebenso wie dem Modern Dance und findet doch eigenständige tänzerische Ausdrucksformen. Dabei bricht er durchaus auch mit den Erwartungen des Publikums: So lässt er sein Ensemble zum bekannten Walzer von Tschaikowsky eben nicht Walzer tanzen, sondern choreografiert einen Tanz, der wie eine zeitgemäße Variante des Hoftanzes anmutet.

Hatte ich bei seinem Vorgänger eher den Eindruck, dass dieser die Geschichte über den Tanz bzw. über die sich bewegenden Körper der Tanzenden erzählt, erlaubt Palencia seinen Tänzer*innen auch mit Gestik und Mimik, Emotionen zu zeigen, und schuf so eine individuelle Charakterisierung zur jeweiligen Rolle. Dabei blieb er wohltuend den bekannten Rollenprofilen innerhalb eines Märchens treu: So standen auf der Bühne natürlich u.a. eine böse Fee, ein unschuldiges Dornröschen und ein heldenhafter Prinz, und doch waren diese Rollen nicht plakativ in Schwarz oder Weiß unterteilt. Vielmehr erzeugte Palencia eine Spannung in seiner Rollengestaltung, indem er die Nuancen zwischen diesen Extremen fein herausarbeitete.

Ihm zur Seite stand ein talentiertes Tänzer-Ensembles, aus dem er die Rollen kongenial besetzten konnte. Ting-Yu Tsai war in der Titelpartie entzückend, naiv und kess zugleich. Ihr Zusammenspiel bzw. die gemeinsam getanzten Partien mit Stefano Neri, der den Prinz überzeugend verkörperte, waren sowohl anmutig wie auch kraftvoll. In den Rollen der drei guten Feen debütierten an diesem Haus die Elevinnen Yeojin Kim, Miso Yun und Mariagiovanna Bonavita und verzauberten mit ihrem wunderbaren Spitzentanz, wobei Yeojin Kim den Hauptpart als Fliederfee souverän meisterte.

Volodymyr Fomenko und Lidia Melnikova gefielen mir sehr als liebevolles Königspaar und wurden durch Ming-Hung Weng und Melissa Festa als Dienerpaar vortrefflich unterstützt. Renan Carvalho bot als böse Fee Carabosse bzw. der dunkle Prinz eine sensationelle Performance, nutze exzentrisch-diabolisch die Bühne als eine Art Catwalk und zog bei jedem seiner Auftritte die Blicke des Publikums auf sich.

Die farbenfrohen Kostüme von Dorin Gal unterstreichen die Individualität jeder Rolle. Sein Bühnenbild bietet – in Kombination mit den „lebendigen“ Videoprojektionen von Rasmus Freese – viel fürs Auge und ermöglicht schnelle Szenenwechsel ohne an Atmosphäre einzubüßen.

Davide Perniceni sorgte mit seinem straffen Dirigat dafür, dass das Philharmonische Orchester Bremerhaven die traumhafte Musik von Tschaikowsky sowohl lebendig als auch schwelgerisch zu Gehör brachte.

Ich saß staunend wie ein Kind und völlig verzaubert im Zuschauerraum und kann hier nur das wiederholen, was ich dem Schöpfer dieses Abends schon Gelegenheit hatte, in der Pause zu sagen: Es war wunder-wunderschön!

Lieber Alfonso Palencia, Ihr Einstand als Ballettdirektor am Stadttheater Bremerhaven ist Ihnen bestens gelungen!


Noch bis Anfang des nächsten Jahres gibt es mit DORNRÖSCHEN märchenhaftes am Stadttheater Bremerhaven zu bewundern. Unbedingt sehenswert…!

[Ballett] Sergei Vanaev – Feuerwerksmusik (UA) / Stadttheater Bremerhaven

Tanzabend von Sergei Vanaev mit Musik von Georg Friedrich Händel / Uraufführung

Premiere: 29. Februar 2020 / besuchte Vorstellung: 25. Juni 2021

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Choreographie & Bühne & Kostüme: Sergei Vanaev


„Gut Ding will Weile haben.“ oder auch „3x ist Bremer Recht.“

Seit Beginn der Pandemie stand dieser Tanzabend schon zwei Mal auf unserem Programm und fiel den div. Lockdowns und somit der Schließung der Theater zum Opfer. Nun konnten wir für die absolut letzte Vorstellung noch Karten ergattern und durften dank der niedrigen Inzidenz-Werte sogar während der Vorstellung auf den Mund-Nasen-Schutz verzichten. Wieder eine von den vielen kleinen Etappen auf den Weg zur Normalität…!

Bei diesem Tanzabend gab es keine zusammenhängende Handlung, vielmehr hat Chefchoreograph und Ballettmeister Sergei Vanaev der Musik von Georg Friedrich Händel (mit einem kleinen Abstecher zu Henry Purcell) sehr konzentriert gelauscht und dazu dynamische, sinnliche und durchaus auch überraschende Bewegungsabläufe für die Tänzer*innen erdacht.

Unter den Funken eines auf der Rückwand projizierten Feuerwerks stampfte das Ensemble – jede*r drollig wie Feuerwehrmann Sam gekleidet – über die Bühne und entrollte den großen Löschschlauch: Spätestens hier wurde deutlich, dass der Abend zwar „Feuerwerksmusik“ lautet, aber das Element Wasser die herausragende Rolle spielen wird. So kam von Händel auch deutlich mehr von seiner „Wassermusik“ zu Gehör. Das titelgebende Feuerwerk entfachten die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, indem sie sich und uns keinen Moment des Stilstands gönnten. Vielmehr gingen Solo-, Paar- und Gruppentanz harmonisch ineinander über und boten mit einer Mischung aus Akrobatik, Hipp Hopp, Modern Dance und (dem musikalischen Sujet angemessen) Barocktanz eine abwechslungsreiche Bandbreite.

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Und wieder war ich verzaubert von der Grazie, dem Ausdruck und der Dynamik des Tanzes und zollte der Leistung aller Ensemble-Mitglieder meinen uneingeschränkten Respekt. Ein Beispiel von vielen außergewöhnlichen Momenten an diesem Abend: Tänzerin Lidia Melnikova schien – mit Unterstützung ihrer vier männlichen Kollegen – alle Regeln der Schwerkraft aufzuheben und bot eine absolut atemberaubende Performance, indem sie scheinbar mühelos senkrecht die Wand hinauf… (Ja, wie soll ich es nur beschreiben?) …glitt?! …tanzte?! …schwebte?!

Zur zweiten Hälfte des Abends verwandelte sich die Bühne dank div. Eimer Wasser und einer Dauer-Dusche in ein Wasser-Bassin. Auf diesem Aquaplaning vollführten die Tänzer*innen erstaunliche Drehungen und Pirouetten und ließen das Wasser in Fontänen oder Strudeln über die Bühne ergießen. Dabei schossen die Künstler*innen mit einem Tempo über die Bühne, dass ich so manches Mal ganz angespannt auf meinem Platz saß, da ich damit rechnete, dass sie erst durch die Kulisse oder die erste Reihe im Zuschauerraum gebremst werden. Doch dank der immensen Körperbeherrschung der Tänzer*innen blieben zwar keine Augen trocken (😉) aber alle Beteiligten unverletzt.

Ich saß staunend im Publikum und war abermals begeistert, mit wie viel Leidenschaft hier in der so genannten Provinz hochrangiges Tanz-Theater gemacht wird (Hatte ich es schon erwähnt? Ich liebe die Provinz!).

So gibt es nicht viel mehr darüber zu sagen, außer: Es war unbeschreiblich schön!!!

…und: Auch dies war wieder Futter für Herz und Hirn, für Geist und Seele und für alles, was sonst noch so dazwischen liegt…! ❤


Die getanzte FEUERWERKSMUSIK wurde leider zum letzten Mal am Stadttheater Bremerhaven gezündet. Doch in der kommenden Spielzeit gibt es neue aufregende Choreografien zu entdecken…!

[Oper] Astor Piazzolla – MARÍA DE BUENOS ÄIRES / Stadttheater Bremerhaven

Tango-Operita von Astor Piazzolla / Text von Horacio Ferrer / in Originalsprache

Premiere: 27. April 2019 / besuchte Vorstellung: 10. Mai 2019

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Ektoras Tartanis
Inszenierung: Sergei Vanaev / Ulrich Mokrusch
Choreographie: Sergei Vanaev

Bühne & Kostüme: Darko Petrovic


Kurz vor Vorstellungsbeginn tritt Juliane Piontek, leitende Dramaturgin am Haus, vor den Vorhang: Nein! Sie kann uns beruhigen! Niemand ist erkrankt! Es ist ihr nur ein Bedürfnis bei diesem besonderen Stück einige Worte vorweg zu sagen. Diese Tango Operita wird in der Originalsprache vorgetragen. Nun ist der Text von Horacio Ferrer so blumig, facettenreich und voller Metaphern, dass eine Übersetzung schier unmöglich scheint. Darum hat das Stadttheater Bremerhaven sich entschlossen auf die üblichen Texteinblendungen zu verzichten, dafür vor jedem Bild dessen Inhalt knapp wiederzugeben,…

…und diese Entscheidung war goldrichtig: Statt – mit der potentiellen Gefahr einer Genickstarre – zwischen Bühnengeschehen und Texteinblendung hin und her zu zwitschen, konzentrierten wir uns ganz auf die Musik und den Tanz…!

Ein Bandoneon wimmert, und El Duende erscheint, um die Geschichte von María zu erzählen. Mit seiner Stimme beschwört er die Geister der Vergangenheit herauf. María tritt auf und berichtet von ihrem Leben, ihrem Leiden und dem Tod. Sie war Heilige und Hure in den Gassen von Buenos Aires, wurde begehrt und verurteilt und hat im Elend ihrer Heimatstadt vergeblich ihr Glück gesucht. Selbst im Tod findet sie keine Ruhe, lebt als Schatten weiter und wird immer wieder von einem Payador besungen – bis sie den Ruf El Duendes erhört: Sie ist zur Wiedergeburt bereit!

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Eine Oper im herkömmlichen Sinn ist dieses Werk nicht: Wer die großen Arien und einen bombastischen Chor erwartet, wird enttäuscht werden – vielmehr tritt der Gesang zugunsten der Musik und des Tanzes zurück.

Hier findet sich die große Anziehungskraft dieses Werkes: Die Musik von Astor Piazzolla ist melancholisch, sehnsuchtsvoll und voller Leidenschaft, schwebt sanft dahin, um im nächsten Moment mit bombastischer Kraft zuzuschlagen. Der Tango wird zelebriert, zitiert und auch karikiert.

Auch wenn Benno Ifland (El Duende) und Vikrant Subramanian (Payador) hervorragend agierten, und Patrizia Häusermann (María) mit Stimme, Präsenz und tänzerischem Können beeindruckte, so waren die wahren Stars des Abend das vorzügliche Tango-Orchester unter der Leitung von Ektoras Tartanis und das wunder-wunderbare Ballett-Ensemble. Die Tänzerinnen und Tänzer zauberten in der Choreographie von Sergei Vanaev Atmosphäre herbei, setzen ihre Bewegungen zwischen Dramatik und Erotik ein und haben es wahrlich verdient, hier einzeln erwähnt zu werden: Lidia Melnikova, Alícia Navas Otero, Rena Somehara, Larissa Tritten, Ting-Yu Tsai, Edward Hookham, Volodymyr Fomenko, Ilario Frigione, Stefano Neri und Oleksandr Shyryayev.

Astor Piazzollas einzige Oper ist eine große Liebeserklärung an seine Heimatstadt Buenos Aires und eine Verbeugung vor dem Tango – dem Tanz, der Zärtlichkeit und Aggressivität, Hingabe und Arroganz, Lust und Schmerz in sich vereint.

Dem „kleinen“ Stadttheater Bremerhaven verdanken wir wieder einen aufregenden und inspirierenden Theaterabend.


MARÍA DE BUENOS AIRES wird ihr Publikum am Stadttheater Bremerhaven noch bis zum Ende der Spielzeit 2018/19 begeistern!

[Musical] Andrew Lloyd Webber – SUNSET BOULEVARD / Stadttheater Bremerhaven

Musical von Andrew Lloyd Webber / Buch und Liedtexte von Don Black & Christopher Hampton / nach dem gleichnamigen Film von Billy Wilder / Deutsch von Michael Kunze

Premiere: 22. September 2018 / besuchte Vorstellung: 7. Oktober 2018 / Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus

Musikalische Leitung: Ektoras Tartanis
Inszenierung: Ansgar Weigner
Choreographie: Lidia Melnikova
Bühne & Kostüme: Barbara Bloch

Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


„Ich bin groß! Es sind die Filme, die klein geworden sind!“

Billy Wilders schonungslose Abrechnung mit der Glitzerwelt Hollywoods hat ihm nicht nur Freunde beschert. Ganz im Gegenteil: Nach der Premiere des Films im Jahre 1950 stürzte Louis B. Mayer auf ihn zu: „Sie Bastard, sie haben die Industrie, die sie gemacht und ernährt hat, in den Dreck gezogen. Man sollte sie teeren und federn und aus der Stadt jagen!“ Billy Wilders Antwort fiel sehr kurz aus: „Fuck you!“

Heute gilt der Film, laut dem American Film Institute, zu den zwölf besten amerikanischen Filmen aller Zeiten.

Bei der Umsetzung des Films zum Musical waren die Macher gezwungen, sich eng am Original zu halten. Dies ist im Musical deutlich zu spüren: Ganze Textpassagen wurden 1 zu 1 übernommen oder fanden in den Songtexten ihre Entsprechung. Das Buch ist atmosphärisch dicht und psychologisch klug durchdacht. Lloyd Webber schuf eine symphonische, sehr theatralische Musik mit großen dramatischen Arien, gefühlvollen Songs und lebhaften Chornummern.

Die musikalische Seite war bei dem 1. Kapellmeister und stellvertretende Generalmusikdirektor des Hauses Ektoras Tartanis in den allerbesten Händen. Mit straffen Dirigat führte er das Philharmonische Orchester Bremerhaven durch diese vielseitige Partitur und sorgte für einen äußerst würdigen musikalischen Rahmen dieses anspruchsvollen Musicals.

Ansgar Weigner konnte am Stadttheater auf ein talentiertes Haus-Ensemble zurückgreifen, schuf eine sehr stringente Inszenierung mit flüssigen – beinah filmischen – Übergängen, in der Raum für große Ensembleszenen war, aber auch die intimen Momente sehr detailliert erarbeitet wurden. Weigner hat es sogar geschafft, den von mir so häufig gescholtenen Opern-Chor zu einem homogenen Ensemble zu formen, der auch in solistischen Partien überzeugen konnte.

Die 4 Hauptakteure boten sehr gute bis grandiose Leistungen:

Patrizia Häusermann gelang es der eher blassen Rolle der Betty Schaefer ein deutliches Profil zu verleihen, indem sie sie als selbstbewusste, moderne Frau porträtierte, und überzeugte mit Spiel und Stimme. Bravo!

Vikrant Subramanian war als Joe Gillis eher der Sunny Boy als der Zyniker, sang hervorragend, hatte leider Probleme mit der Textverständlichkeit, konnte sich zum Schluss im Spiel aber deutlich steigern.

Andrea Matthias Pagani überzeugte als stets kontrollierter und rational handelnder Max von Mayerling, gleichzeitig ließ er durch diese Fassade den fürsorglichen Vertrauten von Norma durchschimmern und konnte mit seinem flexiblen Bariton beindrucken und begeistern.

Der Star des Abends war aber Sascha Maria Icks. Sie lebte die Norma Desmond zwischen Größenwahn und Naivität, zwischen Egoismus und Mitleid, zwischen schnoddriger Göre und glamouröser Diva. Jeder ihrer Auftritte war pure „Starquality“ mit großen Gesten „bigger than life“. Schon bei ihrem ersten Song „Nur ein Blick“ bekam ich Gänsehaut. Nach ihrer dramatischen Schluss-Szene, in der sie dem Wahnsinn verfallen die Treppe herunterschreitet und mit brüchiger Stimme nochmals „Nur ein Blick“ anstimmt, hielt es uns zum Schluss-Applaus nicht mehr auf unseren Sitzen.

Diese großartige Leistung für ein kleines Haus musste belohnt werden: Standing Ovation!

„…uns dankt die Welt Träume aus Licht!“


SUNSET BOULEVARD wird am Stadttheater Bremerhaven noch bis zum Ende der Spielzeit 2018/19 gezeigt. Es lohnt sich!