[Rezension] Michel Faber – HÖR ZU! Was Musik mit uns macht

Es ist weniger eines dieser vielen auf dem Markt erhältlichen Sachbücher, die von schlauen Leuten verfasst ebenso schlaue Einblicke in die kulturhistorische Entwicklung der Musik geben und mit einer Vehemenz Werke und Komponisten in den Mittelpunkt rücken, die ich unbedingt kennen, hören und gefälligst auch (Verdammt nochmal!) verehren sollte, da ich sonst ein Kulturbanause par excellence und musikalischer Kretin sei, der somit die Berechtigung verspielt hätte, auf diesen unseren schönen Planeten zu leben. Nö! So ein Sachbuch ist dies nicht!

Ich möchte mich in aller Form für den obigen Schachtelsatz entschuldigen! 🙂

Vielleicht war es von Vorteil, dass Autor Michel Fabers seine Meriten bisher durch Romane und Novellen erworben hat, und er sich so unbefangener an das Thema herantasten konnte. Denn Faber geht es hier nicht um irgendwelche Top 10-Listen mit „Must-Hear“ und gibt somit auch keine Hör-Tipps. Vielmehr pustet er mit diesem Buch den Staub von der Erinnerungs-Kommode seiner Leserschaft. Auch bei mir stößt er dabei die eine oder andere Schublade auf, in die ich seit Jahren nicht mehr hineingeschaut habe.

Er stellt sich und uns die Frage, wie der individuelle Musikgeschmack entsteht. Ja, er wagt sogar die Aussage, dass unser Musikgeschmack gar nicht so individuell ist, wie wir vielleicht bisher vermutet haben. Schließlich diente Musik auch immer dazu, sich einer Gruppe von Menschen, der so genannten Peergroup, zugehörig zu fühlen. Jede*r von uns hatte doch mit Sicherheit die eine oder andere CD im Regal stehen, die wir uns in jungen Jahren gekauft haben, weil die Gruppe oder die/der Interpret*in damals so mega-mäßig angesagt war und von allen hippen Leuten gehört wurde. Früher oder später landeten dann genau diese CDs auf dem Flohmarkt. Zumindest bei mir landeten sie auf dem Flohmarkt, da sich mein Musikgeschmack im Laufe der Jahr(zehnt)e glücklicherweise weiterentwickelt hat. Dabei wagt der Autor die Theorie, dass wir alle auch vom Musikgeschmack unserer Eltern geprägt werden, indem wir diesen entweder übernehmen oder uns bewusst davon abgrenzen. Zudem spielen viele weitere Faktoren, wie die soziale Herkunft und das Bildungsniveau, eine nicht unerhebliche Rolle welcher Musikrichtung wir uns zuwenden.

Auch blickt Faber auf das Phänomen, dass Musik uns emotional deutlich tiefer berührt als das gesprochene oder geschriebene Wort. Da lösen nur wenige Takte einer Melodie, vielleicht in Kombination mit einer ganz besonderen Stimme, eine Flut an Empfindungen bei mir aus. Genau dies machen sich findige Strateg*innen zu Nutze, um uns mit Musik zu manipulieren, wie sie z.Bsp. in der Werbung oder im Film zum Einsatz kommt.

Interessant ist es auch zu erfahren, wie sich das Hören von Musik im Laufe der Jahre verändert hat. Früher legte die Hörerschaft viel Wert auf „echten“ Gesang, der wahr und wahrhaftig vorgetragen wurde. Da konnte die Erkenntnis, dass die Jungs von Milli Vanilli nie selbst gesungen haben und somit eine Mogelpackung waren, durchaus schwerwiegende Traumata bei den Fans auslösen. Heutzutage erwartet man von den Superstars die große, schweißtreibende Show voller athletischer Einlagen: Da will niemand die keuchend-atemlose Original-Stimme der Stars hören und nimmt gerne das gut produzierte Playback in Kauf, um sich der Illusion einer perfekten Show hinzugeben.

Auch hat das Image einer Künstlerin/ eines Künstlers heutzutage einen bedeutend höheren Marktwert als der Gesang, und selbstverständlich darf dabei der passende Style nicht fehlen. Dieses Gesamtpaket dient als Identifikationsgrundlage für die Fans (oder sollte ich lieber „Verbraucher“ sagen?).

Ja, die Musik ist auch ein Produkt, das auf dem Basar meistbietend verschachert wird. Die Protagonist*innen tauchen so manches Mal (scheinbar) aus dem Nichts auf, setzen zu Höhenflüge an, krachen spektakulär zu Boden, bleiben zerstört liegen oder rappeln sich wieder auf, um nochmals unter veränderten Bedingungen ein Comeback zu wagen. Der Körper und somit auch die Stimme verändern sich mit dem Alter: Manche Sänger*innen nutzen diesen Wandel für ihre Kunst. Sie treffen zwar nicht mehr die hohen oder lauten Töne der Jugend, dafür zeugt die Brüchigkeit in ihren Stimmen von einem echten gelebten Leben und berührt ihre Hörer*innen auf einer ganz anderen emotionalen Ebene.

Oft wirkte es auf mich, als würde Michel Faber sich in seiner Plauderei verlieren. Scheinbar maßlos schüttete er seine Gedanken über mich als Leser aus. Doch gerade diese Fülle an Denkanstöße motivierte mich, dass ich selbst einen Blick auf meine Geschichte, meine Entwicklung, mein Werden warf und mir eine Vielzahl an Fragen stellte. Woher komme ich? Welcher Musik war ich durch meiner frühen Umwelt ausgesetzt? Bei welcher Musik war ich „Mitläufer“, wo war ich „Anführer“? Welche Brüche gab es in meiner Biografie, die mich zu einer anderen Art von Musik hintreiben ließ? Diese und noch viele weitere Fragen stellte ich mir während und nach der Lektüre dieses Buches. Antworten fand ich selbstverständlich nicht in ihm, dafür eine Fülle an Impulse, die mir halfen, dass ich mir die Fragen selbst beantworten konnte.

Doch Michel Faber stellte auch sich selbst diese Fragen und ging somit auf Spurensuche in seiner eigenen bewegten Vergangenheit. Er kam zu der Erkenntnis, dass die einzigartige Biografie eines Menschen den Musikgeschmack formt, der dann eben doch sehr individuell ist.

Ich persönlich liebe Musical, Oper und Operette, habe durchaus meine Favoriten bei der Klassik, lausche gerne Swing und Jazz, begeistere mich für den deutschen Schlager der 60er bis 80er Jahre und singe laut und hemmungslos zu Disney-Songs. Habe ich nun einen guten oder eher einen schlechten Musikgeschmack? Nein, bitte nicht antworten! Es ist nicht so, dass ich eine negative Antwort nicht verkraften könnte. Vielmehr ist es mir völlig egal, was andere von meinem Musikgeschmack halten.

Diese Musik gehört zu mir, und sie zu hören, macht mich glücklich. Das ist für mich die Hauptsache!


erschienen bei btb / ISBN: 978-3442762927 / in der Übersetzung von Bernd Gockel
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!