FEHLBESETZT: …zur falschen Zeit am falschen Ort?!

Ich glaube, jeder literaturbegeisterte Mensch kennt folgende Situation: Der Lieblingsroman wurde verfilmt. Gespannt und voller Vorfreude eilt man ins Kino und hofft auf eine wundervolle Literaturverfilmung. Doch je länger der Film andauert, umso mehr stellt sich Unmut ein. Da wurde die Rolle der so innig geliebten Heroin mit einer farblosen Schauspielerin besetzt, und auch der über alles verehrte Romanheld wird von irgendeinem talentfreien Schönling gemimt. Voller Wut stürmt man aus dem Kino, und auf dem Weg zum Auto heult man verzweifelt zum Mond hinauf:

„Welcher dilettantische Vollidiot war nur
für diese eklatante Fehlbesetzung verantwortlich?“

Na? Findet sich die eine oder der andere von euch in meinen Worten wieder? Also, mir ist dies durchaus schon widerfahren, dass die Verfilmung eines Romans (oder zumindest einige Komponenten davon) so absolut nicht mit dem übereinstimmte, wie ich es mir beim Lesen so schön in meiner Phantasie erdacht hatte. Zugegeben: Es kam bisher selten vor, da ich glücklicherweise einen Film als eigenständiges Medium/Kunstwerk ansehe und selten mit der Romanvorlage vergleiche. Doch es kam vor…!


Manchmal ergeht es mir ähnlich, wenn ich mir Einspielungen von musikalischen Bühnenwerken anhöre. Natürlich spielt hier immer auch der persönliche Geschmack eine entscheidende Rolle: Es gibt eben Singstimmen, die mich mehr ansprechen als andere. Dabei kommt es mir nicht unbedingt auf den reinen Schöngesang an. Oftmals sind es die kleinen Brüche in der Stimme, die Emotionalität beim Vortrag oder die Schlichtheit im Ausdruck, die mich ganz besonders berühren. Und trotzdem ich mich immer um Objektivität und Fairness bemühe, sitze ich manchmal vor meinem CD-Player, schüttle ratlos den Kopf und stelle mir (in abgemilderter Form) die obige Frage.

Hier einige Beispiele:

MY FAIR LADY – Teil 1

Am 25. Oktober 1961 hob sich im Berliner Theater des Westens der Vorhang für die deutschsprachige Erstaufführung des Erfolgsmusicals MY FAIR LADY, das einen wahren Siegeszug durch die Republik machen und so den Weg für kommende Musical-Produktionen ebnen sollte. Die Musicalausbildung steckte damals noch nicht einmal in den Kinderschuhen, im Gegenteil: sie hatte selbst das Embryonalstadium noch nicht erreicht. Darum kann man es nicht zu hoch bewerten, dass es dem damaligen Produktions-Team gelungen war, eine Besetzung zusammenstellte, die die Partien kongenial ausfüllte. Mit einer Ausnahme…! Über die Gründe, warum Rex Gildo für die Rolle des Freddy Eynsford-Hill verpflichtet wurde, kann ich nur spekulieren. Ich tippe auf Gründe zum Zwecke der Werbung: Vielleicht wurde gehofft, dass mit ihm, einem damals sehr populären Schlager-Star, auch ein jüngeres Publikum ins Theater gelockt wird. Neben den gelungenen Interpretationen von Karin Hübner (Eliza Doolittle), Paul Hubschmid (Henry Higgins), Friedrich Schönfelder (Oberst Pickering) und Alfred Schieske (Alfred P. Doolittle) wirkt seine Darbietung – zumindest auf der deutschen Originalaufnahme – sehr unpersönlich, steif, farblos, – Ja! – beinah steril. Es scheint mir so, als wäre er mit der Aufgabe, einen glaubwürdigen Bühnencharakter auf die Bretter zu stellen, überfordert gewesen. Ein vorliegendes Programmheft aus der Premieren-Saison 1961/1962 offenbarte mir, dass Rex Gildo nicht sehr lange an der Produktion beteiligt war und recht schnell durch den jungen Sänger Arne Lindner ersetzt wurde, der diese Rolle über einige Jahre spielen sollte.

MY FAIR LADY – Teil 2

In den 60er und 70er Jahren waren große musikalische Querschnitte von Opern, Operetten und Musicals auf Schallplatte äußerst populär und boten den Plattenfirmen die Möglichkeit, ihre Publikumslieblinge vielseitig zu besetzten. Da gibt es durchaus einige Schmankerl zu entdecken aber ebenso viele Kuriositäten zu bestaunen. Die Berliner Original-Aufnahme von MY FAIR LADY verkaufte sich „wie warme Schrippen“ und bescherte der Produktionsfirma Philips üppige Umsätze. So ließ es sich auch Polydor nicht nehmen, schon kurz nach der deutschsprachigen Erstaufführung einen „großen Musical-Querschnitt“ zu veröffentlichen und diesen auf dem Cover vollmundig mit „Die deutsche Idealbesetzung“ zu bewerben. Idealbesetzung??? Diese Einspielung kann – trotz bekannter Namen – nicht annähernd der deutschen Originalaufnahme das Wasser reichen. Entertainer Peter Alexander übernahm den Part von Henry Higgins und bleibt doch stets Peter Alexander: Bei „Kann denn die Kinder keiner lehren, wie man spricht“ wurde der Text entsprechend angepasst, damit Alexander sich durch die div. Dialekte parodieren konnte, und auch bei den anderen Songs driftet er immer wieder in Richtung Klamauk ab. Die Rolle der Eliza teilen sich hier gleich zwei Künstlerinnen: Während Kabarettistin Cissy Kraner sich als „Blumenmädchen“ unangenehm durch die Noten keift, wirkt die Interpretation von Sopranistin Herta Talmar als „Lady“ recht geziert. Zudem frönt sie bei einigen Songs dem Sprechgesang mit einer gewöhnungsbedürftigen Betonung. Sándor Kónya als Freddy Eynsford-Hill ist mit seinem schönen, kraftvollen Tenor deutlich näher dem grünen Hügel als der Wimpole Street. Einzig Willy Millowitsch kommt mit seiner Interpretation von „Bringt mich pünktlich zum Altar“ der Rollenvorgabe des Alfred P. Doolittle am Nächsten. Allerdings durfte er leider nur diesen einen Song singen: „Mit ’nem kleenen Stück vom Glück“ wurde bedauerlicherweise dem Star der Aufnahme Peter Alexander zugeschustert.

DIE FLEDERMAUS

Apropos „zum Zwecke der Werbung“: Anders kann ich mir das Mitwirken von Iwan Rebroff bei einer Einspielung der beliebten Operette DIE FLEDERMAUS aus dem Jahre 1976 nicht erklären. Alle anderen Partien wurden mit wahren Könner*innen ihres Fachs (Julia Varady, Lucia Popp, Hermann Prey, René Kollo und Bernd Weikl) besetzt, die sowohl gesanglich Erlesenes bieten als auch in den Dialogen durch Spielfreude überzeugen. Iwan Rebroff hingegen singt und spricht in der Rolle des Prinzen Orlofsky (im Original eine Hosenrolle für eine Mezzosopranistin/ in jüngerer Zeit auch gerne mit einem Countertenor besetzt) in einem für mich nur schwer zu ertragenen Falsett, dem es leider an Volumen mangelt. Zudem wirkt seine Interpretation mit den vielen Schlenkern und Kieksern unangenehm affektiert, tuntig und somit wenig überzeugend. Leider kann man Herrn Rebroff und seiner Stimme – insbesondere ab dem 2. Akt – nicht entkommen, da bei dieser Aufnahme auch an den Dialogen nicht gespart wurde. Doch selbst der versierte Otto Schenk, der für die Dialog-Regie verantwortlich war, konnte in diesem Fall aus einem Klotz keinen Edelstein formen.

WEST SIDE STORY

Dass sich auch viele gute Einzelkomponenten nicht unbedingt zu einem zufriedenstellenden Gesamtergebnis vereinen, zeigt allzu deutlich die Studioaufnahme der WEST SIDE STORY aus dem Jahre 1985. Unter der musikalischen Leitung des Meisters Leonard Bernstein höchstpersönlich versammelte sich eine illustre Riege der damals hochkarätigsten Opernstars. Jeder Opernfreund, der vielleicht mit dem Genre Musical eher fremdelt, wird Jubelschreie der Verzückung ausgestoßen und sich gefreut haben, dass die weltbekannten Songs eines weltbekannten Musicals endlich durch den wunderschönen klassischen Gesang weltbekannter Opernsänger geadelt wurde (Als wenn dieses Werk es nötig gehabt hätte?!). Doch im Sinne der Werktreue besteht diese Aufnahme leider aus einer einzigen Ansammlung von Fehlbesetzungen: Weder Kiri Te Kanawa als Maria noch José Carreras als Tony konnten ihre jugendlichen Parts überzeugend verkörpern. Während Te Kanawa versucht mit einem übertrieben gerollten R ihrer Artikulation wenigstens einen hispanischen Touch zu geben, um so sich der Rollenvorgabe anzunähern, ist der spanische Akzent bei José Carreras stets so sehr im Vordergrund, dass niemand ihm auch nur annähernd den „all american boy“ abnehmen würde. Marilyn Horn verwandelt mit ihrem reifen Mezzo das zarte Lied „Somewhere“ zur satten Opernarie, und auch Tatiana Troyanos als Anita lässt jugendlichen Esprit vermissen. Zudem hatte irgendjemand (Ich fürchte, es war Papa Leonard Bernstein selbst.) die leidige Idee, die Zwischen-Dialoge von Nina und Alexander Bernstein einsprechen zu lassen. Es war absolut keine gute Idee: Selten habe ich Dialogen gelauscht, die so emotionsarm und bar jeglichen Charismas aufgesagt wurden.

MY FAIR LADY – Teil 3

Auf der Welle des Erfolges wurden mit Kiri Te Kanawa noch zwei weitere Musicals eingespielt, u.a. auch MY FAIR LADY. Leider wiederholte sich hier das, was ich schon bei der WEST SIDE STORY anmerkte. Kiri Te Kanawa singt zwar abermals wunderschön, doch aufgrund ihres reifen vollen Soprans nehme ich ihr das junge Mädchen, das eine Wandlung vom schlichten Blumenmädchen zur eleganten Lady durchlebt, nicht ab. Stichwort „durchleben“: Te Kanawas Interpretation klingt, als würde die große Diva nur so tun, als wäre sie ein einfaches Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen. Gelebte Emotionen sind für mich bedauerlicherweise nicht herauszuhören. Auch der amerikanische Tenor Jerry Hadley lässt in der Rolle des Freddy Eynsford-Hill den nötigen Elan vermissen und intoniert seinen Part in schönster Operetten-Manier. Die Lichtblicke bei dieser Einspielung sind der männlich-markante Henry Higgins von Mime Jeremy Irons und die drollig-kauzige Interpretation des Alfred P. Doolittle durch Warren Mitchell.


MY FAIR LADY – Teil 4

Aber auch auf der Bühne „live & in Farbe“ durfte ich eine mal mehr, mal weniger gravierende Fehlbesetzung erleben. Da ist mir eine „besondere“ MY FAIR LADY in allzu lebhafter Erinnerung geblieben: In der besagten Inszenierung stand ein Sänger als Freddy Eynsford-Hill auf der Bühne, den ich nur als hohle Nuss, als eine absolute Knallcharge betiteln konnte. Mit rollenden Augen, weit ausgebreiteten Armen und rotierenden Hüften säuselte er überkandidelt verliebt mimend „In der Straße, mein Schatz, wo du lebst“. In den gemeinsamen Szenen mit Eliza versuchte er penetrant ein Küsschen von ihr zu erhaschen, während seine bemitleidenswerte Partnerin verzweifelt bemüht war, sich ihm vom Hals zu halten. Da wurde das, was ich an Fremdscham meinte bisher erdulden zu können, in eine neue Dimension katapultiert. Ich saß leidend im Zuschauersaal und schickte voller Verzweiflung eine Myriade an Stoßgebete an alle Musen der darstellenden Künste:

„Wo bleibt er, der Theaterunfall,
wenn man ihn mal braucht?“

Bei der aktuellen Produktion von MY FAIR LADY am Stadttheater Bremerhaven braucht allerdings niemand solche oder ähnliche Peinlichkeiten zu befürchten. Hier erwartet das Publikum die pure Freude…!!! ❤️


Vernehme ich da etwa die Bitte, eine Referenz-Aufnahme zu benennen? Dieser Bitte nachzukommen, könnte sich für mich durchaus schwierig gestalten. Als Liebhaber des Musiktheaters im Besonderen und als Musical-Fan im Speziellen besitze ich von musikalischen Werken natürlich nicht nur eine einzige CD-Einspielung. Vielmehr bin ich da ein unheilbarer Wiederholungs-Täter mit einem massiven Rückfall-Potenzial.

So nenne ich verschiedene Einspielungen bzw. Cast-Recordings mein Eigen: 15x MY FAIR LADY, 13x WEST SIDE STORY und „nur“ 5x DIE FLEDERMAUS. Jede von ihnen hat ihre Vorzüge, und so fällt es mir durchaus schwer, mich hier jeweils auf eine einzige Cast-Aufnahme zu beschränken. 

Aber wenn’s denn partout nicht zu umgehen ist… 😉

  • MY FAIR LADY / Original Broadway Cast 2018 / Musikalische Leitung: Ted Sperling / mit Lauren Ambrose (Eliza), Harry Hadden-Paton (Higgins), Norbert Leo Butz (Doolittle), Diana Rigg (Mrs. Higgins), Allan Corduner (Pickering) und Jordan Donica (Freddy) / erschienen bei Broadway Records / EAN: 888295764834

  • WEST SIDE STORY / Nashville Symphony Orchestra / Musikalische Leitung: Kenneth Schermerhorn / mit Betsi Morrison (Maria), Mike Eldred (Tony), Marianne Cooke (Anita), Robert Dean (Riff) und Michael San Giovanni (Bernardo) / erschienen bei NAXOS /EAN: 636943912621

  • DIE FLEDERMAUS / Royal Concertgebouw Orchestra / Musikalische Leitung: Nikolaus Harnoncourt / mit Werner Hollweg (Einstein), Edita Gruberova (Rosalinde), Christian Boesch (Frank), Marjana Lipovšek (Orlofsky), Josef Protschka (Alfred) und Barbara Bonney (Adele) / erschienen bei TELDEC / EAN: 022924242724

Referenzaufnahmen zu FEHLBESETZT

Hier ein kleiner musikalischer Appetizer: