[Rezension] Ute Woltron – HEUTE NICHT, ICH HAB MIGRÄNE

„Heute nicht, Schatz, ich habe Migräne!“ Wer kennt ihn nicht, diesen Altherrenwitz aus der Mottenkiste des schlechten Humors. Es ist erschreckend, dass sich solche Bilder nach wie vor fest in den Köpfen Nichtbetroffener festgesetzt haben. Doch welche Botschaft versteckt sich hinter einem solchen „Witz“? Bedeutung: Migräne ist ein Leiden, von dem vornehmlich sexuell unbefriedigte wenn nicht sogar frigide Frauen betroffen sind. „Solche Weiber müssten mal so richtig…!“ sind sich die Herr(lichkeit)en mancher Stammtischrunden einig. Im Umkehrschluss stelle ich mir als Mann, der unter Migräne leidet, natürlich folgende Frage „Was müsste ich mal so richtig…, damit die Migräne wie durch Zauberhand von mir abfällt?“

Autorin Ute Woltron weiß, wovon sie schreibt. Hat sie doch, wie viele von uns, die betroffen sind, alle dummen Witze, ungewollten Ratschläge und jegliche Reaktionen von Unverständnis im Laufe ihrer „Migräne-Karriere“ selbst erleben oder vielmehr erdulden müssen. Was musste ich mir im Laufe der 25 Jahre, in denen dieser Untermieter, den ich nie haben wollte, bei mir eingezogen ist, schon alles anhören. Jedes mögliche (und auch unmögliche) Thema fand Erwähnung und war Ursache und Lösung zugleich: Ernährung, Schlaf, Sex, Stress, Sport und Bewegung, Chakren, Körpersäfte undnochvielesmehr – entweder hatte/machte ich zuviel oder zuwenig, und prinzipiell war irgendetwas davon nicht in der Balance. Besonders liebe ich die Aussagen ohne jeglichen Nährwert: „Du machst dir einfach zu viele Gedanken!“ Danke, sechs, setzen! Wenn es wirklich einfach wäre, dann hätte ich es längst geändert.

Ausgenommen davon sind die Tipps und Hinweise, die ich von anderen Betroffenen erhalten habe: Hier sprachen wir auf Augenhöhe miteinander. Und so manches Mal half ein verständnisvoller Blick und ein wissendes Nicken so viel mehr und schenkte mir Trost.

Die Autorin schafft es wunderbar, eigenes Erleben mit wissenschaftlichen Fakten und Zahlen zu vermischen. Sie vergisst dabei auch nicht, eine Prise Humor einzustreuen – manchmal ist es auch Ironie, und hin und wieder meinte ich wahrzunehmen, dass in ihren Worten auch ein sarkastischer Unterton mitschwang. Bei dem, was sie durchleben und erleiden musste, ist dies absolut nachvollziehbar und verständlich.

Jede Migräne ist ebenso einzigartig, wie der Mensch, der von ihr betroffen ist. Doch es gibt viele Parallelen, und ich konnte mich oft in den Worten der Autorin wiederfinden. Auch die Zahlen, wie viele betroffene Menschen es weltweit gibt, haben mich sehr erstaunt. Diese Dimension nimmt durchaus Einfluss auf die Produktivität einer Bevölkerung. Umso verwunderlicher, dass dieser Umstand weiterhin noch viel zu wenig Beachtung erfährt.

Dass Frauen und Männer verschieden ticken und ihre Körper unterschiedlich „funktionieren“, sollte hinlänglich bekannt sein. Entsprechend variiert auch die Ausprägung der Migräne bei den Geschlechtern. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer, weshalb Migräne oftmals als reines Frauenleiden abgetan wird. So ganz von diesem gängigen Vorurteil konnte sich anscheinend auch der Verlag dieses Buches nicht freimachen: Wenn ich mir das Design und die Farbgebung des Umschlags anschaue, scheint hier eher eine weibliche Leserschaft angesprochen zu werden. Schade, da hätte ich mir ein wenig mehr Diversität in der Gestaltung gewünscht.

Doch ehrlich gesagt, achte ich bei einem Sachbuch viel mehr auf den Inhalt als auf die Verpackung. Hier liefert Ute Woltron in knappen, doch nie oberflächlichen Kapiteln eine Auswahl an vielfältigen Informationen, von denen sich jede*r wie an einem Buffet bedienen und so seinen persönlichen Teller an „Leckereien“ zusammenstellen kann. Da finden Trigger, die Auslöser einer Migräne, ebenso Erwähnung wie die Möglichkeiten der medikamentösen Therapie. Gerade hier hat sich in den vergangenen Jahres einiges getan, wie am geschichtlichen Exkurs verdeutlicht wird. Auch die Variationen in der Ausprägung der Migräne (mit Aura, ohne Aura etc.) werden verständlich geschildert. Als kulturell interessierter Mensch fesselte mich das Kapitel über Künstler, die angeblich unter Migräne litten, und wo vermutet wird, dass dieser Umstand Einfluss auf ihre Kunst nahm.

Doch besonders ihr Appell, die wenige Zeit (ohne Migräne) zu nutzen, traf bei mir auf offene Ohren. Ich empfinde die Tage unter Migräne immer, als würde mir wertvolle Lebenszeit gestohlen werden. Wie oft konnte ich inspirierende Theater- und Konzertabende nicht wahrnehmen? Wie oft musste ich gesellige Treffen mit lieben Menschen absagen? Wie oft…? Zu oft!

So nehme ich aus der Lektüre dieses Buches nicht nur eine Fülle an Informationen mit. Vielmehr fühle ich mich bestätigt und gesehen. Unter Migräne zu leiden, kann sehr einsam machen, da ist es schön zu wissen, dass ich nicht alleine bin.

NACHTRAG Auf der Homepage von Ute Woltron findet man – neben vielen wunderbaren Beiträgen – sogar eine MIGRÄNE-TRACKLIST mit Songs, die die Autorin durch die guten und die weniger guten Tage des Lebens begleitet haben. Dazu schreibt sie: „Die besten Tracklists sind die eigenen. Hauptsache, man hat eine.“

Habt ihr eine Tracklist? Ich habe eine – schon lange!


erschienen bei ecoWING (Benevento) / ISBN: 978-3711003713
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!