[Die Bücher meines Lebens] Walter Müller & Heinz Kampmeier – Unsere neue Fibel

– 1974 –


Sicherlich hatte ich vor meinem 5. Lebensjahr schon das eine oder andere Bilderbuch: Welche es waren? Ich weiß es nicht mehr. Anscheinend haben sie keinen bleibenden Eindruck in meiner kleinkindlichen Erinnerung hinterlassen. Oder vielmehr hat das nun vorgestellte Buch alle meine sonstigen Erinnerungen an vorherige Bücher überstrahlt…!

Seit meinem 5. Lebensjahr lese ich. Angefangen hat alles damit, dass ich es als kleiner Pöks wahnsinnig spannend fand, wenn mein 7 Jahre älterer Bruder morgens schon zur Schule durfte. Ich musste leider zuhause bleiben, dabei hätte es mich sehr interessiert, was mein Bruder in der Schule so alles erlebt (Mein Bruder ging nie gerne zur Schule und hätte mit Freude und äußerst bereitwillig mit mir getauscht!).

Das Wort „Schule“ war für mich verbunden mit „groß sein“, „selbständig sein“. Unbedingt wollte auch ich ein Schulkind sein. So nötigte ich unsere Mutter, mit mir „Schule“ zu spielen. Ich habe morgens und mittags, manchmal auch nachmittags meine kleine Tasche gepackt, mich von meiner Mutter verabschiedet, um mich dann über den weiten „Schulweg“ der Vordertreppe unseres Hauses zur „Schule“ im Erdgeschossflur zu begeben. Dort hielt ich mich aber gar nicht so lange auf: Vielmehr war es für mich viel interessanter, wieder von der „Schule“ zu meiner Mutter heimzukehren, um ihr unter Stöhnen und Seufzen (so wie ich es von meinem Bruder kannte) zu berichten, wie anstrengend die „Schule“ war, und wieviele „Hausaufgaben“ ich aufbekommen habe.

Bei dieser Gelegenheit kam die erste Schul-Fibel von meinem Bruder wieder zum Einsatz und zu neuen Ehren. Ich war fasziniert von den vielen bunten Bildern, wollte aber auch unbedingt die komischen Zeichen neben den Bildern verstehen. Unsere Mutter erklärte mir zwischen Staubsaugen, Mittag kochen und Abwasch (Bitte beachten: Wir befinden uns im Jahr 1974!) die einzelnen Buchstaben, und schon bald konnte ich aus den einzelnen Hieroglyphen erst ganze Worte und dann vollständige Sätze formen, um den Abenteuern von Peter, Ursula, Flocki, Muschi und Igel eigenständig zu folgen. Ich wurde nicht müde und mein Enthusiasmus schien unerschöpflich, meiner Mutter diese Geschichten immer und immer wieder vorzulesen.

Meine Tante erdreistete sich frecherweise, zu behaupten, ich könne gar nicht richtig lesen. Sie war der Meinung, ich hätte diese Geschichten einfach schon zu oft gehört und wüsste darum, wo welches Wort zu finden wäre. Um ihre These zu erhärten, schrieb sie einen Satz auf ein Stück Papier und zeigte ihn mir…!

…an den Satz kann ich mich nicht mehr erinnern, dafür aber an das glänzende 2,- D-Mark-Stück, dass ich von ihr erhalten habe. Meinen immensen Reichtum habe ich zum Konsum „um die Ecke“ getragen, wo mir eine Tüte mit losen Süßigkeiten befüllt wurde. Mit dem Gefühl, reich wie Krösus zu sein, saß ich auf den Eingangsstufen des Geschäfts und spürte eine leise Ahnung, was lesen (können) bewirken kann.


erschienen bei Ernst Klett/ ISBN: 978-3122321000


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