[Die Bücher meines Lebens] Margaret Mitchel – Vom Winde verweht

– 1986 –


Was liest ein schwuler Junge Mitte der 80er Jahre auf dem Höhepunkt der AIDS-Debatte? Richtig! …ein 916-Seiten starkes Epos über Bürgerkrieg, Sklaven und verzärtelten Ladies in Korsett und Krinoline!

Dabei interessierte mich weniger Scarlett O’Hara: In ihr konnte ich lesen wie in dem sprichwörtlich offenen Buch. So war sie in ihren egoistischen Beweggründen völlig durchschaubar, hatte in ihrer unverblümten Arroganz allerdings durchaus Unterhaltungswert. Vielmehr war Rhett Butler das Objekt meines Interesses und (im schicklichen Maße) meiner Begierde. Dieser hochgewachsene Mann in den besten Jahren und mit dem frechen Funkeln in den Augen war geradezu prädestiniert, als Projektionsfläche meiner erotischen Fantasien zu fungieren. Was blieb mir auch anderes übrig? Es waren die 80er Jahre, und die sogenannte Schwulen-Seuche AIDS wütete. „Schwul“ galt als gängiges Schimpfwort. Zuhause, in der Schule oder im Freundeskreis zuzugeben, selbst „ein warmer Bruder“ zu sein, wäre einem emotionalen Todesurteil gleichgekommen. Selbst noch 7 Jahre später endete mein erstes Outing gegenüber meinen Eltern in einem völligen Desaster, da hätte ich mich im Jahre 1986 nie getraut, irgendetwas in dieser Richtung anzudeuten. So blieb ich alleine mit meinen Gefühlen und Sehnsüchten…

…und flüchtete mich in die Welt meines Romanhelden. Männliche Vorbilder waren in meiner näheren Umgebung absolute Mangelware: Zu mindestens gab es keine, die ich mir gerne zum Vorbild genommen hätte (Schwule Vorbilder waren schier nicht existent.). „Vom Winde verweht“ bot all das, was das schwule Herz eines naiven, jungen Mannes begehrte: das große, seitenstarke Drama voller Emotionen, Irrungen und Wirrungen. Zwischen den Zeilen meinte ich, Parallelen zu meinem eigenen Leben, meinen eigenen Empfindungen zu entdecken: Was passiert mit Menschen, die aus ihrer Welt gerissen (verstoßen) werden? Sind sie ebenso in der Lage, in einem anderen Lebensmodel hinein zu wachsen und zu gedeihen? Besteht auch für diese Menschen die Möglichkeit, glücklich zu werden?

Ich war verunsichert, ängstlich und voller Zweifel…!

Rhett Buttler schien nie zu zweifeln: Inmitten des Chaos stand dieser attraktive Kerl mit dem dunklen Haar und den breiten Schultern wie ein Fels in der Brandung, handelte mit stoischer Ruhe und scheute sich nicht, unbequeme Entscheidungen zu treffen und ungewöhnliche Wege zu gehen. Konventionen interessierten ihn nicht. Seite für Seite, Kapitel für Kapitel schlich sich diese Romanfigur tiefer in mein Herz und prägte somit sowohl mein Männer-Bild als auch meinen Männer-Geschmack.

Um eventuellen Fragen vorzubeugen: Nein! Mein Angetrauter entspricht äußerlich so gar nicht diesem Männer-Bild. Die Wege der Liebe sind eben tückisch und voller Überraschungen…!

❤️


erschienen bei claassen/ ISBN: 978-3546467544

Im Januar 2020 erscheint die lang erwartete und längst überfällige Neu-Übersetzung im Verlag Antje Kunstmann/ ISBN: 978-3956143182.


11 Kommentare zu „[Die Bücher meines Lebens] Margaret Mitchel – Vom Winde verweht

    1. …aber jetzt nicht weinen: Am Ende gibt’s ein Happy End und alle reiten glücklich und zufrieden in den Sonnenuntergang!

      Scherz beiseite: Ich habe mir im Vorfeld lang überlegt, wie ich diese Idee umsetzten soll und habe ganz persönlich für mich festgestellt, dass es ohne Emotionen nicht geht.

      Lesen ohne Emotionen: Das geht gar nicht!

      Liebe Grüße
      Andreas

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  1. Hallo Andreas 🙂
    Zugegeben, beim Titel des Buches schrillten in meinem Hinterkopf rote Alarmblinker vom Feinsten. Das Lieblingsbuch meiner Mama, viel gelesen, oft zitiert – und von mir leidenschaftlich verachtet. 😀 Was allerdings wirklich an Scarlett liegt, denn diese Person ist so ein absolut unmögliches Frauenzimmer, da geh ich direkt wieder die Luft 😀 (Oder vielleicht auch erst morgen, denn morgen ist ein anderer Tag. Und an dem kann ich den Gedanken an sie vielleicht ertragen… :D)
    Jedenfalls und nun der eigentlich positive Punkt, finde ich es wundervoll, dass du stattdessen den guten Rhett auserkoren hast und zugegeben, der ist schon auch eher meinem Geschmack entsprungen, als die hochgepriesene Scarlett.
    Eine wunderbare Reihe von dir, vielen Dank dafür =)

    Liebe Grüße!
    Gabriela

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  2. Hallo Andreas,
    zunächst dachte ich ja, hier einen weiteren Titel aus der Sammlung der „verschämten Lektüren“ (die Serie hat vor Jahren mal Birigit von Sätze und Schätze aufgelegt) aus längst vergangenen Jugendzeiten zu lesen. Doch dann faszninierte mich dein ganz anderer Blick auf den Roman, der ganz anderen Figur, der du „nachgelesen“ hast . Für mich, die ich als 13-Jährige den Roman gelesen habe, stand ganz klar Scarlett im Mittelpunkt (genaues weiß ich gar nicht mehr, aber wenn ich an den Roman denke, dann fällt mir Scarlett ein). Zu lesen, dass dich Rhett in den Lesebann gezogen hat, dass du die Seiten gewendet und den Roman verschlungen hast auf der Suche nach einer ganz anderen Figur, die ja dann auch nicht im Mittelpunkt steht, weil ja – wenn ich es richtig erinnere – die Geschichte aus Scarletts Sicht erzählt wird, finde ich toll. Einerseits. Andererseits: Wie traurig auch, dass eine Nebenfigur für dich so wichtig wird, weil es keine anderen literarischen Figuren gibt, die für dich Identifikationsangebote bieten.
    Nachdenkliche Grüße, Claudia

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    1. Moin Claudia!

      Vielen Dank für Deine Rückmeldung!

      Ja, in den 80er Jahren war es eher mau mit schwulen Identifikationsfiguren. Zum Glück ist es heutzutage anders: Da haben Kinder und Jugendliche deutlich mehr Möglichkeiten, für sich passende Identifikationsfiguren in der Literatur zu finden.

      Lieben Gruß
      Andreas

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  3. Ha, diese „Nebenfigur“ war auch mein erster Teenagerschwarm. Was habe ich mir einen Rhett Butler gewünscht. Und wenn ich auf unserem Hof stehe und über die Weide blicke, kriege ich heute noch Tara-Gefühle. Winnetou hätte ich auch genommen, schwarzhaarige Abenteurer halt. Und was hab ich? Nen Dunkelblonden. Irgendwas ist da schief gelaufen… 😉

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