[Rezension] Robert Galbraith – DAS STRÖMENDE GRAB

Seit Oktober des letzten Jahres liegt dieser Roman auf meinem SuB und wartet darauf, dass ich ihn endlich aus seinem durchsichtigen Cellophan-Kleidchen befreie. Mehrfach hielt ich ihn schon in der Hand, trug schwer an seinem Gewicht, wiegte ihn unschlüssig hin und her, zauderte und legte ihn dann doch wieder zurück. Nur zu gut erinnerte ich mich an den letzten „Galbraith“, der mir zwar durchaus sehr gefiel aber auch mit „parallel abgedruckte Chat-Verläufe, Auszüge aus Twitter-Accounts, lange Dialog-Passagen über mehrere Seiten, ein üppiges Handlungspersonal mit Klarnamen und Internet-Pseudonymen“ (Zitat aus meiner damaligen Rezension) meine Konzentration extrem herausforderte. Zudem waren mir meine Versuche noch recht präsent in Erinnerung, diesen schweren „Backstein“, der aus 1343 Seiten bestand, in einer für mich halbwegs angenehmen Art zu händeln.

Und darum lag sein Nachfolger nun schon so lange auf meinem SuB, bis ich vor einigen Tagen ein gänzlich anderes Buch suchte, dies zwar nicht fand, dafür aber wieder diesen Roman in der Hand hin und her wiegte. Aus einem spontanen Impuls heraus riss ich ihm sein Kleidchen vom papierenen Leib und begann zu lesen…

Cormoran Strike wird von einem besorgten Vater kontaktiert, dessen Sohn Will sich im ländlichen Norfolk einer undurchsichtigen Glaubensgemeinschaft angeschlossen hat. Die Universal Humanitarian Church ist nach außen hin eine friedfertige Organisation, die sich für eine bessere Welt einsetzt. Doch Strike entdeckt bald, dass unter der harmlosen Oberfläche böse Machenschaften und unerklärte Todesfälle lauern. Um Will zu retten, reist Strikes Geschäftspartnerin Robin Ellacott nach Norfolk, um sich der Sekte anzuschließen und inkognito unter den Mitgliedern zu leben. Doch sie ist nicht auf die Gefahren vorbereitet, die sie dort erwarten, geschweige denn auf den Preis, den sie wird zahlen müssen …

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Auch wenn Robert Galbraith aka Joanne K. Rowling meinen Handgelenken eine Erleichterung von 47 Seiten schenkte, die dieser Schmöker weniger als sein Vorgänger auf die Waage bringt, ist auch er mit 1296 Seiten wahrlich kein Leichtgewicht. Doch trotz dieser Fülle hatte ich während der Lektüre zu keiner Zeit das Gefühl, es wäre ein „Zuviel“. Im Gegenteil: Galbraith/Rowling baute auch diesmal die Handlung wieder äußerst raffiniert auf, so dass sie sich erst Schritt für Schritt steigerte, um mich dann beim großen Showdown mit unvorhersehbaren Wendungen zu überraschen. Dabei verteilte sie die Geschehnisse auf viele Kapitel mit überschaubaren Seitenzahlen. Dies erzielte bei mir den bekannten Effekt, dass ich am Ende eines Kapitels dachte „Ach, eins schaff’ ich noch!“. Ruckzuck hatte ich so – statt der anfangs geplanten ½ Stunde – über STUNDEN in meinem Lieblingssessel verbracht, um zu lesen.

Die Szenen, die bei der Universal Humanitarian Church spielen, sind wahrlich keine leichte Kost. Die dort praktizierte menschenverachtende Haltung erinnerte mich an Vorgehensweisen totalitärer Regime, die die Menschen mit Unterdrückung und Angst geißeln, um ihre dogmatischen Lehren mit aller Macht durchzusetzen. Die Szenen sind sehr plastisch beschrieben, wühlen emotional auf und zeugen in ihrer Detailliertheit von einer akribischen Recherche der Autorin.

Abermals staunte ich über Rowlings Talent, Dialoge schlüssig, glaubhaft, beinah organisch zu entwickeln und dabei nah an der Gefühlswelt der Protagonist*innen zu sein. Sowohl den Haupt- wie auch den Nebenrollen schenkte sie den nötigen Raum, um abermals zu reifen. Dazu verriet sie bisher unbekannte Details oder setzte sie herausfordernden Situationen aus, wodurch das Profil des jeweiligen Charakters deutlich an Schärfe gewann. So hielten – neben der Haupthandlung – auch die zwischenmenschlichen Irrungen und Wirrungen der Protagonisten so manche Überraschung bereit und sorgten dafür, dass mich die Held*innen – allen voran natürlich Cormoran Strike und Robin Ellacott – nicht eine Sekunde lang langweilten.

Und wie schon am Ende meiner Rezension zu DAS TIEFSCHARZE HERZ fordere ich auch nun: Wann gibt es bei den Kriminalromanen von Robert Galbraith endlich die längst überfällige Änderung im Titel: Ein Fall für Cormoran Strike sollte abgelöst werden von Ein Fall für Strike und Ellacott – Robin hätte es mehr als verdient!!!


erschienen bei Blanvalet / ISBN: 978-3764508654 / in der Übersetzung von Wulf Bergner,Christoph Göhler und Kristof Kurz 
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

Hinterlasse einen Kommentar