[Rezension] C.H.B. Kitchin – DAS GEHEIMNIS DER WEIHNACHTSTAGE

„Eine Detektivgeschichte
ist jedes Mal auch so etwas wie eine Étude de mœurs,
eine Studie des Verhaltens ganz gewöhnlicher Menschen
in ungewöhnlichen Umständen.“

…philosophiert der Held am Ende der Geschichte. Doch bis diese Erkenntnis zu ihm durchdrang, war es ein langer, beschwerlicher Weg.

Abermals legt der Klett-Cotta Verlag – pünktlich zum Weihnachtsfest – einen passenden klassischen Kriminalroman vor und hat mit dieser Wahl wieder ein äußerst glückliches Händchen bewiesen.

Clifford Henry Benn Kitchin wurde am 17. Oktober 1895 in Harrogate, Yorkshire, geboren und wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. Ein großes Erbe ermöglichte es ihm, seine Zeit dem Schreiben und einer Vielzahl an Beschäftigungen zur Zerstreuung zu widmen. Wer allerdings annimmt, er wäre nur einer dieser verwöhnten und versnobten Müßiggänger, der irrt gewaltig. Kitchin verfügte über einen brillanten Intellekt, war ein Avantgarde-Dichter und beschäftigte sich mit Linguistik. Seine ersten beiden Romane wurden zwar gut rezensiert, doch der öffentliche Beifall blieb aus. So beschloss er, eine Detektivgeschichte zu schreiben, um eine breitere Leserschaft zu erreichen. „Der Tod meiner Tante“ erschien 1929 und wurde schnell zum Bestseller. Es sollten noch drei weitere Kriminalromane um den Börsenmakler (hauptberuflich) und Amateurdetektiv (nebenberuflich) Malcolm Warren geben. In seiner vierzigjährigen Karriere schrieb und veröffentlichte Kitchin weitere Romane, die zwar von der Kritik gefeiert wurden aber nie an die Popularität der Malcolm Warren-Krimis heranreichen sollten. Ein Umstand, der Kitchin äußerst verärgerte…!

„Mörder, so sagt man, sind oft die charmantesten Charaktere.“ Es weihnachtet sehr in der Beresford Lodge in Hampstead, unweit von Londons Zentrum. Malcom Warren, ein Börsenmakler, wird von einem seiner Klienten zu einer Weihnachtsparty eingeladen. Eine Gruppe von Bekannten und die einigermaßen komplizierte Familie des Klienten kommt zusammen, feiert ausgelassen, spielt Spiele. Doch als Warren am Weihnachtsmorgen im Gästezimmer aufwacht, findet er eine Leiche. Die Gesellschaft steht unter Schock. Handelt es sich um einen Unfall? Der Hang zum Schlafwandeln der zu Tode gekommenen Frau legt dies erst einmal nahe. Als aber ein zweiter Mord geschieht, wird die Unfalltheorie sehr schnell ausgeschlossen. Der Mörder muss einer der Bewohner oder der Gäste des großen Hauses sein – aber wer? Wer hat ein Motiv an Weihnachten zu morden? Malcolm Warren, so scheint es, soll alles in die Schuhe geschoben werden. Und so wird er gezwungenermaßen selbst zum Ermittler. Kann er den Fall lösen, bevor Weihnachten vorbei ist?

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Der Klett-Cotta Verlag schickt von dem eingangs erwähnten Krimi-Quartett den zweiten Roman ins vorweihnachtliche Rennen um die Gunst der Leserschaft, und schenkt uns abermals eine Rarität aus dem goldenen Zeitalter der britischen Kriminalromane. Kitchin war ein extrem talentierter Autor, der in bester „Whodunit“-Manier seine Geschichte aufbaute. Dabei schuf er mit dem Börsenmakler Malcolm Warren einen sympathischen Antihelden, der weit entfernt ist vom potenten Superhirn. Vielmehr wird unser Held von (Selbst-)Zweifeln geplagt und ist bei weitem nicht der Typ, der spontan heroische Taten begeht. Damit bleibt er mit mir als Leser immer auf Augenhöhe: Nie weiß er mehr als ich.

So ambivalent wie unser Held sind auch die div. Nebenfiguren, die mal mit mehr, mal mit weniger ansprechenden Charakterzügen ausgestattet wurden. Gut und Böse, schwarz und weiß, hell und dunkel vermischen sich und erschweren so das Miträtseln nach der Lösung. Wer ist der Mörder oder die Mörderin? Jede*r oder kein*r käme in Verdacht! Und könnte das Opfer nicht auch gleichzeitig ein Täter sein?

Der Autor baut die Spannung sehr subtil auf, indem er nie dann „zuschlägt“, wenn ich es als versierter Krimi-Leser erwarte. Vielmehr präsentiert er die Taten beinah unvermittelt. Auch gestaltet er die Beziehungen der handelnden Personen sehr vielschichtig und lässt in den Dialogen bedeutsame Untertöne anklingen. So meinte ich, in den Dialogen zwischen Malcolm Warren und einem der anwesenden Gäste sowie zwischen ihm und dem ermittelten Inspektor dezente homoerotische Schwingungen wahrzunehmen. Wobei natürlich durchaus die Möglichkeit besteht, dass ich, im Wissen um die Homosexualität des Autors, dies auch nur hineininterpretiert habe. Doch diese kleine Pikanterie sei mir bitte verziehen.

Zudem bietet dieser Roman eine Besonderheit, ein Extra, einen Bonus oder auch – wie der Autor es benennt – „Ein kurzer Katechismus“: Nach Beendigung der Geschichte lässt Kitchin einen imaginären Leser die Hauptfigur interviewen. All die Fragen, die bisher unbeantwortet blieben, all die losen Enden, die nicht verknüpft wurden – hier gibt es die Möglichkeit, auch die allerletzte Ungereimtheit aus dem Weg zu räumen. Eine solche überraschende wie außergewöhnliche Vorgehensweise habe ich zuvor bei keinem anderen Kriminalroman erleben dürfen. Der Autor bleibt seiner Leserschaft nichts schuldig.

C.H.B. Kitchin ist ein Name, den ich mir unbedingt merken muss, und so hoffe ich sehr, dass der Klett-Cotta Verlag auch die drei noch fehlenden Romane rund um Malcolm Warren veröffentlicht. Es würde mich freuen…!


erschienen bei Klett-Cotta / ISBN: 978-3608966398 / in der Übersetzung von Dorothee Merkel
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Nicholas Blake – Das Geheimnis der Silvesternacht

In nur wenigen Tagen feiern wir Silvester, verabschieden das alte Jahr und blicken voller Hoffnung ins Neue Jahr. Und mit dieser Rezension verabschiedet sich auch die Rubrik LEKTÜRE ZUM FEST von meinem Blog, um sich hoffentlich am Ende des kommenden Jahres wieder frisch und mit einer Fülle an Lese-Tipps zurückzumelden.

Diesen Roman – obwohl schon im September erschienen und seitdem vom Verlag mir als Leseexemplar zur Verfügung gestellt – habe ich Euch sehr bewusst bisher vorenthalten, um das Jahr 2023 wohlig mit einer klassischen Krimi-Lektüre zu beenden. Denn das Gefühl, beim Lesen wohlig umfangen zu werden, um so ein wenig Ablenkung von den Katastrophen auf dieser Welt zu finden, habe wir uns alle redlich verdient…!

Der legendäre Privatdetektiv Nigel Strangeways verbringt die Silvesternacht in einem stattlichen Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert im ländlichen England. Doch während überall im Land die Menschen das neue Jahr einläuten, läuft ihm die Zeit davon – denn das Leben eines Kindes steht auf dem Spiel: Nigel Strangeways reist auf Bitte der britischen Regierung über die Weihnachtsferien ins verschneite Südengland, um den Professor Alfred Wragby und seine Familie zu schützen. Dem Physiker ist ein bedeutender wissenschaftlicher Durchbruch gelungen, und jemand ist hinter diesem streng geheimen Wissen her. Als Wragbys achtjährige Tochter Lucy auf ihrem morgendlichen Weg vom Gästehaus zum Briefkasten von russischen Agenten entführt wird, die den Professor erpressen wollen, findet sich Nigel in einem Wettlauf gegen die Zeit wieder, um das Mädchen zu finden und eine Tragödie zu verhindern.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Der Klett-Cotta Verlag schickt zum 4. Mal in Neuauflage einen der wunderbar unterhaltsamen Krimi-Schmöker aus der Feder von Nicholas Blake (Pseudonym für Cecil Day-Lewis) ins Rennen. Bei den Wieder-Veröffentlichungen geht der Verlag allerdings nicht chronologisch vor. Da alle Haupthandlungen in sich abgeschlossen sind, fällt dieser Umstand eher unwesentlich ins Gewicht und könnte somit vernachlässigt werden. Als aufmerksamer Leser interessiert mich allerdings auch die private (Weiter-)Entwicklung der Hauptpersonen einer Krimi-Reihe. So war ich etwas überrascht, dass die charmante Gattin unseres Helden, die ich in Das Geheimnis des Schneemanns kennenlernen durfte, hier mit keinem Wort erwähnt wird, und er stattdessen mit der aparten Clare Massinger liiert ist. Der Grund: Zwischen den Erst-Veröffentlichungen beider Werke liegen nicht nur satte 23 Jahre, sondern auch 7 weitere Romane, die wahrscheinlich Aufklärung geben könnten über den Verbleib der Ehefrau unseres stattlichen Helden Nigel Strangeways. Dies schmälert natürlich nicht meinen Genuss an dieser Kriminal-Story und darf auch nicht als Kritik an eben jener gesehen werden. Vielmehr geht dieser Hinweis in Richtung des Verlages mit der Bitte, sich bei den Wieder-Veröffentlichungen an der chronologischen Reihenfolge zu orientieren.

Ansonsten legte Blake abermals einen flott zu lesenden Krimi vor, der wieder eine handverlesene Zahl an Charaktere präsentiert, mit intelligenten und klug durchdachten Dialogen punktet, genügend unterhaltsame Verwicklungen bietet und ganz im Sinne der Entstehungszeit viel Zeitkolorit versprüht. Dabei schieben ihm die Anspielungen an den Kommunismus und dem kaltem Krieg einen Hauch in Richtung eines Spionage-Thrillers. Wobei der Autor wohltuend auf eine allzu plakative Schwarz-Weiß-Skizzierung der Figuren verzichtet, sondern vielmehr auf beiden Seiten sympathische wie auch durchaus weniger sympathische Personen agieren lässt. Zudem überraschte mich dieses Werk mit seiner fesselnden Spannung und einer eindrucksvollen Dramatik: Beides hatte ich in diesem Maße bisher in keinem der zuvor gelesenen Krimis des Autors wahrgenommen.

Im Mittelpunkt steht selbstverständlich der charismatische Nigel Strangeways, der abermals sehr facettenreich dargestellt wird. Auch wenn Blakes Kriminalromane von der „goldenen“ Epoche des Genres geprägt sind, so ist seine literarische Kreation weniger der Super-Schnüffler, dem alles gelingt und dem die Erfolge nur so zufliegen. Vielmehr muss auch Strangeways so manchen herben Rück- bzw. schmerzhaften Tiefschlag verkraften. Doch all dies macht ihn nur menschlicher und somit nahbarer.

Das nächste Abenteuer von Privatdetektiv Nigel Strangeways wurde vom Klett-Cotta Verlag schon für das Frühjahr des nächsten Jahres angekündigt: Und diesmal hüpfen wir in der Chronologie wieder zwei Schritte zurück…! 😉


erschienen bei Klett-Cotta / ISBN: 978-3608986952 / in der Übersetzung von Dorothee Merkel

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Gladys Maude Winifred Mitchell (* 1901; † 1983) wurde in Oxfordshire geboren, studierte in London Geschichte und arbeitete als Lehrerin. Im Jahre 1929 erschuf sie die berühmte Detektivin Beatrice Adela Lestrange Bradley, die sie in über sechzig Kriminalromanen ermitteln ließ. Dabei bedachte sie ihrer Heldin mit Interessen, die durchaus ihren eigenen entsprachen:  So war Gladys Mitchell nicht nur eine fundierte Kennerin der Werke von Sigmund Freud sondern interessierte sich auch für Okkultismus. Neben Agatha Christie und Dorothy L. Sayers gehörte sie dem britischen „Detection Club“ an und erhielt 1976 die höchste Ehrung der Crime Writer’s Association. Die Romane wurden Ende der 90er Jahre unter dem Titel The Mrs. Bradley Mysteries von der BBC verfilmt – mit Diana Rigg (Mit Schirm, Charme und Melone) in der Titelrolle und Neil Dudgeon (Inspector Barnaby) als Chauffeur George.

Mrs. Adela Bradley, praktizierende Psychologin und selbsternannte Hobby-Detektivin, befindet sich mit ihrem Chauffeur George auf dem Weg zu ihrem Neffen Carey Lestrange, der in der Grafschaft Oxfordshire eine erfolgreiche Schweinezucht betreibt, um dort in geruhsamer Eintracht im Kreise von Familie und Freunden die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Nur leider bleibt es weder geruhsam noch einträchtig: Die Mär eines Geistes, der nur einmal im Jahr ausgerechnet am Weihnachtsabend erscheint und diejenigen, die ihn zu Gesicht bekommen, im Laufe des kommenden Jahres in den Tode zieht, erhitzt seit Generationen die Gemüter der Dorfbewohner. Auch an diesem Weihnachten sorgt die Geschichte für reichlich Gesprächsstoff, zumal alle von der dubiosen Wette eines Unbekannten wissen, der den ansässige Anwalt Mr. Fossder und den benachbarten Schweinezüchter Geraint Tombley mit der Summe von 200 Pfund herausgefordert hat, sich dem Geist entgegenzustellen. Als dann am Heiligabend die Leiche von Mr. Fossder auf einem Feldweg entdeckt wird, spricht offiziell von Seiten der Polizei alles für einen natürlichen Tod durch Herzinfarkt. Doch die eine oder andere Ungereimtheit, die bei oberflächlicher Betrachtung belanglos wirken könnte, erregt die Aufmerksamkeit von Mrs. Bradley. Gemeinsam mit ihrem Neffen Carey und dem Chauffeur George stürzt sie sich in die Ermittlungen…!

Bisher waren die Krimi-Ausgrabungen aus dem Klett-Cotta Verlag eine sichere Bank für kurzweilige Unterhaltung mit nostalgischem Charme. Und wenn ich mir die Vita der Autorin bzw. deren Stellenwert innerhalb der britischen Kriminalliteratur anschaue, dann war die deutschsprachige Veröffentlichung dieses Romans (bzw. ihrer Romane) mehr als überfällig. Und augenscheinlich schien dieser Krimi alle meine Erwartungen an einem „Whodunit“ zu erfüllen: eine engagierte Amateur-Ermittlerin, ein zupackendes Faktotum, ein üppiges Handlungspersonal mit vielen potentiellen Verdächtigen, jede Menge Verwicklungen…

…und auch wenn formal alles richtig zu sein schien, haderte ich mit diesem Krimi. Dies lang nicht unbedingt in der Tatsache begründet, dass der deutsche Titel einen süffigen Weihnachtskrimi versprach, die Handlung sich allerdings über mehrere Monate – von Weihnachten bis Pfingsten – hinzieht. Vielmehr musste ich mit Bedauern feststellen, dass mir selten eine Hauptperson so unsympathisch war wie Mrs. Adela Bradley. Beinah schien es, als hätten die Besonderheiten ihrer Patienten auf ihr eigenes Verhalten abgefärbt. So manche ihrer Reaktionen nahm ich als befremdlich wahr: hämisches Kichern, bösartiger Blick, Echsenlächeln. Zudem wurden ihre Hände immer wieder mit Klauen verglichen. Diese Beschreibung erschien mir ebenso wenig schmeichelhaft, wie ihre Angewohnheit, alle und jede*n als „Kind“ zu titulieren, was eher herablassend auf mich wirkte.

Dieser Krimi erschien im englischen Original unter dem Titel Dead Men’s Morris im Jahre 1936 und war schon der 7. Fall, in dem Mrs. Bradley die Krimi-Bühne betrat. Vielleicht hätten sich mir viele ihrer Eigenarten mit dem Wissen aus den vorherigen Romanen erklärt, mein Verständnis geweckt und sie weniger unsympathisch auf mich wirken lassen. So empfand ich eben diese Allüren mehr als nur irritierend.

Schade! Ich hatte mich so sehr gefreut, eine weitere amüsant-kauzige Protagonistin in die Reihen meiner geliebten wie verehrten Hobby-Ermittler*innen hinzufügen zu dürfen.


erschienen bei Klett-Cotta / ISBN: 978-3608986730 / in der Übersetzung von Dorothee Merkel

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!