– 2002 –
Na, da bist du ja wieder, Holly Golightly! Wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen? Dabei haben wir uns nie aus den Augen verloren – vielmehr: Ich habe dich nie gänzlich aus den Augen verloren. Manchmal hat sich mir vielleicht etwas in den Vordergrund gedrängt und dich verdeckt (Als wenn es möglich wäre!), aber du bist nie völlig aus meinem Blick entschwunden. Häufig hörte ich schon die ersten zarten Töne deiner Gitarre, lange bevor ich dich erblickte. Im Gegenzug hast du mir nie Deine Aufmerksamkeit geschenkt. Warum solltest Du auch? Ich gehörte nie zu deinen präferierten Verehrern: zu unscheinbar, zu mittellos, zu wenig Stiel. Ich spiele nicht in deiner Liga! Aber das ist absolut okay für mich. Ich bin sehr zufrieden mit meiner stillen Beobachter-Rolle und sehr glücklich, hin und wieder meinen Blick auf dich, du kapriziöses Geschöpf, werfen zu dürfen…!
„Moon river, wider than a mile / I’m crossing you in style some day!“
Na, da bist du ja wieder, Holly Golightly! Und nach all den Jahren, nachdem Truman Capote im Jahre 1958 zum ersten Mal der Welt von deiner Existenz berichtete, hast du nichts von deinem Zauber eingebüßt. Dabei lag selbst die Geschichte, die Truman uns erzählte, schon einige Jahre zurück: Es war 1943 als Du in dieses alte Backsteinhaus in der East Side von New York gezogen bist – zusammen mit dem namenlosen Kater, den du irgendwann am Flussufer aufgegabelt hattest. Da er dir nicht gehörte, wolltest du ihm auch keinen Namen geben. Du wolltest nichts in Besitz nehmen, solange du nicht die Stelle gefunden hast, wo du und dein Besitz gemeinsam hingehören. Heute weiß ich, dass du nach einem Ort gesucht hast, den du hättest „Heimat“ nennen können…!
„Oh, dream maker, you heart breaker / Wherever you’re goin‘, I’m goin‘ your way!“
Völlig egal ob deine Geschichte 1943, 1958, 1961, 2002 oder heute erzählt wird: Du bist so jung, so schön, so mondän, so voller Klasse – und so modern, eine moderne Frau mit einer Vergangenheit voller Geheimnisse und einer Zukunft voller Ungewissheit.
Völlig egal ob du mir schwarz auf weiß oder in Zelluloid gehüllt erscheinst: Dein Lächeln betört, dein Blick verlockt, dein Charme verführt und deine Grazie überwältigt – und sei gewiss, dies wird sich nie ändern. Eine bitter-süße Wehmut überkommt mich, da ich spüre, dass du längst schon wieder fort bist – lange bevor der letzte Ton deiner Gitarre verstummt ist.
Am Briefkasten des Backsteinhauses in der East Side klebt immer noch deine Visitenkarte (das einzige, das du dir von Tiffany leisten konntest) mit dem Aufdruck „Miss Holly Golightly, Auf Reisen“.
Der namenlose Kater hat seine Heimat gefunden. Du bist weiterhin auf Reisen.
Lebe wohl, Holly!
❤️
Bis heute wusste ich nicht, dass dieser Titel einen Roman von Truman Capote entstammt. Ich kannte bisher nur den Film. Man lernt nie aus. Vielen Dank für dieses Erkenntnis.
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…sehr gern geschehen! Und ich danke Dir für die vielen „Likes“. Schönes Wochenende!
Gruß
Andreas
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Was für ein schöner Text! ❤️
Ich bin mit dem Roman nicht richtig warm geworden, den Film fand ich tatsächlich besser.
Vielleicht sollte ich ihn nochmal lesen. Ich habe vor kurzem die gesammelten Reportagen von Capote gelesen und war begeistert.
Liebe Grüße
Marie
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Moin Marie!
Es gibt eben manchmal Romane, Erzählungen u.ä., die brauchen ihre Zeit, bzw. der/die Leser*in muss selbst erstmal reifen, um eine gewisse Geschichte schätzen zu können.
Mir ging es vor Jahren mit der Erzählung „Das Geschenk der Weisen“ von O. Henry so, die ich beim ersten Lesen „ganz nett“ fand. Einige Jahre später las ich sie nochmals und war extrem berührt.
Also, gib Holly bitte noch eine 2. Chance!
Lieben Gruß
Andreas
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Moin Andreas,
da hast du absolut recht.
Ich weiß noch, wie ich „Der Herr der Ringe“ nach 100 Seiten zur Seite gelegt habe, weil es mich absolut nicht erreicht hat. Zwei Jahre später habe ich erneut danach gegriffen und an wenigen Tagen durchgelesen. Jetzt gehört die Geschichte zu meinen Lieblingen.
Also werde ich auch Holly eine zweite Chance geben. 🙂
Herzliche Grüße
Marie
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