Oscar Wilde hätte es sich sicherlich sehr gewünscht aber damals – unter realistischen Gesichtspunkten – nie zu träumen gewagt, dass seine erste veröffentlichte Geschichte ein weltweiter Erfolg werden würde. Seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahre 1887 in der Londoner Zeitschrift The Court and Society Review erfreut diese Grusel-Mär in unzähligen Auflagen und vielfältigen Erscheinungsformen die Leserschaft. Und dank seiner originären Handlung hat die Geschichte den Sprung auf die Leinwand und ins Fernsehen geschafft und begeistert ebenso als Schauspiel, Musical oder Oper das Theaterpublikum.
Der amerikanische Gesandte Hiram B. Otis reibt sich begeistert die Hände: Er hat soeben vom amtierenden Lord Canterville das Familienanwesen nebst Hausgeist käuflich erworben. Doch die Warnung des Lords vor eben diesem Gespenst, das seit Hunderten von Jahren im Schloss sein Unwesen treibt und schon so manchen Bewohner in den Wahnsinn getrieben hat, schlägt er leichtfertig in den Wind. Schließlich kommt er aus der neuen Welt und ist sowohl ein modern denkender Mensch als auch waschechter Republikaner. Für übernatürliche Phänomene fehlt ihm schlicht das Verständnis. So zieht Mr. Otis zusammen mit seiner Gattin Lucretia, dem ältesten Sohn Washington, seiner Tochter Virginia und den Zwillingen „The Star and Stripes“ in ihr neues Heim. Der Geist gibt sein Bestes, die neuen Hausbesitzer gebührend zu empfangen, und lässt seine Ketten gar schauerlich nächtens rasseln. Ein Umstand der Mr. Otis veranlasst, ihm eine Flasche Schmieröl auszuhändigen mit der freundlichen aber bestimmten Aufforderung, er möge seine Ketten ölen. Das Gespenst von Canterville ist erschüttert über diese bodenlose Respektlosigkeit und droht mit drastischeren Maßnahmen. Dummerweise hat er nicht mit dem vehementen Widerstand der Familie gerechnet. Nur Virginia hält sich diskret aus dem sich immer weiter zuspitzenden Scharmützel heraus…!
Mit schallendem Gelächter quittierte ich so manche gelesene Passage, schmunzelte über gelungene Wortspielereien und erfreute mich an ironischen Seithiebe. Schon in seiner ersten Geschichte zeigt sich Oscar Wildes meisterhaftes Erzähltalent. Mit scheinbar spitzbübischer Freude platziert er seine Kritik an der damaligen Gesellschaft, indem er zwei völlig konträre Lebensentwürfe gegenüberstellt. Bei ihm trifft die neue Welt auf die alte Welt, Rationalität auf Romantik, Fortschritt auf Konventionen. Diese beiden Extreme können doch nicht zusammen passen (oder?) – noch nicht einmal in Bezug auf die Sprache, wie Wilde süffisant in einem Nebensatz verlauten lässt. Dabei streut er humoristische Anspielungen über die Geschichte und spielt genüsslich mit Klischees.
Allein die Wahl der Namen des Handlungspersonals entlockte mir ein Schmunzeln: Schon der Familienname der Amerikaner lässt aufhorchen. Schließlich ist die Firma „Otis“ in den USA seit ihrer Gründung im Jahre 1853 führend in der Erstellung von Aufzugsanlagen und steht für Fortschritt und Innovation. Sollte dies dem Autor etwa als Metapher dienen? Etwa im Sinne von: So wie man mit dem Lift auf höheren Ebenen gleitet, so steigt auch unsere amerikanische Familie innerhalb der europäischen High Society auf. Auch lässt es sich unser Familienoberhaupt – ganz Patriot – nicht nehmen, seine Kinder mit passenden Namen zu bedenken. Und auch der Vorname seiner Gattin erlaubt Assoziationen mit der historischen Persönlichkeit der Lucrezia Borgia, die machthungrig gerne an den politischen Strippen zog und nach Höherem strebte.
Der Gegenpart ist geprägt durch eine über die Jahrhunderte gepflegte Familiengeschichte, die durch pikante Anekdoten und halb-wahren Histörchen gewürzt wurde: Oscar Wilde lässt sein Gespenst besonders viel Wert auf Respekt und Etikette legen. Dieser (von Wilde häufig kritisierter) Konformismus sorgt für Stabilität im gesellschaftlichen Gefüge, in dem jeder weiß, wo sein Platz ist, und welche Rolle er zu spielen hat. Apropos: Das Gespenst schlüpft voller Enthusiasmus in immer neue gruselige Rollen (ein Hinweis auf Englands alte Theatertradition) in der Hoffnung, die Familie damit endlich erfolgreich vertreiben zu können. Diese wiederum kontert mit dem Einsatz moderner Hilfsmitteln, denen das Gespenst nichts entgegenzusetzen weiß.
Der Künstler Aljoscha Blau schuf für dieses feine Büchlein aus der Insel-Bücherei neun ganzseitige Illustrationen, die die Geschichte unterstützend begleiten, und wählte hierzu eher gedeckte Töne und Schattierungen. Bei der Physiognomie der Figuren lässt der Künstler dem Betrachter eine Familienähnlichkeit erkennen, sei es beim Geist zu seinem noch lebenden Nachkommen wie auch innerhalb der Familie Otis. Nur Virginias Erscheinungsbild passt irgendwie zu keiner Seite: Vielmehr spiegelt sie optisch eine noble Zurückhaltung wieder und schlägt so eine verbindende Brücke zwischen den Extremen.
Oscar Wilde besticht schon in dieser seiner ersten Geschichte als brillanter Erzähler. Mit einem scharfen Geist ausgestattet fabuliert er einerseits völlig respektlos und voller Ironie, doch bleibt dabei stets humorvoll und ohne biestig-bissigen Unterton. So erscheint es mir mehr als verständlich, dass er für seinen praktizierten Ästhetizismus zugleich bewundert wie auch kritisiert wurde. Doch für mich steht er völlig zu Recht an der Spitze der britischen Literaten.