Es sollte Oscar Wildes erste veröffentlichte Geschichte werden: Auch 137 Jahre später wird DAS GESPENST VON CANTERVILLE nach wie vor geliebt und gelesen. Zudem animierte sie die Kreativität vieler Künstler*innen, die aus diesem bezaubernden Grusel-Spaß eigene Adaptionen schufen. Natürlich dürfen in diesem illustren Reigen der Versionen die wunderbaren Hörspiele nicht fehlen: Hier entstehen nur dank der Aneinanderreihung vieler Töne die bunten Bilder im imaginären Kopfkino der Zuhörer*innen.
Der amerikanische Gesandte Hiram B. Otis reibt sich begeistert die Hände: Er hat soeben vom amtierenden Lord Canterville das Familienanwesen nebst Hausgeist käuflich erworben. Doch die Warnung des Lords vor eben diesem Gespenst, das seit Hunderten von Jahren im Schloss sein Unwesen treibt und schon so manchen Bewohner in den Wahnsinn getrieben hat, schlägt er leichtfertig in den Wind. Schließlich kommt er aus der neuen Welt und ist sowohl ein modern denkender Mensch als auch waschechter Republikaner. Für übernatürliche Phänomene fehlt ihm schlicht das Verständnis. So zieht Mr. Otis zusammen mit seiner Gattin Lucretia, dem ältesten Sohn Washington, seiner Tochter Virginia und den Zwillingen „The Star and Stripes“ in ihr neues Heim. Der Geist gibt sein Bestes, die neuen Hausbesitzer gebührend zu empfangen, und lässt seine Ketten gar schauerlich nächtens rasseln. Ein Umstand der Mr. Otis veranlasst, ihm eine Flasche Schmieröl auszuhändigen mit der freundlichen aber bestimmten Aufforderung, er möge seine Ketten ölen. Das Gespenst von Canterville ist erschüttert über diese bodenlose Respektlosigkeit und droht mit drastischeren Maßnahmen. Dummerweise hat er nicht mit dem vehementen Widerstand der Familie gerechnet. Nur Virginia hält sich diskret aus dem sich immer weiter zuspitzenden Scharmützel heraus…!
1 CD/ DAS GESPENST VON CANTERVILLE von Oscar Wilde (1993)/ Hörspielbearbeitung & Regie: Lilian Westphal & Gabriele Sachtleben/ Musik: Benedikt Hoenes/ Ton & Technik: Hans Scheck & Susanne Herzig/ mit Peter Fricke, Marion van de Kamp, Robinson Reichel, Dorothee Hartinger, Jakob Haas, Julian Sonner, Horst Sachtleben, Philipp Moog, Irmgard Först, Henning Schlüter, Rufus Beck u.a.
Schritte hallen, Schreie ertönen, Ketten klirren: Doch ein Gefühl des Gruselns – so richtig mit Gänsehaut, angespannten Nerven und sonstigem Zipp und Zapp – wollte sich bei mir nicht einstellen. Und das war auch gut so, denn dafür ist Wildes Geschichte einfach viel zu lustig. So saß ich auch eher lachend vor dem CD-Player und erfreute mich an der gelungenen Hörspiel-Adaption, die trotz obligatorischer Kürzungen den Spirit (in diesem Zusammenhang mochte ich nicht von „Geist“ sprechen) von Oscar Wildes Originalgeschichte ganz wunderbar einfängt.
Zu verdanken ist dies natürlich sowohl der behutsamen Bearbeitung durch Lilian Westphal und Gabriele Sachtleben, die auch für die Regie verantwortlich zeichneten, wie auch der Kunst der Tontechnik durch Hans Scheck und Susanne Herzig. Leider ist Benedikt Hoenes mit seiner Musik nicht kontinuierlich auf diesem hohen Niveau: Da schuf er atmosphärisch stimmige Kompositionen, die sowohl die Szenerie unterstützt wie auch für die Zeit, in der die Geschichte spielt, sehr passend sind. Dann mixte er immer wieder Jingles dazwischen, die an einer TV-Kindersendung erinnern und den Spannungsbogen eher unterbrechen als aufrecht erhalten.
Größtes Pfund dieser Hörspiel-Produktion ist allerdings das talentierte Ensemble, das von dem bekannten TV-Mimen Peter Fricke angeführt wird, der als Mr. Otis einerseits äußerst pragmatisch, andererseits ganz wunderbar nonchalant daherkommt. Seite an Seite steht ihm Marion van de Kamp als resolute Mrs. Otis in nichts nach. Umschwirrt werden sie von talentierten Jung-Sprecher*innen: Robinson Reichel verleiht dem ältesten Sohn Washington eine altkluge Reife, Jakob Haas und Julian Sonner als die Zwillinge begeistern durch eine quirlige Natürlichkeit, und Dorothee Hartinger als Virginia bezaubert durch ihren mädchenhaften Charme.
Horst Sachtleben kann als amtierender Lord Canterville mit aristokratischen Attitüden aufwarten, während sein bemitleidenswerter Vorfahr, eben jenes Titelgebende Gespenst, durch Henning Schlüter mit markanter Stimme überzeugend zwischen „beängstigend“ und „bemitleidend“ hin und her schwankt.
Über 30 Jahre hat diese Ausgrabung aus dem Hörspiel-Archiv des Bayerischen Rundfunks nun schon auf dem Buckel und klingt nach wie vor so herrlich frisch, dass sicherlich auch die nächsten 30 Jahre ihm nichts anhaben werden. Gutes ist und bleibt eben zeitlos!
