LESE-HIGHLIGHTS 2022…

Dat Johr geit to End, un de Lichter verbrennt.Man, de Tied stickt een Licht an in di.Dat Johr geit to End, un de Lichter verbrennt.Man, de Tied stickt een Licht an in di.

Ja, das Jahr geht zu Ende! Nur noch wenige Tage, und dann ist auch dieses Jahr Geschichte. Und wie am Ende eines jeden Jahres überkommt mich ein wenig Wehmut, die sich gerne auch in meine von mir freudig erwartete Jahresend-Depression verwandelt: Ich bin noch erschöpft vom alten Jahr, blicke frustriert auf das Neue Jahr und denke bei mir „Jetzt geht der ganze Sch… von vorne los!“ Wenigstens einmal im Jahr gönne ich mir den Luxus, suhle mich hemmungslos in Selbstmitleid und heule in meinem stillen Kämmerlein ein paar Taschentücher nass.

Und doch ganz bin ich noch nicht soweit, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen: Werfen wir doch gemeinsam erstmal einen Blick zurück auf mein Lese-Jahr, das mitunter ein wenig holperig daherkam. Die Gründe für manches Stocken in meinem Lesefluss lassen sich in eine der drei folgenden Kategorien einsortieren: „Lustlosigkeit“, „Zeitlosigkeit“ oder „Lust- und Zeitlosigkeit“. An einer „Buchlosigkeit“ kann es definitiv nicht gelegen haben: Mein SuB überzeugt nach wie vor mit einer stattlichen Höhe.

Trotz des einen oder anderen Romans neueren Datums, griff ich dieses Jahr eher zu den Klassikern und entdeckt für mich so einige Schätze, die bisher wenig bis gar keine Aufmerksamkeit von mir erhielten – völlig unverständlich! Mein neu erwachtes Interesse an den Klassikern wird auch noch Auswirkung auf die Wahl meiner Lektüre im kommenden Jahr haben. Doch dazu später mehr. Hier erstmal meine Jahres-Highlights 2022…



  • Im Februar erfreute ich mich an der wunderbaren Anthologie Die besten Geschichten mit Werken vom Meister der „Short-Story“ O. Henry, von dem ich bis dahin nur seine wohl bekannteste Geschichte „Das Geschenk der Weisen“ kannte.
  • Den Mai eröffnete ich passender Weise mit Frühlingsgefühle. Geschichten von der Liebe von Anton Čechov und war wieder bezaubert von seinem melancholisch-heiteren Erzählstil.
  • Der Juni entführte mich mit Kurt Tucholsky auf Schloß Gripsholm. Hans Traxler bereicherte diese charmante Geschichte mit seinen gelungenen Illustrationen.
  • Im Juli brauchte ich für Gesang zwischen den Stühlen. Gedichte von Erich Kästner zwar keine gut geölten Stimmbänder, dafür forderten seine Gedichte meine volle Aufmerksamkeit.
  • Heinrich Mann machte mich ebenfalls im Juli bekannt mit Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, zu dem Martin Stark (nomen est omen) ausdrucksstarke Illustrationen beitrug.
  • Im August erkannte ich mit Schrecken, dass ich Erich Kästners Das fliegende Klassenzimmer noch nie gelesen hatte und musste diesen Zustand sofort ändern.
  • Den Oktober verbrachte ich in England auf Einladung von Oscar Wilde, der mich in Das Gespenst von Canterville mit seiner famosen Fabulierkunst entzückte.
  • Im Rahmen meiner geliebten Rubrik LEKTÜRE ZU FEST machte ich im November dank Morgen kommt der Weihnachtsbär erstmalig die Bekanntschaft mit Janosch: eine Bekanntschaft, die ich gerne weiter vertiefen möchte.
  • Im Dezember kurz vorm Fest konnte ich der Versuchung nicht länger widerstehen und beschenkte mich selbst mit einer Illustrierten Fassung von O. Henrys Das Geschenk der Weisen, die der Künstler Patrick James Lynch mit seinen Bildern veredelt hat.

So, der Rückblick auf mein Lese-Jahr ist geschafft. Nun kann ich mich hemmungslos gehen lassen und meinem Jahresend-Depri frönen: Die Familienpackung Papiertaschentücher liegt schon bereit. Aber keine Angst: Dieser Zustand wird nicht lange andauern. Nach einiger Zeit werde ich wie Phönix aus der Asche wieder erscheinen – gänzlich frustbefreit – und dann kann es wieder weitergehen!

Ich wünsche Euch einen guten Rutsch und für das Neue Jahr 2023 nur das Allerbeste!

Liebe Grüße
Andreas

[Rezension] Heinrich Mann – Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen/ mit Illustrationen von Martin Stark

Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein. Der oder jener Professor wechselten zuweilen ihr Pseudonym. […] Unrat aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegen benutzen ihn außerhalb des Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rücken drehte. […] Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien: „Riecht es hier nicht nach Unrat?“ Oder: „Oho! Ich wittere Unrat!“ Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter […] und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten und der scheu und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. (Original-Zitat aus dem Roman)

…doch besagter Professor Unrat kann seinen Verleumdern „nichts beweisen“. Diese Schmach nagt an ihm und lässt ihn umso tyrannischer mit seinen Mitmenschen umgehen. Zumal in seinem Weltbild sie alle unwert erscheinen, um von seinem „Spiritus Rector“ zu profitieren. Besonders hat er die Schüler Lohmann, von Ertzum und Kieselack auf den Kieker, deren provokant selbstbewusste Art ihn anwidert und seinen Hass schürt. Zudem hegt er den Verdacht, dass sie die unflätige Verballhornung seines Namens weiter provozieren und sich zudem in zwielichtigen Etablissements aufhalten, um dort die Gesellschaft von unmoralischen Weibsbildern zu suchen. Dies gilt es, erbarmungslos aufzudecken, um die schändlichen Übeltäter von der Schule zu verbannen. So heftet sich der Professor an die Fersen seiner Schüler und landet in der Vergnügungskneipe „Der blaue Engel“, in der die Künstlerin Fröhlich Nacht für Nacht das Publikum in ihren Bann zieht. Unversehens verfällt auch der so tugendhaft erscheinende Professor dem herben Charme der jungen Schönen. Beide gehen eine toxische Verbindung ein: Mit der Liaison mit der Künstlerin Fröhlich verbannte er das von ihm so verhasste Schüler-Trio in seine Schranken. Gleichzeitig nutzt er ihre reizvolle Attraktivität, indem sie ihm Sirenen-gleich seine ehemaligen wie aktuellen Peiniger anlockt, die er dann genüsslich in den finanziellen wie auch gesellschaftlichen Ruin zieht. Die Künstlerin Fröhlich sieht ihre Verbindung deutlich pragmatischer: Für sie bedeutet die Ehe mit dem Professor in erster Linie einen gesellschaftlichen Aufstieg, wirtschaftliche Absicherung und einen Hauch von Ehrbarkeit. Dabei versucht sie verzweifelt die manischen Wutausbrüche ihres Gatten zu zügeln. Doch dessen unberechenbares Temperament machen sie zum Gespött in der ganzen Stadt und reißt schlussendlich beide hinab in den Abgrund…!


Diese Diashow benötigt JavaScript.


In nur wenigen Monaten schrieb Heinrich Mann seinen (späteren) Erfolgsroman, der 1905 veröffentlicht werden sollte. Seine Kritik an der damaligen Gesellschaft, die ein scheinheilig-biederes Bürgertum propagierte aber dieses gleichzeitig nicht glaubwürdig zelebrierte, fand nicht die ungeteilte Begeisterung der Leserschaft. Vielmehr hielt der Autor den Leser*innen einen Spiegel vor, der höchst unvorteilhaft das eigene Denken und Handeln offenbarte. Fleiß, Zucht und Ordnung galten als erstrebenswerte Tugenden, die nur von den wenigsten Bürgerinnen und Bürgern erreicht werden konnten. Mehrheitlich wurde verlogen versucht, den Schein zu wahren, und mit Erleichterung auf potenzielle Übeltäter*innen mit dem Finger gezeigt, um von der eigenen Unzulänglichkeit abzulenken.

Mann beschreibt sehr eindringlich den Untergang eines von seinen Mitmenschen verspotteten Spießbürgers, der sich moralisch über alle/s stellt, dennoch leidenschaftlich den Reizen eines leichten Frauenzimmers verfällt und somit seine gesellschaftliche Stellung verspielt. Während er seine Protagonist*innen in den Dialogen an den Konventionen des Bürgertums festhalten lässt, offenbart er in den inneren Monologen die wirkliche Meinung der Figuren. Und gerade diese inneren Monologe erzeugen eine vibrierende Dynamik in der Geschichte: Als Leser fühlte ich mich wie durch einen Sog in die Geschichte hineingezogen. Seite für Seite bäumt sich die Handlung immer weiter hinauf in die Höhe, um dann am Ende – beinah unspektakulär – in sich zusammenzufallen.

Manns Sprache mutet charmant altmodisch an und spiegelt deutlich den Duktus des wilhelminischen Kaiserreichs wider. Er verwendet Satzkonstellationen, die beim Lesen aufmerken lassen, und verwendet Worte an Stellen, die für unser heutiges Empfinden ungewohnt erscheinen.

Die Büchergilde Gutenberg hat ein untrügliches Händchen, um für ihre illustrierten Bücher die passenden Künstler*innen zu finden. In diesem Fall nahm sich Martin Stark der Geschichte an – anfangs eher widerwillig, wie er in einem Nachwort verrät. Bei der Darstellung der Figuren nimmt er die Beschreibungen Manns ernst und schafft so eine satirische Überhöhung. Wie vom Künstler gewollt, fühlte ich mich beim Anblick der Bilder an die Ästhetik alter Stummfilmklassiker des deutschen Filmexpressionismus erinnert. Martin Stark kreierte so Illustrationen, die, trotz ihrer Gradlinigkeit, sehr lebendig, beinah pulsierend wirken.

Mit der Figur des Professor Unrats schuf Heinrich Mann einen Prototyp des Tyrannen, der unbarmherzig, menschenverachtend und ohne Mitgefühl agiert, dessen Untergang allerdings vorbestimmt scheint. Sein Roman ist für mich ein Paradebeispiel für Gesellschaftskritik in der Literatur, die so versuchte, Einfluss auf politische Situationen zu nehmen.


erschienen bei Büchergilde Gutenberg/ ISBN: 978-3763272594

ebenfalls erschienen bei Rowohlt/ ISBN: 978-3499100352, Anaconda/ ISBN: 978-3730609859 und Reclam/ ISBN: 978-3150206645 (alle ohne Illustrationen)