Ich musste zu meiner Überraschung feststellen, dass ich meine Hemmschwelle gegenüber der russischen Literatur immer noch nicht gänzlich überwunden habe. Dabei war ich auf einem so guten Wege: Schon bei DAS ADELSGUT begeisterte mich wie der Autor Iwan Turgenjew die Worte mit Bedacht wählte. Auch die wunderbaren Jahreszeiten-Anthologien mit Erzählungen von Anton Čechov (in der äußerst gelungenen Übersetzung von Peter Urban), die ebenfalls im Diogenes-Verlag erschienen sind, konnten mich für sich einnehmen.
Doch anscheinend sitz der Stachel immer noch recht tief in meinem Fleisch: Ich war ungefähr 20 Jahre alt, als ich mich an ANNA KARENINA von Leo Tolstoi wagte und mich bald kläglich überfordert fühlte. Alles an diesem Roman war mir zu groß, zu mächtig, zu emotional, zu schwülstig und hatte so ganz und gar nichts mit mir und meinem kleinen, unbedeutenden Alltag zu tun. Die Russen mit ihrer Literatur und ich – wir passten wohl nicht zusammen, und diese Haltung sollte sich über Jahre nicht ändern.
Doch nun hatte ich mich doch schon langsam aber stetig angenähert, und trotzdem überlegte ich mit Bedacht, ob ich diesen kriminalistischen Roman (Die Russen und Kriminalromane: Kann das gut gehen?) lesen sollte. Dann trat ich mir selbst – natürlich rein metaphorisch – in den Hintern und bat den Verlag um ein Rezensionsexemplar.
Die gottverlassene Provinzstadt Ostrog wird von einer Suizidserie von Jugendlichen im Waisenhaus erschüttert. Kommissar Alexander Koslow aus Moskau soll die Ermittlungen in die Hand nehmen, doch die örtliche Polizei hat ihre eigenen Theorien. Als Petja, ein Sonderling mit einem Herz für die Natur, verhaftet wird, glaubt Koslow nicht an dessen Schuld. Aber warum geriet Petja damals derart außer sich, als der Bürgermeister von Ostrog den Heimkindern einen Griechenland-Urlaub spendieren wollte?
(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)
Apropos „Hintern“: Ich bekam eben jenen nicht mehr aus dem Lesesessel heraus, nachdem ich mit der Lektüre begonnen hatte. Seite für Seite zog Sasha Filipenko mich immer tiefer in die Handlung hinein. Sein Ermittler Kommissar Alexander Koslow ist ein Sonderling, dem das Leben zwar die eine oder andere schmerzhafte Narben auf der Seele hinterließ, der sich aber bisher nicht hat brechen lassen und weiterhin seine Hoffnung im Herzen trägt. Es ist durchaus eine ambivalente Figur, die sich gerade aufgrund ihre Vielschichtigkeit meiner Sympathie sicher sein konnte.
Filipenko beschreibt die Ödnis einer Kleinstadt im russischen Nirgendwo so genau, dass diese deprimierende Atmosphäre beinah spürbar schien. Gleichgültigkeit prägt den Umgang der Menschen untereinander. Eine Gleichgültigkeit, die auch die ungewollten Kinder des Waisenhauses zu spüren bekommen – Kinder, die niemals eine Kindheit haben durften. Das Leben dieser Kinder ist ein einziger Überlebenskampf, ein Umstand, der sich für sie auch nicht ändern wird, sollten sie das Erwachsenenalter erreichen.
Unser zweiter Held Petja Pawlow ist eines dieser dem Waisenhaus entwachsenen Wesen. Unermüdlich versucht er in dem unwirtlichen Umfeld dieser tristen Kleinstadt seinen Platz zu finden. Er ist ein Phantast, ein Kindskopf, einer, bei dem das Glas stets halbvoll und nie halbleer ist. Er ist jemand, der, selbst nachdem er der brutalen Polizeiwillkür ausgesetzt war, seine positive Haltung zu den Menschen und zum Leben nicht verliert. Petja ist eine tragische Figur und gerade darum so liebenswert.
Zwischen diesen beiden (Anti-)Helden siedelt der Autor die weiteren Figuren der Handlung an, bei denen er überzeugend eine plakative Schwarz-Weiß-Zeichnung vermeidet. Auch die Handlung selbst entwickelt sich nicht stringent in eine einzige Richtung: Filipenko bricht sie auf, legt ihre losen Fäden mal hierhin und mal dorthin, um dann schlussendlich eine Lösung zu präsentieren, die im ersten Moment enttäuschend, doch vom psychologischem Standpunkt nachvollziehbar erscheint. Selbst eine sensationelle, aufsehenerregende Lösung des Falls wird diesem öden Kaff Ostrog nicht gegönnt.
Bei all dieser deprimierenden Trostlosigkeit und der wahrnehmbaren Melancholie, die mich als Leser durchaus hätte niederdrücken können, gelinkt Sasha Filipenko ein wunderbares Kunststück: Er umhüllt Figuren wie Handlung mit einem feinen Netz aus Humor, lässt sie dadurch leicht erscheinen und mildert so die Schwere hin zum Erträglichen.
Wenn ich nun behaupte, es wäre mir eine Freude gewesen, diesen Roman zu lesen, dann meine ich dies im wahrsten Sinn des Wortes: Ja, es war tatsächlich eine Freude!
