[Rezension] O. Henry – Das Geschenk der Weisen/ mit Illustrationen von Patrick James Lynch

„Ein Dollar und siebenundachtzig Cent.“ Della ist verzweifelt: Mehr als diese klägliche Summe konnte sie vom kargen Haushaltsgeld nicht abzwacken und zusammensparen. Dabei würde sie ihrem Jim so gerne ein ihm würdiges Weihnachtsgeschenk bereiten. In ihrer Verzweiflung und aus Liebe zu ihrem Gatten veräußert sie ihren wertvollsten Besitz: Sie geht zu einer Perückenmacherin und verkauft ihr langes, prachtvolles Haar. Den Erlös investiert sie in eine wunderbare Uhrkette. Endlich könnte Jim seine prächtige Taschenuhr, die bisher an einem schnöden Lederband baumelt, voller Stolz vorzeigen. Doch auch Jim möchte seiner Della einen langgehegten Wunsch erfüllen und hält für sie eine Überraschung bereit…!

Es gibt sie, die Geschichten, die meine Seele berühren und für alle Zeit einen Platz in meinem Herzen haben. Dabei trifft dies – zumindest bei mir – nicht auf die großen Geschichten der Literatur zu. Es sind nicht die epischen Romane, die einen immerwährenden Platz in meinem Gedächtnis einnehmen und beim bloßen Gedanken an sie ein Lächeln auf meinen Lippen zaubern. Nein, ganz im Gegenteil! Vielmehr sind es die kleinen, beinah belanglos anmutenden Geschichten, die ohne großes Tamtam auskommen, und in denen nicht wirklich viel passiert. Aber gerade diese Schlichtheit sickert tief in mein Innerstes, bewegt mich auf einer ganz zarten Weise und überwältigt mich mit einer Flut an Gefühlen.

Eine dieser Geschichten ist „Das Geschenk der Weisen“ von O. Henry. Dabei erschien es anfangs so, dass unsere Bekanntschaft nicht von langer Dauer sein würde. Unser erstes Zusammentreffen gestaltete sich wenig vielversprechend: Ich muss ungefähr 34 Jahre alt gewesen sein, als ich auf der Suche nach einer witzig-pfiffigen Weihnachtsgeschichte war, die ich auf einer entsprechenden Feier vortragen wollte. „Das Geschenk der Weisen“ ließ mich merkwürdig unberührt. Ich fand sie „nett“ – nicht mehr, nicht weniger – und wir wissen alle, was „nett“ in Wirklichkeit bedeutet. Das Buch verschwand damals auf unbestimmte Zeit wieder im Bücherregal.

Im Jahre 2015 plante ich nun unter dem Titel „Früher war mehr Lametta!“ meine erste Adventslesung, stöberte dazu durch die Regale mit meiner Weihnachtslektüre und stieß dabei wieder auf O. Henrys Erzählung. Ich las, und beim Lesen liefen mir unvermittelt die Tränen über die Wangen. Ich erkannte, dass ich als Mensch und Leser erst reifen musste, um für den Zauber dieser Geschichte empfänglich zu sein. Seitdem sind Della und Jim ständige Gäste bei meinen Advents- und Weihnachtslesungen. Und selbst wenn keine Lesung in meinem Kalender steht, greife ich zum Buch, um abermals ihrem Zauber zu erliegen.

„Ein Dollar und siebenundachtzig Cent.“ Mit diesem Satz beginnen sie alle – alle Übersetzungen, die mir bisher bekannt sind, und bekannt waren mir bisher sieben (!) Übersetzungen. Man findet diese wunderbare Weihnachtsgeschichte in vielen Anthologien, und jeder Verlag scheint bemüht, eine eigene Übersetzung vorzulegen. Doch Übersetzung ist nicht gleich Übersetzung: Manchmal sind es nur die kleinen Feinheiten, die Einfluss auf den Tonfall einer Geschichte nehmen und so eher dem persönlichen Gusto entsprechen. So favorisiere ich die Übersetzung von Theo Schumacher, die ich als erstes kennenlernen durfte. Dieser Umstand ist sicherlich darin begründet, dass ich diese Fassung schon so häufig gelesen und mir den Text für meine Lesungen „erarbeitet“ habe. Denn fairerweise sei erwähnt, dass die anderen Übersetzer*innen ihren Job nicht weniger gut gemacht haben.


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Vielleicht werdet Ihr Euch fragen, warum ich mir – wo ich schon sieben Übersetzungen mein Eigen nenne – nun noch ein Buch mit der achten Übersetzung zulege? Ganz einfach: Es sind die Illustrationen! Schon seit einiger Zeit schleiche ich um dieses Buch herum, ohne einen Blick hineinzuwerfen, aus Angst, ich könnte zum Kauf verführt werden. Denn rein rational betrachtet, brauche ich dieses Buch nicht. Doch schon die Illustration auf dem Cover hat eine magische Anziehungskraft auf mich: Zwei junge Menschen stehen in inniger Umarmung vereint. Ihre Körperhaltung zueinander drücken so viel Liebe und Zärtlichkeit aus.

In diesem Jahr konnte ich mich nicht länger beherrschen, bzw. ich hatte das Gefühl, dass ich in der momentan verrückten Zeit ein wenig Trost brauchte und wusste instinktiv, dass ich ihn beim Betrachten dieses Buches finden werde. Und so machte ich erstmalig die Bekanntschaft mit dem Talent des irischen Künstlers Patrick James Lynch, der schon Illustrationen für Kinderbücher, Märchen und klassische Geschichten kreiert und Plakate für Opernhäuser und Theater gestaltet hat. Seine Bilder zu O. Henrys Werk sind traumhaft und von einer atmosphärischen Dichte, wie ich sie vorher noch nicht gesehen hatte. Ein Blick, eine Geste, die Körperhaltung der Personen, die gewählte Bild-Perspektive und der Sepia-Ton der Bilder – dies alles steht immer im direkten Zusammenhang mit den Worten. Und trotz aller Melancholie war immer ein Schimmer der Hoffnung spürbar.

Da mir diese Geschichte so sehr vertraut ist, brauchte ich den Text nicht parallel beim Betrachten der Bilder zu lesen. Ich schaute mir nur die herrlichen Illustrationen an und ließ sie auf mich wirken. Wieder liefen mir Tränen der Rührung die Wangen hinab, und – Ja! – da verspürte ich auch ein wenig Trost!


Für alle, die nun auch die Bekanntschaft mit Della und Jim machen möchten, habe ich hier eine Liste der mir vorliegenden Fassungen zusammengestellt.

Geschichte enthalten in Anthologien mit Werken von div. Autor*innen:

  • Die Wunder zu Weihnachten. Geschichten, die glücklich machen / Übersetzung von Christine Hoeppener / erschienen im Insel Verlag
  • Nichts als Weihnachten im Kopf / Übersetzung von Regina Roßbach / erschienen im Kampa Verlag
  • Heller Stern in dunkler Nacht / Übersetzung von Elisabeth Schnack / erschienen im Arena Verlag
  • Das große Weihnachtsbuch / Übersetzung von Franziska Kleiner / erschienen im Eulenspiegel Verlag
  • Reclams Weihnachtsbuch / Übersetzung von Siegfried Schmitz/ erschienen im Reclam Verlag
  • Alle Jahre wieder / Übersetzung von Theo Schumacher / erschienen im Diogenes Verlag

Geschichte enthalten in Anthologien mit Werken von O. Henry:

Illustrierte Fassungen:

  • O. Henry: Das Geschenk der Weisen / mit Illustrationen von Lisbeth Zwerger / Übersetzung von Theo Schumacher (s.a. oben: Alle Jahre wieder) / erschienen im NordSüd Verlag
  • O. Henry: Das Geschenk der Weisen / mit Illustrationen von Patrick James Lynch / Übersetzung von Eva-Maria Altemöller / erschienen im Sanssouci Verlag

erschienen bei Sanssouci / ISBN: 978-3990560525 / in der Übersetzung von Eva-Maria Altemöller

Ein Kommentar zu „[Rezension] O. Henry – Das Geschenk der Weisen/ mit Illustrationen von Patrick James Lynch

  1. Hallo Andreas,

    wie recht du hast. Als Leser*in reift man und sieht so manche Geschichte bei erneutem Lesen mit anderen Augen und Emotionen.
    Die Geschichte um „Das Geschenk der Weisen“ sagte mir bis gerade noch gar nichts. Danke für die Empfehlung. Ich mag die klassischen Weihnachtsgeschichten auch sehr gern.

    Liebe Grüße
    Tina

    Gefällt 1 Person

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