[Rezension] Josephine Tey – EIN SCHILLING FÜR KERZEN

Er ist nun auch aus seinem Schlummer erwacht. Vielmehr wurde er vom Verlag wieder wachgeküsst, und da lag er nun vor mir – der letzte Fall von Inspector Alan Grant, mit dem der Oktopus Verlag das halbe Dutzend voll macht und die Serie abschließt. Wobei: Aufgrund der nicht nachvollziehbaren Veröffentlichungsstrategie des Verlages, bei der die Bände nicht chronologisch sondern wild durcheinander veröffentlicht wurden, handelt es sich bei EIN SCHILLING FÜR KERZEN zwar durchaus um den letzten Roman dieser Serie, der als Neu-Auflage das Licht der Bücherwelt erblickte, allerdings innerhalb der Serie haben wir es hier erst mit Alan Grants zweiten Fall zu tun.

Verwirrend?! Ja, durchaus! Doch dies ist leicht zu verschmerzen, da die Episoden alle für sich stehen, und die privaten Entwicklungen im Leben des Inspectors auch bei dieser „gemischten“ Reihenfolge trotzdem nachvollziehbar bleiben und somit die Freude an der Lektüre niemals schmälern.

Westover, ein beschauliches Städtchen an der Südküste Englands. Hier wird an einem klaren, sonnigen Morgen die berühmte Schauspielerin Christine Clay tot an den Klippen gefunden. Was zunächst nach Selbstmord oder einem Badeunfall aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Verdächtige gibt es wie Sand am Meer, allen voran der mittellose Tisdall. Er war zur Tatzeit vor Ort – und er profitiert von dem Tod des Weltstars: Kurz zuvor hat sie ihm ein stattliches Erbe zugedacht. Nachdem Tisdall spurlos verschwindet und ausgerechnet die Tochter des Polizeichefs ihn entlastet, wird der Fall noch mysteriöser: Wo war Clays Ehemann zur Tatzeit? Wie konnte die Astrologin Lydia ihren Tod vorhersagen? Und was hat der dubiose Bruder mit der Sache zu tun, dem Clay lediglich einen „Schilling für Kerzen“ vermachte? Inspector Alan Grant von Scotland Yard übernimmt den Fall, der bald zum Albtraum wird: zu viele Hinweise, zu viele Motive und zu viele Verdächtige, die der Schauspielerin nichts als den Tod wünschten…

 (Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Inspector Alan Grant: Ich habe diesen ruhigen, besonnenen Ermittler sehr zu schätzen gelernt und verspüre ein wenig wehmütigen Trennungsschmerz bei dem Gedanken, dass es keine weiteren neuen Begegnungen mit ihm geben wird. Umso dankbarer bin ich, dass Autorin Josephine Tey uns wenigstens sechs Romane mit ihm geschenkt hat, die einen so prägenden Eindruck hinterlassen haben, dass sie stets ihren Platz in der „Hall of Fame“ des goldenen Zeitalters der Kriminalliteratur behalten werden.

Alle bereits bei WARTEN AUF DEN TOD erwähnten Qualitäten der Autorin im Kreieren einer spannenden Geschichte hat sie hier nochmals verfeinert. Es schien mir, als hätte sie intensiv am Charakter unseres Hauptdarstellers gearbeitet und ihn weiter im Detail „ausgeformt“. Diese stetige Entwicklung unseres Helden führte sie übrigens konsequent in den Folge-Romanen fort und zeichnete so eine komplexe Figur voller Empathie und Menschlichkeit.

Doch bei EIN SCHILLING FÜR KERZEN hatte ich zudem den Eindruck, dass sie im besonderen Maße auch den Nebenfiguren ihre Beachtung schenkte und uns einen bunten Strauß praller Typen kredenzte. Da haben wir den scheinbar unschuldig verdächtigten Naiven: Robert Tisdall wird so offensichtlich sympathisch gezeichnet, dass ich nicht umhin kam, ihn zu verdächtigen (Ob er tatsächlich der Täter ist, wird hier nicht verraten.). Daneben wirkt Jammy „Knüller“ Hopkins beinah wie die Karikatur eines schmierigen Klatschreporters, der rücksichtslos unverfroren auftritt und dabei sehr amüsant ist. Zudem machen wir die erfreuliche Bekanntschaft mit einer äußerst patenten jungen Dame: Erica Burgoyne ist die 16-jährige Tochter des Chief Constable Colonel Burgoyne, die mit einer Menge Grips in ihrem Schädel und einem so gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet ist, dass sie sich von den Allüren der Erwachsenen nicht irritieren lässt. Doch auch Williams, der treue Assistent von Grant, bekam mehr Kontur und entpuppte sich als durch und durch feiner Kerl, der stets loyal hinter, vor oder neben seinem Chef steht – je nachdem, wo er gerade gebraucht wird.

Josephine Tey zählt für mich zu eine der ganz großen Kriminalautorinnen und braucht einen Vergleich mit populäreren Kolleginnen der schriftstellerischen Zunft wahrlich nicht fürchten. Umso mehr freut es mich, dass sie und ihre Werke verdientermaßen endlich wieder mehr Beachtung erfahren.


erschienen bei Oktopus (Kampa) / ISBN: 978-3311300731 / in der Übersetzung von Manfred Allié

[Rezension] Josephine Tey – WARTEN AUF DEN TOD

Angelehnt am Stil des klassischen „Whodunit“ gestaltete Josephine Tey dieses erste Auftreten ihres Ermittlers Inspector Alan Grant auf der literarischen Bühne. Dieser Kriminalroman, der im Jahre 1929 erschien, stand noch ganz unter dem Einfluss der rigiden Regeln des Detection Clubs. Im besagten Jahr versuchten Mitglieder des Detection Clubs mit ihren „Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman“, Richtlinien für den Kriminalroman aufzustellen. Diese Regeln wurden allerdings nicht von allen Mitgliedern des Clubs als seriös empfunden, teilweise wurden sie auch belächelt und für einen Scherz gehalten, und auch Tey selbst empfand sie als zu starr, zu einengend. Ihre Kriminalromane fallen dadurch auf, dass sie besagte Genreregeln bewusst brechen oder zumindest deren Grenzen ausreizen.

Ganz London, scheint es, steht vor dem Woffington-Theater Schlange. Nach zwei Jahren Spielzeit ist dies die letzte Woche von „Wussten Sie es nicht?“. Wer das legendäre Musical noch einmal sehen will, muss stundenlang vor der Theaterkasse ausharren. Als inmitten des Gedränges ein Mann ohnmächtig zusammensackt, weichen die Umstehenden erschrocken zurück: Aus seinem Rücken des Mannes ragt der Griff eines Dolchs. Der Unbekannte ist tot, heimtückisch erstochen in der Menschenmenge. Inspector Alan Grant von Scotland Yard, der mit den Ermittlungen beauftragt wird, sieht sich einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber: Nicht nur hat niemand der Anwesenden irgendetwas beobachtet, auch die Identität des Toten ist vollkommen unbekannt. Grant hält sich an die wenigen Indizien, die er hat – den altmodischen Typ des Dolchs, die Kleidungsstücke des Toten und die merkwürdige Mordmethode. Und er tut, was er am besten kann: Er nutzt die Kraft seiner Gedanken.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Schon in ihrem ersten Alan Grant-Roman zeigte sie alle Ingredienzien, die ich an ihrem Schreibstil so sehr schätze und lieben gelernt habe. Wieder staunte ich über den stringenten Aufbau der Geschichte, die intelligenten Dialogen und die schlüssigen Entwicklungen. Sehr detailreich lässt sie uns am inneren Monolog unseres Helden teilnehmen. Dabei schlägt sie bereits mit diesem Roman den „Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman“ ein Schnippchen: Der Verdächtige ist gefasst, und die Beweise sprechen deutlich dafür, dass nur er der Schuldige sein kann. Nun dürfte der Roman doch zufriedenstellend enden, oder?

Doch nein, denn da warteten locker noch weitere 70 Seiten auf mich als Leser. Verwundert blickte ich auf diese Menge an Papier, und mir schwante, dass das Ende nicht wie erhofft vorhersehbar sein würde. Da hatte ich durchaus so eine Ahnung, wer der wahre Täter (oder vielleicht auch: die wahre Täterin) sein könnte, und dann schlägt Tey auch mir ein Schnippchen, indem sie ein überraschendes aber alle Ungereimtheiten aufschlüsselndes Ende präsentiert. Grandios!

Val McDermid bezeichnete die Kriminalromane von Josephine Tey als das „Bindeglied zwischen den klassischen Detektivgeschichten des Golden Age und der Kriminalliteratur von heute.“. Indem sie immer wieder unkonventionelle Themen ansprach und mit festgefahrenen Lesegewohnheiten brach, hat sie ihren Kolleginnen wie z. Bsp. P.D. James und Patricia Highsmith den Teppich für deren kreative Schaffenskraft ausgerollt und den Weg geebnet, auch ungewöhnliche wie unbequeme Plots zu wagen.


erschienen bei OKTOPUS by Kampa / ISBN: 978-3311300557 / in der Übersetzung von Jochen Schimmang

URLAUBSLEKTÜRE 2024

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Sommer, Sonne, Sandstrand…!

In wenigen Tagen beginnen hier in Niedersachsen die Sommerferien und somit begeben sich viele meiner Mitmenschen auf eine urlaubsbedingte Völkerwanderung. Doch bevor es so richtig losgehen kann, stürzen sich einige freiwillig in den Vor-Urlaubs-Stress beim Abarbeiten div. To do-Listen: Da werden Klamotten zurecht gelegt, scheinbar unentbehrliche Utensilien zusammengestellt sowie Papiere und Unterlagen griffbereit platziert. Absprachen mit Nachbarn, Verwandtschaft oder Freunden werden getroffen, damit auch Tiere und/oder Zimmerpflanzen versorgt sind und der Briefkasten regelmäßig geleert wird. Ach, und hat jemand die Zeitung abbestellt? Die To do-Liste weist zu diesem Posten einen beruhigenden Haken auf, was ein erleichterndes Ausatmen zur Folge hat.

Allerdings zweifle ich ernsthaft daran, dass auf wirklich jeder To do-Liste einer der wichtigsten Posten verzeichnet ist:

🔲 sich mit ausreichend Urlaubslektüre in der Buchhandlung des Vertrauens eindecken

Doch was wäre ein Urlaub ohne eine unterhaltsame Urlaubslektüre? Es wäre wie BA ohne AB, wie Hila ohne Voku, wie Doof ohne Dick – genau, es wäre doof.

Ein Urlaub ohne Urlaubslektüre wäre einfach nur doof!

Darum habe ich es mir nicht nehmen lassen, aus den von mir gelesenen Büchern der vergangenen 12 Monate eine kleine, urlaubstaugliche Auswahl zu treffen. Da nehmen die Krimis unübersehbar den deutlich größten Raum ein. Aber ihr müsst zugeben: Krimi und Urlaub passen einfach sensationell gut zusammen!

Urlaubslektüre 2024-1

MORD AUF DER KREUZFAHRT von Nicholas Blake
🌈 EIN SPIEL ZUVIEL von P.D. James
WIE EIN HAUCH IM WIND von Josephine Tey

Urlaubslektüre 2024-2

🌈 NEUN LEBEN von Peter Swanson
LACROIX UND DIE TOTEN VOM PONT-NEUF von Alex Lépic
🌈 DER TWYFORD-CODE von Janice Hallett

Urlaubslektüre 2024-3

LEB WOHL, MISTER CHIPS von James Hilton
🌈 WER BRAUCHT SCHON WUNDER von Anne Müller
SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN von Siegfried Lenz

Und so gibt es neben den eher klassischen bzw. klassisch-angehauchten Kriminalromanen auch drei neuere Werke aus dem Genre der Spannungsliteratur zu entdecken. Trotzdem kann ich euch zu den Krimis auch noch zwei wunderbare Romane bieten, die mir beide – jeder auf seiner ganz besonderen Weise – sehr gefallen haben. Zu meinem letzten Vorschlag gibt es doch tatsächlich noch keine Rezension hier auf meinem Blog: Die Erzählungen in SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN von Siegfried Lenz lese ich gerade selbst, bin aber so begeistert von den entzückenden und warmherzigen Geschichten, dass ich sie euch nicht vorenthalten wollte.

Sowohl bei der Suche als auch bei der Beschaffung dieser oder einer anderen Urlaubslektüre ist Euch mit Freude die Buchhandlung Eures Vertrauens behilflich! 💖

Ich wünsche Euch einen wunderbaren Urlaub
mit viel Spaß beim entspannten Schmökern!!!

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[Rezension] Josephine Tey – WIE EIN HAUCH IM WIND

Mein „Bitte mehr davon!“, mit dem ich meine Rezension zu DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND beendete, scheint erhört worden zu sein. Es freut mich immer sehr, wenn Verlage auf meine Wünsche so prompt reagieren. Nein, Scherz beiseite: An mir lag es sicherlich nicht, dass die Werke von Josephine Tey wieder auf der großen literarischen Spielwiese aufgetaucht sind. Die Lorbeeren für diesen Umstand gebühren der Autorin ganz und gar alleine: Ihre Kriminalromane sind einfach so gut!

Mit Inspector Alan Grant schuf sie einen sympathischen Ermittler, der mit klarem, analytischem Verstand agiert und auch in kritischen Situationen seine noble Haltung nicht verliert. Diese Haltung ist so unumstößlich mit ihm verwurzelt, dass scheinbar nichts und niemand (selbst Vorgesetzte beißen sich die Zähne aus) sie erschüttern könnte. Womit Tey einen markanten Archetypen etablierte, der im Laufe der Jahrzehnte durchaus so einige „Nachkommen“ vorweisen konnte – von P.D. James „Chief Inspector Adam Dalgliesh“ bis zu „Inspector Thomas Lynley“ von Elizabeth George. Und auch diesmal hat unser tapferer Recke ein kniffliges Rätsel zu lösen…

Die Bewohner von Salcott St Mary haben es nicht leicht. In dem einst beschaulichen Dörfchen haben sich die überspanntesten Künstler*innen Londons angesiedelt: Lavinia Fitch, Autorin romantischer Frauenromane, Bühnenstar Marta Hallard und Miss Easton-Dixon, die jährlich ein Buch mit Weihnachtsmärchen veröffentlicht, sind noch die Harmlosesten. Hinzu kommen der zwar populäre aber sehr von sich eingenommene Rundfunkjournalist Walter Whitmore, der exzentrische Dramatiker Toby Tullis, der verbitterte Balletttänzer Serge Ratoff und der hasserfüllte Schriftsteller Silas Weekley. Der Besuch eines kalifornischen Starfotografen mischt die Künstler*innenkolonie gehörig auf: Alle sind sich einig, dass von Leslie Searle eine schier übermenschliche Attraktivität ausgeht. Und dann verschwindet der geheimnisvolle Schöne spurlos. Alan Grant, Inspector von Scotland Yard und enger Freund von Marta Hallard, wird hinzugezogen. Beinahe jede*r der schrulligen Künstler*innen hätte ein Motiv – und keine*r hat ein Alibi. Aber wer von ihnen wäre raffiniert genug für einen so ausgeklügelten Mord, dessen Opfer sich in Luft aufgelöst zu haben scheint?

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Ich liebe es, wenn ich merke, dass ein*e Autor*in präzise arbeitet und sich die nötige Zeit nimmt, um die Charakteristika der jeweiligen Figuren zu etablieren bzw. während der fortlaufenden Handlung weiter zu entwickeln. Da wird den Personen die nötige Zeit gewährt, um „atmen“ zu dürfen. Ihnen wird nicht „nur“ der Text in den Mund gelegt, vielmehr werden ihnen – neben kuriosen Marotten und allzu menschlichen Schwächen – ebenso bewundernswerte Stärken und charmante Charakterzüge zugestanden. Es wird ihnen sozusagen „Leben eingehaucht“.

Dies gelingt Josephine Tey so abwechslungsreich und vielschichtig, dass bei der Lektüre keinerlei Langeweile auftaucht. Ganz im Gegenteil: Plot und Figuren sind so prall und spannend kreiert, dass ich anfangs weder den Kriminalfall noch den Kriminalisten vermisste. Abermals bricht sie mit den traditionellen Krimi-Gewohnheiten, indem sie weniger der eigentlichen Tat als vielmehr dem inszenierten Handlungsrahmen den nötigen Raum zur Entfaltung bietet. Sie lässt uns direkt am Geschehen teilhaben. Wir sind als stille Beobachter direkt vor Ort und somit gegenüber unserem Helden im Vorteil. Oder sollte ich sagen „scheinbar im Vorteil“? Obwohl wir alles „gesehen und gehört“ haben, verfügen wir nicht über die brillanten analytischen Kompetenzen von Inspector Alan Grant, um aus den vielen Einzelteilen ein stimmiges Gesamtbild zu zaubern. Wie gut, dass wir solche Kompetenzen nicht besitzen, denn ansonsten bräuchten wir diesen Krimi nicht zu lesen.

Ebenso, wie ich die Präzision der Autorin liebe, erfreue ich mich immer wieder gerne an wunderbare Frauen-Porträts, die zur Entstehungszeit des Romans weit entfernt vom gängigen Klischee waren und somit nicht dem damaligen Frauenbild entsprachen. Tey etablierte eine Schar sehr selbstbestimmter, emanzipierter Frauen – allen voran die aparte Schauspielerin Marta Hallard, die glücklicherweise zum wiederholten Male ein Gastspiel neben Alan Grant geben durfte. Doch es taucht noch ein weiteres interessantes Frauen-Profil in diesem Roman auf: Einzelheiten werden nicht verraten, da diese für die Handlung von entscheidender Bedeutung sind und somit viel von der Spannung nehmen würden.

Apropos Spannung: Ich hoffe, dass ich nicht allzu viel verrate, wenn ich erwähnen, dass dieser Krimi – ähnlich wie schon bei NUR DER MOND WAR ZEUGE und ALIBI FÜR EINEN KÖNIG – gänzlich ohne Leiche auskommt. Nun mag sich vielleicht die eine oder der andere aus meiner Leserschaft fragen „Ist ein Krimi ohne Leiche überhaupt ein Krimi?“, denen rufe ich voller Überzeugung zu…

„Aber natürlich, und dies sogar ganz und gar famos!“


erschienen bei Oktopus (bei Kampa) / ISBN: 978-3311300564 / in der Übersetzung von Manfred Allié
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Josephine Tey – DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND

Okay, du hast mich am Haken. Du hast deinen schmackhaften Köder ausgeworfen, und ohne nachzudenken habe ich zugeschnappt und hänge nun am Haken. Ich zapple zwar noch ein wenig hin und her – gänzlich ohne Gegenwehr kann ich mich doch nicht ergeben – aber wir wissen beide genau, dass ich rettungslos verloren bin.

Mit jedem weiteren gelesenen Roman von Josephine Tey, verfalle ich dieser Autorin mehr und mehr. Dabei sind ihre Krimis einerseits absolut „old-fashioned“ und gleichzeitig so wunderbar zeitlos. Zudem schuf sie mit Inspector Alan Grant einen solch bodenständigen und menschlichen Sympathieträger, der gänzlich ohne „Superkräfte“ auskommt, herrlich normal agiert und so deutlich näher an der Leserschaft ist als mancher der beinah übernatürlich brillanten Schnüffler wie Hercule Poirot oder Sherlock Holmes.

Inspector Alan Grant von Scotland Yard reist mit dem Zug nach Schottland. Gemeinsam mit einem alten Schulkameraden will er in den Highlands eine Auszeit nehmen, die herrliche Land­schaft genießen und sich von der, im Wortlaut seines Arztes, „Überarbeitung“ erholen. Kurz vor der Ankunft beobachtet Grant, wie es dem Schaffner im Abteil nebenan nicht gelingen will, einen Mitreisenden zu wecken – der Mann ist tot! Fast freut sich Grant ein bisschen, einmal nicht zuständig zu sein. Doch beim ersten Frühstück im Hotel fällt ihm eine Zeitung in die Hände, die er im Zug eingesteckt haben muss und die offenbar dem Toten gehörte. Ein rätselhaftes Gedicht, zwischen die Meldungen gekritzelt, weckt Grants detektivisches Interesse. Ob sich anhand der Handschrift und der merkwürdigen Verse etwas über die Identität des Mannes herausfinden lässt? Was als munterer Zeitvertreib beginnt, wird allmählich zu einer umfassenden Ermittlung, bei der Grant nicht nur das Gedicht entschlüsselt, sondern schließlich auch die Wahrheit über den Mord aufdeckt.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Seit Alibi für einen König bin ich ein Fan von diesem intelligenten und integren Ermittler, der mit nur allzu menschlichen Eigenschaften bzw. –arten ausgestattet ist. Sein Sinn für Humor überschneidet sich erfreulich häufig mit meinem Sinn für Humor. So sorgte er mit seinen ironisch-spöttischen Bemerkungen bei mir nicht nur einmal für ein spontanes Gelächter. Ebenso wie Josephine Tey die Handlung sich beinah organisch entfalten lässt, so gönnt sie auch den Dialogen ihre natürliche Entwicklung. Alles baut aufeinander auf, und bleibt gleichzeitig recht unspektakulär. So lässt Tey ihren Helden viel angeln, viel wandern und auch sonst sich viel in der Natur aufhalten – und dies geschieht seitenweise…! Nicht unbedingt die typische Vorgehensweise für eine Krimi-Autorin, um Spannung aufzubauen.

Doch warum legte ich das Buch nicht gelangweilt zur Seite? Weil – wie schon erwähnt – alles aufeinander aufbaut, und die Spannung eben genau aus dieser scheinbaren Belanglosigkeit heraus entsteht: Eben noch las ich die harmlose Beschreibung der Natur-Idylle, wenige Sätze weiter offenbarten sich entscheidende Hinweise für die Lösung des Falls. Zudem glänzt sie mit ihrer Figuren-Charakterisierung und überzeugt mit einer unterhaltsamen Beziehungsstruktur der handelnden Personen. Wie der titelgebende Zug, der nach einem Halt am Bahnhof erst langsam wieder die Geschwindigkeit erhöht, lässt sie auch die Handlung nur ganz gemächlich Tempo aufnehmen. Mir blieb somit nichts anderes übrig, als weiterzulesen.

Erstaunt war ich zudem, wie präzise und gleichzeitig respektvoll sie die „Überarbeitung“ unseres Helden beschreibt, der eindeutig Symptome eines Burnouts zeigt. Für das Entstehungsjahr des Buches (1952) war dies eine absolut moderne Sichtweise auf eine psychische Erkrankung. Chapeau!

Abermals war es mir ein großes Vergnügen, den Krimi einer Autorin, die viel zu lange unbeachtet blieb, zu lesen, der erfreulich unblutig daherkam, bar jeglicher billigen Effekthascherei war aber dafür durch eine gekonnte Erzählweise überzeugte. Bitte mehr davon!


erschienen bei Oktopus (bei Kampa) / ISBN: 978-3311704546 / in der Übersetzung von Manfred Allié

[Rezension] Josephine Tey – ALIBI FÜR EINEN KÖNIG

Inspector Alan Grant vom Scotland Yard liegt nach einem berufsbedingten Unfall mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus, starrt zur Decke und langweilt sich. „Von Hundert auf Null“ wurde er aus seinem aktiven Berufsleben in die stupide Monotonie eines Krankenhausalltags katapultiert. So fühlt er sich äußerst nutzlos, was sich deutlich auf seine Laune auswirkt. Diese wird zunehmend schlechter – sehr zum Leidwesen des Pflegepersonals und seines Besuchs. Dabei versucht besonders die reizende Marta Hallard ihn mit dem neusten Klatsch und Tratsch aus der Welt des Theaters (Schließlich ist sie eine gefragte Schauspielerin.) zu unterhalten. Aber selbst die Histörchen über ihre junge Kollegin, die sich auf der letzten Amerika-Tournee den Erben eines Haushaltswaren-Imperiums geangelt hat, und der ihr über den großen Teich bis nach London gefolgt ist, können ihn nicht zerstreuen. Und so appelliert Marta an den kriminalistischen Instinkt von Grant, der sich in der Vergangenheit besonders durch das Studieren von Gesichtern hervorgetan hat, und liefert ihm eine Sammlung von Porträts zeitgenössischer wie historischer Persönlichkeiten. Eher lustlos blättert Grant durch die Porträts, bis das Bild von Richard III ihn in seinen Bann zieht. König Richard III regierte das Land von 1483 bis zu seinem Tod im Jahre 1485, und „Dank“ der Tragödie aus der Feder von William Shakespeare wird er als skrupelloser Machtmensch gesehen, der angeblich rücksichtslos seine beiden minderjährigen Neffen tötete, nur um sich weiterhin den Thron zu sichern. Grants Interesse ist geweckt. Doch die Ausbeute an Geschichtsbüchern, die ihm das Pflegepersonal zur Verfügung stellen kann, deckt nur notdürftig seinen Wissensdurst – im Gegenteil: Vielmehr keimt in Grant der Verdacht, dass der König zu Unrecht verschmäht wurde. Da kommt Marta auf die glorreiche Idee, ihm Brent Carradine, eben jenen Erben eines Haushaltswaren-Imperiums, an die Seite zu stellen. Carradine ist momentan chronisch unterbeschäftigt und gerne bereit unter der Führung von Grant im British Museum zu recherchieren. Beide Männer stürzen sich mit Elan in die Aufgabe und graben Erstaunliches zu Tage…!

Hinter dem Pseudonym Josephine Tey versteckt sich die schottische Autorin Elizabeth MacKintosh, die sehr zurückgezogen lebte und öffentliche Auftritte scheute. Vielmehr ließ sie ihre Kriminalromane für sich sprechen. „Alibi für einen König“ belegt Platz 1 auf der Liste der 100 besten Kriminalromane der Autorenvereinigung „Crime Writers’ Association“ und wurde im Jahre 1969 mit dem „Grand prix de littérature policière“ geehrt. Dabei ist auch dieser Roman – wie auch schon Nur der Mond war Zeuge – wahrlich kein typischer Kriminalroman.

Tey verzichtet gänzlich auf die bekannten Zutaten eines klassischen Krimis. Vielmehr spielt der gesamte Roman ausschließlich im Krankenzimmer von Alan Grant und zieht seine Spannung aus den Dialogen der handelnden Personen. Humorvoll stellt Tey hier die unterschiedlichen Charaktere unserer beiden Helden gegenüber: Während Grant diesen „Fall“ eher analytisch aus der Sicht des erfahrenen Kriminologen betrachtet, lässt Carradine sich gerne von seinem jugendlichen Elan leiten.

So lässt Tey ihren Hauptprotagonisten bzw. seinen Kompagnon sich durch die Standardwerke der britischen Geschichte ackern und scheut – ganz im Sinne der Wahrheitsfindung – nicht davor zurück, Widersprüchliches aufzudecken und Ungereimtheiten offenzulegen.

Da ich kein Fachmann in Bezug auf die britische Geschichte bin, nehme ich die genannten Fakten, historischen Tatsachen und literarischen Verweise als authentisch hin. So kann ich über die Fülle der Zitate, die von der Autorin scheinbar akribisch recherchiert wurden, nur staunen und ihr dafür meine Hochachtung aussprechen.

Damit dieser Krimi nicht zu einer langweiligen wie auch langatmigen Unterrichtsstunde zur britischen Geschichte verkommt, erfreut die Autorin uns mit markanten Protagonist*innen, die durchaus den gängigen Klischees der Entstehungszeit des Romans entsprechen. Doch dies betrachte ich weniger als Nachteil. Vielmehr trägt dieser Umstand zum liebenswerten Flair dieses Krimis bei, zumal Tey ihre Held*innen charmant porträtiert und in sowohl amüsanten wie auch geschliffenen Dialogen miteinander agieren lässt.

Ich bin so froh, dass, neben all den Ostfriesenmördern und skandinavischen Psycho-Killern, die klassische Kriminalliteratur seit einiger Zeit eine Renaissance erfährt und (hoffentlich) weiterhin einen sicheren Platz bei rührigen Verlagen, im Buchhandel und somit auch im heimischen Bücherregal findet.


erschienen bei Oktopus bei Kampa) / ISBN: 978-3311300359 / in der Übersetzung von Maria Wolff
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!