LESE-HIGHLIGHTS 2021…

Schon wieder ist ein Jahr (beinah) vorüber! Schon wieder geht ein Jahr mit Corona zu Ende!

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich mag manchmal nichts mehr davon hören!!! Bitte missversteht mich nicht: Natürlich höre ich weiterhin zu. Natürlich informiere ich mich weiterhin. Und natürlich ist die Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen (incl. Impfung) für mich als Krankenpfleger eine  Selbstverständlichkeit. Doch ich bin auch müde…!

Dieses Thema hat unseren Alltag so sehr durchseucht, dass ich mir dies lieber für unsere Gesellschaft wünschen würde. So brauche ich hin und wieder meine kleinen Flucht-Inseln, um aufzuatmen und die Akkus wieder aufladen zu können. Bin ich dort angekommen, darf ich Corona einfach mal vergessen. Eine dieser Flucht-Inseln ist jedes Mal der Besuche eines Theaters für mich: Auf dem Weg dorthin – quasi bis zu meinem Sitzplatz – ist Corona selbstverständlich sehr präsent. Doch sobald der Vorhang sich hebt, und das Orchester die ersten Takte der Ouvertüre anstimmt, vergesse ich alles um mich herum…!

Eine andere wichtige Flucht-Inseln ist nach wie vor das Lesen für mich. Und ich bin so dankbar, dass mich die Liebe zum Lesen über all die Jahre, all die Jahrzehnte nicht verlassen hat. Wie könnte sie auch: Jahr für Jahr gibt es wieder und wieder wunderbare Lektüre – mal neuerem Datums, mal ein Klassiker – für mich zu entdecken. Und auch in diesem Jahr war meine „Ausbeute“ wieder sehr abwechslungsreich.


Im Februar fiel mir Roberto Camurris Der Name seiner Mutter vor die Füße: Die Protagonisten – Vater und Sohn – schweigen viel und sagen damit doch einiges aus. Und gerade das Unausgesprochene sorgt für Spannung und Dramatik aber auch für Melancholie.

Als Fan des Films „Es geschah am hellichten Tag“ war ich im März sehr gespannt auf Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt. Dieses „Requiem auf den Kriminalroman“ entstand nach seinem Mitwirken am Film-Drehbuch, und er nutzte so die Gelegenheit, die Geschichte ganz nach seinem Gusto zu erzählen.

Ebenfalls im März entzückte mich das Bilderbuch Die Tode meiner Mutter von Carla Haslbauer: Kein Wunder! Als eifriger Theatergänger und Opernliebhaber traf mich diese reizende Geschichte mitten ins Herz.

Im April entdeckte ich mit kindlicher Freude meine Lust am Hörspiel für mich neu. Dank einiger wunderbarer Adaptionen nach Romanen der „Queen of Crime“ verbrachte ich etliche kuschelige Stunden vor dem CD-Player und lauschte tollen Sprecher*innen. Neben Zeugin der Anklage und Tod im Pfarrhaus waren noch einige andere bekannte Werke von Agatha Christie vertreten und lohnten eine Doppelfolge an Rezension.

Der Mai brachte mir die Bekanntschaft mit einer außergewöhnlichen Katze: In ihrer berührenden Geschichte Ruthchen schläft zeigt uns Kerstin Campbell, dass Blut nicht unbedingt dicker als Wasser sein muss, sondern dass auch durch die Verbundenheit einer Wahlfamilie Unwegsamkeiten bewältigt werden können.

Im Juni löste Fabian Neidhardt mit Immer noch wach eine wahre Tränenflut bei mir aus: Solch eine  berührend-traurige und gleichzeitig lebensbejahende Geschichte hatte ich schon seit längerem nicht mehr gelesen.

Im September erfreute ich mich an Hoppla! Neue Geschichten für andere Zeiten von Andere Zeiten e.V., eine Initiative zum Kirchenjahr, und sorgte mit seinen positiven Texten für einige Wohlfühlmomente bei mir.


…und hätte ich es geschafft, diese beiden Romane nicht nur zu beginnen sondern auch zu beenden, dann zählten sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch zu meinen Lese-Highlights des Jahres: Im Wasser sind wir schwerelos von Tomasz Jedrowski und Der Tod und das dunkle Meer von Stuart Turton trafen irgendwie zum falschen Zeitpunkt bei mir ein: Auf beide Romane hatte ich mich im Vorfeld sehr gefreut. Doch nach nur wenigen Kapiteln musste ich sie leider wieder aus der Hand legen. Ein Umstand, der nichts über die literarische Qualität der Romane aussagt, sondern nur meiner in dem Moment vorherrschenden Verfassung geschuldet war. Aber – Hey! – Neues Jahr! Neue Chance!


So endet der Jahresrückblick mit meinen Lesehighlights zwar durchaus mit einem Hauch Wehmut aber nicht ohne Hoffnungsschimmer am Horizont. Auch im kommenden Jahr darf ich mir sicher sein, dass es für mich weitere Flucht-Inseln zu entdecken gibt: Für das Frühjahr sehen sowohl die Vorschauen der Verlage wie auch die Spielpläne der Theater sehr, sehr verführerisch aus.

Ich wünsche Euch ein einen guten Rutsch und für das Neue Jahr 2022 nur das Allerbeste!

[Rezension] Roberto Camurri – Der Name seiner Mutter

Wenige Monate nach seiner Geburt verschwindet Pietros Mutter aus dem Leben von ihm und seinem Vater Ettore – ohne Abschied, ohne Grund, plötzlich und ohne Vorwarnung. Seitdem wird geschwiegen, ihr Name nicht ausgesprochen. Selbst Ester und Livio, die Eltern seiner Mutter, sprechen nicht über ihre Tochter. Weder bei ihnen noch bei Ettore finden sich Fotos, Briefe oder sonstige Beweise, dass sie wirklich gelebt hat, vielleicht immer noch lebt, irgendwo. So wächst Pietro voller Unsicherheiten auf, fühlt sich unvollkommen, beinah leer und ist sich nie seiner Gefühle ganz sicher. Ettore versucht ihm ein guter Vater zu sein und ist doch immer nur die Hälfte eines Ganzen. Erst als Pietro selbst Vater wird, muss er erkennen, dass seine Mutter ganz nah bei ihm ist, auch immer ganz nah bei ihm war und erfährt endlich ihren Namen.

Wie ein heißer Sommertag rollte die Handlung über mich hinweg. Geradezu körperlich spürte ich die Schwere der unausgesprochenen Worte zwischen den Protagonist*innen und litt beinah gemeinsam mit Pietro, der zu verstehen versuchte. Hier verschwindet eine Frau aus der Mitte ihrer Familie, aus der Mitte ihres sozialen Umfelds und hinterlässt scheinbar kein Lebenszeichen, keine Spuren.

Ihr Sohn wächst mit dem Gefühl der Unvollkommenheit auf: Es fehlt ein wichtiger Mensch in seinem Leben, dessen „Nichtvorhandensein“ einen immensen Einfluss auf seine Entwicklung nimmt. Diese Lücke kann nur schwerlich geschlossen werden. Vielmehr klafft sie wie eine Wunde, heilt nur oberflächlich und wird bei der kleinsten Erschütterung des Lebens wieder aufgerissen. Pietros Fragen bleiben unausgesprochen und somit unbeantwortet, dafür keimen Gefühle von Schuld bei ihm auf: „Ist sie gegangen, weil es mich gibt?“

Autor Roberto Camurri konfrontiert uns in seiner Geschichte mit einer Melancholie, die nicht leicht dahinfließt sondern satt und schwer daherkommt. Er schafft eine fiebrige Spannung, da er seine Leserschaft an der inneren Zerrissenheit der Figuren teilhaben lässt. Seine Figuren sind ambivalent, sowohl Täter als auch Opfer, sowohl schuldig als auch unschuldig, sind menschlich und machen somit Fehler. Er lässt sie kaum in der direkten Rede sprechen und gönnt uns so einen wohltuenden Abstand, der bei aller Dramatik ein befreiendes Aufatmen möglich macht. Dabei schenkt er uns mit seiner wohl durchdacht eingesetzten Sprache Bilder voller Atmosphäre.

Dieser Roman wirkte auf mich wie ein schwüler Sommerabend: heiß, stickig, kaum erträglich – bis am Schluss ein Gewitter für die erleichternde Frische sorgt, und ein zartes Happy End am Horizont zu erahnen ist.


erschienen bei Kunstmann/ ISBN: 978-3956144325

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!