[Operette] Franz Lehár – DIE LUSTIGE WITWE / Stadttheater Bremerhaven

Operette von Franz Lehár / Libretto von Victor Léon und Leo Stein

Premiere: 3. Februar 2024 / besuchte Vorstellungen: 08.02., 28.04. & 12.05.2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Hartmut Brüsch / Davide Perniceni (28.04.)
INSZENIERUNG Isabel Hindersin
BÜHNE & KOSTÜME Tanja Hofmann
CHOREOGRAFIE Rosemary Neri-Calheiros
DRAMATURGIE Markus Tatzig
CHOR Mario Orlando El Fakih Hernández
LICHT Frauke Richter

REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG Annika Ellen Flindt
CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Lucia Giarratana
INSPIZIENZ Regina Wittmar


Na? Gelüstet es euch manchmal auch nach einer großen Portion Schmalz? Einige schauen sich mit einer Familienpackung Papiertaschentücher bewaffnet drei Rosamunde Pilcher-Verfilmungen nacheinander oder mehrere Staffeln „friends“ in Folge an, andere werfen eine Schlager-CD in den Player und erklären lautstark „Schuld war nur der Bosa Nova!“ oder behaupten vehement „Er gehört zu mir!“.

Sollte ich hingegen ein unbändiges Verlangen nach Schmalz verspüren, stille ich dieses gerne, indem ich mich auf den Weg ins Theater mache, um mich dank eines passenden Stücks in Unmengen Schmalz zu wälzen, zu suhlen, zu ertränken,…

…und wenn dann noch mit DIE LUSTIGE WITWE ein wahrer Schmacht-Fetzen aus dem Operetten-Himmel auf dem Programm steht, dann ist mein Glück perfekt, und ich gebe mich diesem Zustand hemmungslos hin. ACHTUNG: Jede Störung wird gnadenlos geahndet!

HINWEIS: Die obige Aufnahme stammte nicht aus der besprochenen Inszenierung sondern dient nur dazu, einen Eindruck von der Musik zu vermitteln. 

Es gibt so viele wunderbar unterhaltsame Werke im Operetten-Repertoire, doch zum (ungekrönten) Königspaar würde ich zwei Werke wählen. Da gibt es einerseits DIE FLEDERMAUS (1874) von Johann Strauß, die pikant-frivol die Bigotterie des gehobenen Bürgertums auf den Arm nimmt, andererseits DIE LUSTIGE WITWE (1905) von Franz Lehár, die äußerst amüsant die Eitelkeit der Männer bloßlegt. Beiden Operetten ist gemein, dass sie mit präsenten Frauen-Porträts aufwarten und die sogenannten „Herren der Schöpfung“ recht blass aussehen lassen.

Im pontevedrinischen Gesandtschaftspalais in Paris wird fröhlich der Geburtstag des Fürsten gefeiert. Nur Baron Mirko Zeta ist besorgt. Die junge reiche Witwe Hanna Glawari soll demnächst eintreffen. Sollte sie nun einen Pariser zum neuen Mann nehmen, so würde der finanziell schlecht dastehende pontevedrinische Staat nicht mehr von ihrem Geld profitieren. Daher plant Baron Zeta, den Gesandtschaftssekretär Graf Danilo Danilowitsch mit Hanna Glawari zu verkuppeln. Doch Graf Danilo vergnügt sich lieber im „Maxim“ mit den aufreizenden Grisetten und muss erst durch Njegus, dem Assisteneten des Barons, in den Gesandtschaftspalais geschleppt werden. Als Hanna Glawari erscheint, sind gleich alle von ihr angetan. Sie ist sich allerdings durchaus bewusst, dass die anwesenden Herren sie nur wegen ihres Geldes begehren. Graf Danilo kommt müde vom nächtlichen Treiben im „Maxim“ zum Fest. Er kennt Hanna von früher und hätte sie damals auch gerne geheiratet, wenn nicht sein Onkel dagegen gewesen wäre. Dieser fand die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Hanna nicht standesgemäß. Doch Danilo liebt Hanna immer noch, zeigt dies nicht, denn sie soll nicht glauben, dass er sie nur wegen ihres Reichtums begehrt. Darum lehnt er auch Baron Zetas Verkuppelungsversuch ab. Valencienne, Zetas junge Frau, hat ihren Fächer verloren, auf dem ihr Verehrer Camille de Rosillon eine Liebeserklärung geschrieben hat. Zu allem Unglück gerät der Fächer in die Hände ihres Ehemannes, der aber nicht ahnt, dass er seiner Frau gehört. Bei der Damenwahl wählt Hanna Danilo als ihren Tänzer, was er jedoch ablehnt. Er bietet diesen Tanz für 10.000 Francs zum Verkauf an. Die anwesenden Herren sind brüskiert und suchen das Weite. Endlich ist er mit Hanna allein und überredet sie zum gemeinsamen Tanz. Am darauffolgenden Tag hat Hanna die Gesellschaft in ihr Palais zu einem pontevedrinischen Fest geladen. Ihr ist bewusst geworden, dass sie Danilo immer noch liebt. Doch dieser verhält sich weiterhin reserviert und versucht zudem herauszufinden, wem der Fächer mit der Liebeserklärung gehört. Durch einen Zufall gelangt der Fächer aber wieder in die Hände von Valencienne. Sie bittet Camille de Rosillon, er möge doch um Hanna Glawari werben. So wunderbar ihre gemeinsamen Träumereien auch seien, sie ist schließlich verheiratet: Als anständige Frau würde sie seinem Werben nie nachgeben. Camille bittet zum Abschied um ein letztes Treffen in einem kleinen Pavillon. Baron Zeta hat die beiden heimlich beobachtet und lässt den Pavillon öffnen. Doch gemeinsam mit Camille tritt Hanna heraus. Um Valencienne nicht zu kompromittieren, hat sie schnell ihren Platz eingenommen. Als sie dreist verkündet, dass sie sich mit Camille de Rosillon verloben werde, kann Danilo seine Eifersucht nicht mehr verbergen. Nun erkennt Hanna deutlich, dass Danilo sie immer noch liebt. Wütend flüchtet er in sein geliebtes „Maxim“. Hanna lässt den Saal in ihrem Palais mit Unterstützung von Njegus nicht nur in das „Maxim“ verwandelt sondern hat auch das komplette Ensemble engagiert. So gelingt es ihr, Danilo wieder in ihre Nähe zu locken. Baron Zeta ist noch immer in großer Sorge um die Millionen der Glawari, denn wenn Hanna den Pariser Camille de Rosillon heiratet, ist der pontevedrinische Staatsbankrott nicht mehr abzuwenden. Danilo appelliert an Hannas Vaterlandsliebe, doch die hatte ohnehin nie vor, einen Franzosen zu heiraten. Sie klärt Danilo über die prekäre Situation im Gartenpavillon auf. Doch leider erfährt auch Baron Zeta davon und fordert von Valencienne die sofortige Scheidung. Jetzt, wo er frei ist, könnte er selbst Hanna Glawari heiraten. Diese klärt alle Anwesenden über eine pikante Klausel im Testament ihre verstorbenen Mannes auf: Im Falle einer neuerlichen Heirat würde sie das gesamte Vermögen verlieren. Endlich gesteht ihr Danilo seine Liebe, denn jetzt kann Hanna ihm nicht mehr vorwerfen, dass er sie nur ihres Geldes wegen heiraten möchte. Doch Hanna hat noch eine weitere Überraschung parat: Zwar würde sie das Vermögen verlieren, allerdings ginge es über in den Besitz ihres neuen Ehemanns. Auch Baron Zeta muss seiner Gattin Abbitte leisten. Valencienne hat ihn auf ihre Antwort aufmerksam gemacht, die sie unter der Liebeserklärung auf dem Fächer hinterlassen hat. Dort steht deutlich geschrieben: „Ich bin eine anständige Frau“.

Es war wieder einer der Abende, an dem sich schon beim Klang der ersten Töne aus dem Orchestergraben ein penetrant-permanentes Dauergrinsen auf meinem Gesicht einnistete und mich grenzdebil erscheinen ließ. Doch ich konnte nichts dagegen tun, bzw. ich wollte nichts dagegen tun. Bereits bei der Ouvertüre begann Hartmut Brüsch mit dem Philharmonischen Orchester Bremerhaven auch noch das letzte Quäntchen Schmalz aus der Partitur zu kitzeln. Da erklangen Lehars Kompositionen so herrlich schwelgerisch und schmissig. Dann ließ er die bekannten Melodien wieder erfrischend schlank erklingen, um bei einige Arien diese beinah Couplet-artig zu umschmeicheln.

Ebenso schlank – beinah entschlackt – zeigte sich die Inszenierung von Isabel Hindersin. Hindersin sah sich anscheinend die Vorlage (s.a. die obige Inhaltsangabe) sehr genau an, entdeckte Widersprüche darin und bemühte sich, diese auszumerzen. Die Vorlage bietet Porträts von selbstbewussten Frauen, die dann im entscheidenden Moment doch wieder nur den männlichen Ansprüchen genügen. Dieser Umstand wirft Fragen auf. Ein Beispiel: Bleibt Hanna Single, kann sie eigenständig über ihr Erbe verfügen; heiratet sie, dann fällt das Erbe an ihren neuen Ehemann. „Hä?“ (unverständliches Kopfschütteln) Jede kluge Frau würde unter diesen Umständen eine „wilde“ Ehe vorziehen. Solche unzeitgemäßen Ungereimtheiten finden sich öfter in diesem Stück und sind natürlich dessen Entstehungszeit geschuldet. Bei Hindersin behauptet Hanna einfach, sie hätte ihr Erbe schon ausgegeben, somit ist das Objekt der allgemeinen männlichen Begierde nicht mehr existent, was das Verhalten der Herren ad absurdum führt. Auch Valenciennes Fächerbekenntnis „Ich bin eine anständige Frau“ wird von ihrem Gatten ignoriert, der sich ihrer nur allzu schnell entledigt, um sich dann der scheinbar reichen Witwe anbiedernd vor die Füße zu werfen. Warum sollte sie loyal gegenüber einer solchen Kanaille sein, wenn sie sich stattdessen der Liebe des feschen Camille de Rosillon sicher sein kann? Selbst das schmissige von den Herren vorgetragene „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“ erhält eine Frischzellenkur, indem die Damen sich einmischen mit „Das Studium der Männer ist schwer“, was zu einem gemeinsamen „Das Studium der Menschen ist schwer“ gipfelt und somit implementiert, dass es durchaus auch Menschen mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität gibt. Damit verleiht die Regisseurin den Figuren einen Hauch Realismus, der durchaus auch Raum für Tragik und Trauer bietet. Sie befreit so die Charaktere aus dem gängigen klischeehaften Operetten-Korsett. Für die ersten beiden Akte findet sie – auch für die Modernisierungen – eine stringente Erzählweise. Der dritte Akt wirkte dagegen auf mich etwas zerfasert in seiner Struktur.

Auch Tanja Hofmann spendierte der Ausstattung diesen Hauch Realismus. Die pontevedrinische Botschaft hat schon deutlich bessere Zeiten erlebt: Da blättert der Putz von den Wänden, und die Gäste müssen aufpassen, dass sie von herunterstürzenden Dekorationsteilen nicht getroffen werden. Es wirkt eher wie ein in die Jahre gekommenes Vereinsheim „irgendwo im Nirgendwo“ auf dem Lande. Hannas Palais hingegen fungiert als eine Art Spiegelkabinett, als wolle es die Protagonist*innen zwingen, einen offenbarenden Blick in den Spiegel und somit hinter die Fassaden zu werfen. Für den 3. Akt kreiert Hofmann diesen einzigartigen Pariser Flair: Hier dürfen sich Valencienne und Camille zum Tête-à-Tête in eine Litfaßsäule aka Pavillon zurückziehen, und unsere Held*innen finden am Fuße des Eifelturms unterm funkelnden Sternenhimmel endlich zueinander. Auch bei den Kostümen beweist Tanja Hofmann Raffinesse und Chic. Sie kleidet die Figuren so stimmig und geschmackvoll, dass die Garderobe schon auf den jeweiligen Charakter schließen lässt. Einzig beim wunderbaren Paris-Bild bewies sie leider bei den Kostümen für Ballett und Chor weniger Gespür. Beinah schien es, als wäre ein Sturm, wie er häufig an der Küste vorkommt, mit Schmackes durch den Kostümfundus gefegt, und alles, was zu Boden gefallen ist, musste nun auf der Bühne getragen werden.

Choreografin Rosemary Neri-Calheiros sorgte bei den Solisten und dem Chor für flinke Füße und ließ das Ballett u.a. als Grisetten (m/w/d) beim Can-Can „Ja, wir sind es, die Grisetten“ temperamentvoll über die Bühne toben.


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Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen die Operette von der 2. Sängergarde bestritten wurde, eben durch jene Sänger*innen, bei denen die Stimmen für die große Oper nicht ausreichten. Wenn bei den Genren im Musiktheater so unterschiedliche Kriterien angelegt werden, darf es nicht verwundern, wenn die Qualität entsprechend ausfällt. Das Stadttheater Bremerhaven verfügt momentan (zur Freude des Publikums) über ein hochtalentiertes Musiktheater-Ensemble, wo jede*r ebenso in TOSCA oder RUSALKA brilliert wie im Musical oder in der Operette.

In der klassischen Operette gibt es sogenannte Stimmfächer, die den entsprechenden Rollen zugeordnet werden. Da gibt es das Leading-Paar, bestehend aus dramatischem Sopran und Heldentenor, und das Buffo-Paar, das sich aus Soubrette und Spieltenor zusammensetzt. Hierbei soll sich die jeweilige Charakterisierung der Figur schon im Klang der Stimme widerspiegeln.

Apropos „Drama“: Selten habe ich das „Vilja-Lied“ so gefühlvoll und zugleich so traurig vernommen, wie in der Interpretation durch Signe Heiberg. Bei ihr ist Hanna Glawari eine moderne, selbstbewusste Frau, die von den enervierenden Avancen der Männer so angewidert ist, dass sie nur mit Mühe höflich bleiben kann. Fein nuanciert setzte sie ihren Sopran ein, um so auch musikalisch die Kränkungen zu verdeutlichen, die die Figur erleiden musste. Das Duett „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen“ gestaltete sie gemeinsam mit Konstantinos Klironomos äußerst innig und exquisit. Graf Danilo Danilowitsch ist bei Konstantinos Klironomos ein absoluter Heißsporn. Mit seinem potenten Tenor setzte Klironomos beim Gassenhauer „O Vaterland/ Da geh’ ich zu Maxim“ eine erste gesangliche Marke. Doch auch darstellerisch konnte er das ambivalente Verhalten dieses charmanten Hallodris glaubhaft vermitteln, der seine wahren Gefühle gegenüber Hanna nur schwerlich verstecken kann.

Abermals stehen Victoria Kunze und Andrew Irwin als kongeniale „Partners in Crime“ auf der Bühne und bieten sich ein höchst amüsantes Gefecht. Kunze gab eine quirlige, beinah naiv-unbedarfte Valencienne, die immer wieder hin und her gerissen wurde zwischen ehelicher Treue und dem Wunsch nach echter Zuneigung. Irwins Camille de Rosillon wirkte beinah, als würde ihn so viel weibliches Temperament überfordern. Dabei litt er sichtlich bei dem Gedanken, „seiner“ Valencienne entsagen zu müssen. Gemeinsam harmonierten sie abermals ganz und gar wunderbar in ihren Duetten, wobei das voller Wehmut vorgetragene „Wie eine Rosenknospe/ Sieh dort den kleinen Pavillon“ besonders herausstach.

Sollte ich die Stimm-Konstellationen beider Paare beschreiben, wären Heiberg/Klironomos ein vollmundiger Rotwein mit komplexen Aromen, während Kunze/Irwin eher ein prickelnd-leichter Schaumwein sind, der gar köstlich am Gaumen perlt. Dies stellt keine Wertung dar: Beide Weine sind absolut köstlich! Interessant war es für mich erstmals zu bemerken, wie Franz Lehár bei den beiden Paaren die jeweilige Beziehung bzw. deren Entwicklung schon rein musikalisch (an)deutete. Während das Buffo-Paar Valencienne und Camille ihre innige Vertrautheit direkt von Beginn an mit gefühlvollen Duetten verdeutlichte, hält der Komponist das Leading-Paar Hanna und Danilo musikalisch auf Abstand, indem er ihnen jeweils Solo-Arien in die Kehlen komponierte oder sie voller Ironie wie beim „Lied vom dummen Reiter“ aufeinander prallen lässt. Erst zum fulminanten Happy End gestehen sich die Beiden mit „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen“ ihre gegenseitige Zuneigung und dürfen sich so im Gesang vereinen.

Nun ist die Rolle des Baron Mirko Zeta eher eine Sprechrolle als eine Gesangsrolle. Glücklicherweise braucht Ulrich Burdack niemanden mehr zu beweisen, dass er singen kann. Doch selten habe ich ihn so komödiantisch leichtfüßig auf der Bühne erleben dürfen: Da wurde geprotzt und schwadroniert, selbstverliebt der Bart gebürstet und sich so voller Elan in die Brust geworfen, dass die daran gehefteten Orden mächtig klapperten. Voller Schadenfreude beobachtete das Publikum, wie dem eitlen Gockel die Federn gerupft wurden, währenddessen er seinen Handlanger Njegus schikanierte. Mit der Rolle des Njegus fand Hans Neblung abermals den Weg ins Stadttheater Bremerhaven, mit dem er sich schon über Jahre verbunden fühlt. Sein Njegus ist weniger der speichelleckende Opportunist, wie er gerne in anderen Inszenierungen dargestellt wird, sondern vielmehr der wissende Vertraute, der um Schadensbegrenzung bemüht ist. Nun stellt man einen Musical-Darsteller mit internationalem Renommee nicht einfach so auf eine Bühne und lässt ihn dann nicht singen. So gönnte das Produktionsteam dem Nejegus von Hans Neblung einen Solo-Auftritt, den er in einem spektakulären Blütenkleid gewohnt charmant präsentierte.

„Last but not least“: Abermals sorgte Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernández für einen voluminösen Wohlklang bei den Sänger*innen des Opernchores, von denen sich einige auch höchst unterhaltsam solistisch in div. Nebenrollen profilierten.


Nachtrag zum 12. Mai 2024: Da sah ich mir doch tatsächlich zum 3. Mal die Operette DIE LUSTIGE WITWE an und saß diesmal im Stadttheater Bremerhaven neben „meiner“ Ute. Ute lebt in einer Wohngemeinschaft der Lebenshilfe, und ich begleite sie ehrenamtlich bei Kultur- und Freizeitaktivitäten. Da sind die Damen von der Theaterkasse auch immer ganz wunderbar: Ute bekommt genau DIE Karten zu DEN Plätzen, von denen sie der Aufführung trotz Handicaps bestmöglich folgen kann.

Es war für mich immer wieder ein Fest, Ute zu erleben, mit welch überschwänglicher Freude sie die Aufführung genoss und mir auf dem Heimweg in den höchsten Tönen vorschwärmte

„Die haben alle so toll gesungen und so toll getanzt,
und die Musik war so schön und die Kostüme so cool…!“

Angefangen hat alles im Jahre 2013 als ich bei der Lebenshilfe zu arbeiten begann und u.a. für Ute die Aufgaben des Bezugsbetreuers übernahm. Bis dahin nahm Ute aufgrund der verschiedensten Faktoren kaum an kulturellen Angeboten teil. Ich war der Meinung, dies müsste dringend geändert werden. Ute war von dieser Idee begeistert, und so formulierten wir für sie ihren ganz persönlichen Förderplan. Auch als ich im Herbst 2019 den Arbeitgeber wechselte, blieb ich Ute ehrenamtlich als ihr persönlicher Kultur-Attaché erhalten.

Doch damals musste ich mir von einigen „netten“ Kolleginnen ungehörige Fragen anhören wie „Versteht sie denn überhaupt alles?“ und „Hat sie denn auch was davon?“. Meine Antworten fielen mit „Nein!“ und „Ja!“ sehr knapp aus. Danach ließ ich keine weiteren Diskussionen mehr zu.

Nein, sie braucht nicht alles zu verstehen: Kultur zu erleben ist schließlich kein Wettkampf, bei dem man ein vorher gesetztes Ziel erreichen muss. Kultur ist bunt und vielfältig und berührt emotional auf so unterschiedlichen Ebenen, dass Ute sich intuitiv genau das heraussucht, was ihr gefällt, und was sie für sich braucht. Darum: Ja, sie hat enorm viel davon!

Zudem schafft sie es immer wieder, auch meine eingefahrene Sichtweise aufzubrechen: Die Möglichkeit, Kultur erleben zu dürfen, ist für Ute nicht selbstverständlich. Diese Freiheit hat sie sich erkämpft und erarbeitet und genießt es nun.

Seit 10 Jahren gehen wir nun schon zusammen ins Theater. Ende offen…! ❤


Dank #angeklopft erhalten wir sogar eine Audienz beim pontevedrinischen Botschafter Ulrich Burdack.


Noch bis Ende Mai geht´s weiterhin recht turbulent zu bei DIE LUSTIGE WITWE am Stadttheater Bremerhaven.

[Operette] Jacques Offenbach – ORPHEUS IN DER UNTERWELT (Orphée aux enfers) / Stadttheater Bremerhaven

Operette bzw. Opéra-Buffon in zwei Aufzügen und vier Bildern von Jacques Offenbach / Libretto von Hector Crémieux und Ludovic Halévy / Textfassung von Isabel Hindersin und Markus Tatzig unter Verwendung der deutschen Textfassung von Ludwig Kalisch und Frank Harders-Wuthenow / in deutscher Sprache

Premiere: 11. Februar 2023 / besuchte Vorstellungen: 9. April & 28. Mai 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Hartmut Brüsch
Inszenierung: Isabell Hindersin
Bühne & Kostüme: Dietlind Konold
Choreografie: Rosemary Neri-Calheiros
Choreinstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández


Irgendwie gefällt mir der Gedanke, dass Intendant Lars Tietje vor Monaten bei der Planung der Spielzeit 2022/23 sinnierend in seinem Büro saß und immer wieder einen Blick auf die Liste mit den in Frage kommenden Stücke warf. Seine Entscheidung für die Oper und das Musical war schnell getroffen, galt es nun noch das Genre der Operette zu bedienen. Da dachte er sich vielleicht „Zwischen der geballten Dramatik von Weber und Massenet gönne ich meinem Musiktheater-Ensemble eine Verschnaufpause und kredenze ihm so `nen kleinen Happenpappen für Zwischendurch!“ Und so fiel seine Wahl auf dieses Leichtgewicht des Operetten-Repertoires.

Orpheus ist seiner Gattin Eurydike überdrüssig: Ständig hat sie etwas an ihm rumzumäkeln. Wie soll er sich bei diesem ständigen Gezanke auf das Komponieren und seine weibliche Anhängerschaft konzentrieren. Beidem widmet er sich gleichermaßen gerne. Eurydike langweilt sich und tröstet sich derweilen mit Aristäos, nichtsahnend, dass sich hinter der Maske des strammen Naturburschen niemand geringerer als Pluto, der Herr der Unterwelt versteckt. Aristäos aka Pluto würde die holde Schöne gerne in sein Reich entführen und ist darum nur allzu bereit, Orpheus bei der Beseitigung seiner Angetrauten zu helfen: Ein Schlangenbiss soll da helfen. Doch kaum meint Orpheus sich seiner Gattin entledigt zu haben, da taucht die öffentliche Meinung auf und setzt ihm zu. Schließlich hat er als Konservatoriumsdirektor einen guten Ruf zu wahren, und eine abhandengekommene Ehefrau wäre diesem wahrlich nicht zuträglich. Also macht er sich – mit der öffentlichen Meinung immer dicht auf den Fersen – auf den Weg Richtung Olymp, um dort vom Göttervater Jupiter Hilfe zu erbitten. Doch auf dem Olymp ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Vielmehr vergnügen sich Jupiters Kinder und Enkelkinder bei nächtlichen Amouren und verprassen so das göttliche Gold, während der Olymp vor die Hunde geht. Jupiter dreht ihnen kurzerhand den Geldhahn zu, würde allerdings allzu gerne auch selbst einen kleinen Seitensprung wagen. Doch seine eifersüchtige Gattin wacht mit Argusaugen über ihn. Da trifft Orpheus Bitte bei ihm auf offene Ohren: Wenn Pluto dieses Menschenkind in die Unterwelt entführt, dann muss es sich dabei um eine wahre Schönheit handeln. Da seine Sippe mit einer Revolte gegenüber seinen Sparmaßnahmen droht, nimmt er diese kurzerhand mit in die Unterwelt. In der Unterwelt sitzt Eurydike wie in einem Käfig fest und langweilt sich (schon wieder), da sie sich von ihrem derzeitigen Lover Pluto extrem vernachlässigt fühlt. Bewacht wird sie vom ständig angetrunkenen Hans Styx, der auch schon bessere Tage erlebt hat. Als Fliege verwandelt surrt Pluto durch das Schlüsselloch in Eurydikes Gemächer, verführt sie und verspricht, sie abermals zu entführen – diesmal in die Freiheit zu ihrem angetrauten Gatten. Eurydikes Begeisterung hält sich in Grenzen. Ebenso wenig begeistert ist Orpheus, als er von Jupiter erfährt, dass er Eurydike nur dann wieder mit nach Hause nehmen darf, wenn er sich nicht nach ihr umdreht. Dann aber schleudert Jupiter einen Blitz. Orpheus erschrickt, dreht sich um und – Schwupps! – finden die Beiden sich trotzdem daheim in ihrem Ehebett wieder. So wankelmütig sind auch die Götter…!


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Ich saß in der Vorstellung von ORPHEUS IN DER UNTERWELT und merkte irritiert, dass ich mit dem Stück fremdelte. Dies lag weder an der Inszenierung, noch an der Ausstattung und schon gar nicht an der musikalischen Umsetzung durch Sänger*innen und Orchester. Vielmehr drängte sich mir der Verdacht auf, dass die einzige Daseinsberechtigung dieses Werkes – neben dem klangvollen Namen des Komponisten – allein auf den wohl bekanntesten Cancan der Musikgeschichte beruht.

Oftmals hatte ich das Gefühl, als wollte der junge Jacques Offenbach und die Texter Hector Crémieux und Ludovic Halévy damals gerne neue Wege gehen, hatten aber nicht die Traute, ihre revolutionären Ideen konsequent zu Ende zu denken. Gleich zu Beginn gaben sie der öffentlichen Meinung eine Rezitative, die an Brecht-Weil erinnerte (obwohl beide zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Operette noch gar nicht geboren waren) und sie als Kommentatorin des Stückes prädestinierte. Dann ließen sie sie aber recht schnell wieder in der Versenkung verschwinden, um sie erst gegen Ende des Stücks „wiederzubeleben“. Auch verabschiedeten sie sich von der klassischen Rollenaufteilung mit Leading- und Buffo-Paar, setzten den Fokus augenzwinkernd nicht wie zu erwarten auf den Titelhelden Orpheus sondern vielmehr auf dessen Gattin Eurydike. Doch die Chance, das Ballett als erzählerisches Element in die Handlung zu integrieren, versäumten die Drei völlig. Vielmehr sind die Ballett-Einlagen so sehr von der eigentlichen Handlung separiert, dass sie wahllos irgendwo zwischengeschoben werden könnten. Zudem weist der 2. Aufzug (besonders im 4. Bild) eine solch spürbare Länge auf, dass man als Zuschauer beinah sehnsüchtig auf den berühmten Cancan wartet. Andererseits geizten sie nicht mit Ironie, schubsten die hehren Götter vom Thron, fegten kräftig durch die Unterwelt und verhohnepiepelten sogar die holde Kunst. Das Werk entstand im Jahre 1858 als Persiflage auf die großbürgerliche Bigotterie, die die freie Sinneslust aufgrund von Zwängen, die das soziale Leben bestimmten, einschränkte. Und trotzdem wirkte es auf mich, als standen beim Komponisten und seinen Librettisten vielmehr der Klamauk im Vordergrund und weniger eine nachvollziehbare Motivation der handelnden Personen.

Was bleibt mir da noch, was ich positives zu dieser Aufführung berichten kann? Es bleibt vieles oder vielmehr alles, bei dem Offenbach & Co. keinen Einfluss mehr hatten. Regisseurin Isabel Hindersin holt mit ihrer Inszenierung aus der kruden Geschichte das Bestmögliche heraus. Sie fokussiert in den intimeren Szenen, „gibt Kante“ bei den Ensemble-Szenen, setzt Akzente in der Personenzeichnung und überzeugt mit kleinen, witzigen Regie-Einfällen. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist die holde Eurydike, die bei ihr weniger das von Männern manipulierte Weib darstellt, als vielmehr die junge Frau, die sich selbstbestimmt (auch sexuell) nimmt, was bzw. wer ihr gefällt. Dietlind Konold präsentiert eine Ausstattungsorgie, nimmt im Bühnenbild mit Mole und schiefen Leuchtturm deutlich Bezug auf Bremerhavener Verhältnisse, kleidet die Bewohner*innen des Olymps und der Hölle erwartungsgemäß in Gold- bzw. Rot-Schwarz-Nuancen. Sie schießt dabei absichtlich über das Ziel hinaus und kleidet die Protagonist*innen der Mythenwelten allesamt herrlich überkandidelt. Da stechen die Kostüme für Orpheus und Eurydike sowie für die öffentliche Meinung beinah anachronistisch (in jeweils unterschiedliche Richtungen) heraus.

Isabel Hindersin traf in Bremerhaven nicht nur auf ein exzellent singendes sondern auch absolut spielfreudiges Gesangsensemble, das sich ungehemmt mit sichtlichem Vergnügen und voller Wonne in diesem musikalischen Klamauk suhlte. Angefangen von den Damen und Herren des Chores (Einstudierung: Mario Orlando El Fakih Hernández), die auch in den div. Nebenrollen glänzten, über Sydney Gabbard, die voller Energie als quirliger Cupido über die Bühne hüpfte, bis zur Lady Macbeth erprobten Signe Heiberg, die als taffe Jagdgöttin Diana gefiel. Spätestens beim schon erwähnten Cancan konnte auch das Ballett in der Choreografie von Rosemary Neri-Catheiros zeigen, was in ihm steckte, und ein tänzerisches Feuerwerk entfachen.

Boshana Milkov gab eine resolute und gestrenge öffentliche Meinung im Zeitungs-Kleid und mit einem Twitter-Vögelchen auf dem Käppi. Marcin Huteks Jupiter war ein liebenswerter Lüstling mit einem Humor, der ebenso schräg war wie seine Frisur. Konstantinos Klironomos brachte als Charmeur Aristäos/Pluto nicht nur Eurydikes Herz zum Schnellerschlagen sondern sicher auch bei etlichen Zuschauer*innen die Hormone in Wallung. Andrew Irwin gab den Titelhelden mit dem spröden Charme des Intellektuellen und beinah kindlicher Naivität bar jedem Schuldgefühl. Victoria Kunze schaffte es, dass Eurydike nie zum bloßen Flittchen verkam. Ihre Eurydike propagierte mit einem natürlichen Selbstverständnis das, was sich die so genannten Herren der Schöpfung schon seit Jahrhunderten herausnehmen: die eigene Sexualität vorurteilsfrei und ohne Gewissensbisse zu genießen.

Es war so eine Freude nach all den Jahren Hans Neblung wieder auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven erleben zu dürfen. Ende der 90er Jahre/ Anfang der 2000er stand er hier in großen Musical-Partien auf diesen Brettern. Nun stelzte er wunderbar kauzig und mit viel Selbstironie als Hans Styx in Korsage und Highheels über die Bühne und erinnerte so mit angepassten Text bei seinem Song „Als ich noch Prinz war in Arkadien“ an seine früheren Erfolge als Frank N. Furter und Graf Dracula.

Hartmut Brüsch entlockte dem Philharmonischen Orchester die für Offenbach unumgängliche Leichtigkeit. Er akzentuierte bei den Couplets, schmachtete bei den Liebesarien und ließ mit Schmackes beim bekannten Cancan, dem so genannten Höllengalopp, aufspielen.

Vielleicht sollte ich mir diese Operette noch ein weiteres Mal anschauen. Diesmal wäre ich vorbereitet und würde keinen tieferen Sinn erwarten. Ich nehme dann einfach dieses Werk als das, was es ist: eine knallbunte, lustvoll überschäumende Posse.


Nachtrag zum 28. Mai 2023: Ich habe es tatsächlich getan! Ich habe mir ein weiteres Mal diese Operette angesehen. Zugegeben: Es war eine eher spontane Eingebung in der Mittagszeit des Pfingstsonntags, der mich dazu verleitete, zuerst einen Blick auf den Spielplan und dann auf den Saalplan zu werfen. Es war die letzte Vorstellung im Musiktheater der Saison 2022/2023 und somit auch Dernière der Operette ORPHEUS IN DER UNTERWELT: Wenige Klicks später war die Eintrittskarte mein!

Ja, bei dieser Operette macht es Sinn, keinen Sinn zu erwarten. Eingedeckt mit diesem Wissen saß ich im Zuschauersaal und amüsierte mich gar königlich. Meine kritischen Anmerkungen zum Werk an sich blieben natürlich bestehen, doch diese konnte ich wunderbar ausblenden. Vielmehr entdeckte ich plötzlich Details im Zusammenspiel der Akteur*innen, die mir beim ersten Zuschauen nicht aufgefallen waren. Beim ersten Zuschauen war ich viel zu sehr auf die Haupthandlung konzentriert. Da diese mir nun bekannt war, konnte ich mein Augenmerk auf witzige Begebenheiten „am Rand“ lenken, die mich teilweise mehr unterhielten als die im Vordergrund platzierte Hauptaktion. So kicherte ich manchmal in Momenten, in denen meine Nachbarn auf dem ersten Blick nichts Komisches entdecken konnten.

Ja, es ist durchaus von Vorteil, sich eine Inszenierung ein weiteres Mal anzusehen: Ich genoss sehr diese Freiheit, meinen Blick hemmungslos schweifen lassen zu können, ohne Angst zu haben, dass ich evtl. etwas Wichtiges verpasse. Dies sind meine kleinen Glücksmomente. Und natürlich ist dies ein Luxus, den auch ich mir nicht allzu oft gönnen kann. Das Budget meiner Geldbörse ist bedauerlicherweise begrenzt, und dafür interessieren mich einfach zu viele Inszenierungen. Aber wenn ich mir diesen Luxus gönne, dann genieße ich ihn aus vollem Herzen!


Wer nun Lust hat, selbst das Tanzbein zu schwingen, da habe ich hier die passende musikalische Untermalung:

HINWEIS: Die obige Aufnahme stammte nicht aus der besprochenen Inszenierung sondern dient nur dazu, einen Eindruck von der Musik zu vermitteln. 

Es gibt leider nur noch wenige Möglichkeiten, um mit ORPHEUS IN DER UNTERWELT abzutauchen.