[Noch ein Gedicht…] Rainer Maria Rilke – ADVENT

Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird;

und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke

[Rezension] NOCH 24 MAL SCHLAFEN. Ein literarischer Adventskalender/ ausgewählt von Ron Mieczkowski

Manchmal ist es recht interessant, die eigene verschriftlichte Meinung aus der Vergangenheit nochmals zu lesen. Da stolperte ich schon so manches Mal über Aussagen, die ich getätigt hatte, die ich heute so nicht mehr – oder zumindest nur in einer abgemilderten Form – äußern würde. Da schmetterte ich doch vor sieben Jahren folgende Worte voller Überzeugung heraus…

„Literarische Adventskalender brauche ich ungefähr so nötig wie eine verschleppte Bronchitis! – Nein, das wäre jetzt übertrieben und klingt, als würden mich „Literarische Adventskalendern“ in irgendeiner Art und Weise emotional berühren. Sie tun es nicht! Sie sind mir schlicht und ergreifend egal! Denn: Warum sollte ich Häppchen konsumieren, wenn ich den ganzen Happen haben kann. Will sagen: Warum sollte ich mir ein Büchlein mit 24 Zitaten Hermann Hesses zulegen, wenn ich für das gleiche Geld einen wunderbaren Gedichtband erwerben kann?“

Treuen Leser*innen meines Blogs wird es nicht entgangen sein, dass ich in den vergangenen Jahren – vornehmlich gerne bei der Rubrik LEKTÜRE ZUM FEST – auf Anthologien zurückgegriffen habe, die Geschichten mehrerer Autor*innen enthielten. Zwar stand nicht explizit „literarischer Adventskalender“ auf dem Cover, doch das Prinzip war schon sehr ähnlich. Somit senke ich demutsvoll mein Haupt und leiste Abbitte.

In diesem Jahr reiht sich beim Diogenes-Verlag in der langen, erfolgreichen wie kurzweiligen Reihe der Weihnachtsbücher mit NOCH 24 MAL SCHLAFEN ein echter literarischer Adventskalender ein, der sich deutlich von den ironisch-heiteren LAMETTA-Büchern abhebt. Wobei ausgerechnet die ersten drei Geschichten mich bedauerlicherweise nicht packen konnten und beinah meine Vorurteile in Bezug auf literarische Adventskalender noch befeuerten. Dabei maße ich mir nicht an, die literarische Qualität dieser Geschichten anzuzweifeln: Sie trafen schlicht und ergreifend nicht meinen Geschmack.

Aber so ist es nun einmal: Licht und Schatten liegen bei Anthologien oft dicht beieinander. Und vielleicht braucht es auch den Schatten, damit ich als Leser das Licht mehr würdigen kann. Denn bereits die vierte Geschichte WAS DER TEEKESSEL SUMMT von Else Ury katapultierte mich in „die gute alte Zeit“, wo Traditionen gepflegt wurden. Es folgte mit Evelyn Waughs MISS BELLA GIBT EINE GESELLSCHAFT eine bittersüße Erzählung um eine einsame Dame, die ein pompöses Weihnachtsfest plant. Anton Čechov lässt über die Weihnachtstage zwei KNABEN einen absonderlichen Plan schmieden, und Patricia Highsmith erzählt in ZUM VERSAGER GEBOREN die anrührende Geschichte eines stillen Helden. In DAS TRIPTYCHON VON DEN HEILIGEN DREI KÖNIGEN von Felix Timmermans erleben drei absonderliche Kauze an Heiligabend höchst Ungewöhnliches.

Beim Drehbuch zu Loriots Sketch VERTRETERBESUCH brach ich in schallendes Gelächter aus, da ich natürlich beim Lesen die Bilder vor Augen hatte. Doch bereits bei DAS CHRISTKIND von Rainer Maria Rilke liefen mir Tränen der Ergriffenheit über die Wangen, da das Schicksal dieses kleinen Menschenkindes mich so sehr rührte. Kristof Magnusson berichtet in EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE sehr einfühlsam doch ganz unprädiziös von den letzten Tagen im Leben seiner Mutter, und Hans Fallada beschenkt uns in DAS VERSUNKENE FESTGESCHENK mit einer ganz wunderbar warmherzigen Novelle. Und auch Hans Christian Andersen lässt DAS KLEINE MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZCHEN von einer schöneren Welt voller Wärme und Licht träumen.

Herausgeber Ron Mieczkowski hat in diesem Büchlein eher die stillen, melancholischen Geschichten versammelt, die zum Innehalten und Nachdenken anregen. Dabei wird die Heiterkeit durchaus auch bedient, allerdings feiner, subtiler und weniger plakativ lärmend. So schlich sich so manche Erzählung eher langsam in mein Herz, um mich dann so sehr zu begeistern, dass ich spontan begann, laut vorzulesen. Dies ist immer ein gutes Zeichen und bedeutet, dass mich das Gelesene vollumfänglich gepackt hat.

Auch in diesem Jahr hat der Diogenes-Verlag mit NOCH 24 MAL SCHLAFEN wieder eine bunte Pralinenschachtel mit literarischen Köstlichkeiten für Nachkatzen zusammengestellt, die eher die Geschmacksrichtung „zartherb“ bevorzugen.


erschienen bei Diogenes / ISBN: 978-3257248197
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] FRÜHLING. Die schönsten Geschichten und Gedichte/ ausgewählt von Mareike von Landsberg

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohl bekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.

…zitierte ich unlängst erst vor wenigen Tagen in meinem Beitrag zu LE NOZZE DE FIGARO aus dem Gedicht „Er ist’s“ von Eduard Mörike, das natürlich auch in dieser Anthologie mit Geschichten und Gedichte rund um den Frühling nicht fehlen darf.

Der Anaconda-Verlag hatte im vergangenen Jahr mit dem Untertitel „Geschichten und Gedichte“ eine kleine, feine Reihe gestartet: In jedem Buch versammeln sich besagte „Geschichten und Gedichte“ zu einem bestimmten Thema. Gestartet wurde mit GROSSELTERNJAHRE. Gemeinsam mit FRÜHLING erschien auch VOM GLÜCK, AUF’S MEER ZU SCHAUEN. GOLDENER HERBST und CHRISTIAN MORGENSTERN sind schon für die zweite Jahreshälfte angekündigt.

Und abermals wird der Verlag seinem guten Ruf gerecht, Weltliteratur auch für Leser*innen mit einem schmaleren Geldbeutel erschwinglich zu machen. In einfacher Ausstattung zwischen zwei Pappbuchdeckeln versteckt sich hier eine illustre Gruppe hochkarätiger Literatinnen und Literaten. Da finden sich – sowohl heitere wie auch melancholische – Ergüsse in Vers-Form u.a. von Wilhelm Busch, Annette von Droste-Hülshoff, Max Dauthendey, Paula Dehmel, Joseph von Eichendorf, Elisabeth Langgässer, Heinrich Heine, Joachim Ringelnatz, Ludwig Uhland, Else Lasker-Schüler und Rainer Maria Rilke.

Als Leser wurde ich erfreut mit Kurzgeschichten bzw. passenden Auszügen aus einem Roman z. Bsp. von Theodor Storm, Adalbert Stifter, Johann Wolfgang von Goethe („Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Leiden des jungen Werther“), Stefan Zweig und Arthur Schnitzler.

Die jeweiligen Werke gruppieren sich unter eine der Rubriken „Vorfrühling“, „Das Wunder des Frühlings“, „Ostern“, „Der dunkle Frühling“ und „Frühlingsgefühle“, und erleichterten mir so das Finden der passenden Prosa bzw. Lyrik zum jeweiligen Anlass bzw. zu meiner persönlichen Gemütsverfassung.

Zudem verführte dieses Büchlein mich, es immer mal wieder in die Hand zu nehmen, um mal hier ein Gedicht zu lesen oder sich dort eine kleine Geschichte zu gönnen. Wobei die Gedichte deutlich in der Überzahl gegenüber den Geschichten sind, was für mich allerdings kein Nachteil darstellt. Vielmehr machte der FRÜHLING mich neugierig auf die weiteren Bände dieser Reihe.

Wer nun allerdings bei Anaconda die hippen, trendigen Poet*innen der aktuellen Literaturszene sucht, der hat leider das Prinzip des Verlages nicht verstanden.


erschienen bei anaconda / ISBN: 978-3730615102

[Noch ein Gedicht…] Rainer Maria Rilke – DIE LIEBENDEN

Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?

Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir, so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,

rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.

Rainer Maria Rilke


 ❤ Alles Liebe zum VALENTINSTAG! ❤


[Noch ein Gedicht…] Rainer Maria Rilke – ES GIBT SO WUNDERWEISSE NÄCHTE

Es gibt so wunderweiße Nächte,
drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
als ob er fromme Hirten brächte
zu einem neuen Jesuskind.

Weit wie mit dichtem Diamantenstaube
bestreut, erscheinen Flur und Flut,
und in die Herzen, traumsgemut,
steigt ein kapellenloser Glaube,
der leise seine Wunder tut.

Rainer Maria Rilke

[Noch ein Gedicht…] Rainer Maria Rilke – VORFRÜHLING

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke – HERBST

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke