[Rezension] Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Stories/ herausgegeben von Sandra Kegel

Wow! Ich bin geflasht, geplättet, baff! Auch wenn die Beschreibung meiner Reaktion, als ich diese Anthologie erstmals in den Händen hielt, etwas salopp anmutet, so kann ich meinen Eindruck zu diesem Buch nicht anders wiedergeben. Es ist nicht nur ein großes (in Bezug auf die Seitenzahl) Buch sondern auch ganz und gar großartiges Buch: 101 Short Storys aus 25 Weltsprachen von 101 Autorinnen auf über 900 Seiten (incl. einem Anhang aus Nachwort, Autorinnenviten und Quellenverzeichnis). Dabei kommen die Erzählungen der versammelten Damen nicht immer so artig daher – doch davon später mehr.

Es ist nun mehr als drei Jahren her, da echauffierte sich die Blogger-Gemeinschaft über eine neue Buch-Edition der „Süddeutschen Zeitung“ mit 10 Werken, die (angeblich) in keiner Sammlung fehlen dürften. Stein des Anstoßes: Es handelte sich hierbei ausschließlich um Werke von Männern. In meinem Beitrag Diversität „auf Teufel komm’ raus“: Bitte nicht! habe ich damals meine Meinung ausführlich kund getan, zu der ich heute noch stehe. Nun warte ich auf die ersten Unkenrufe, die bemängeln, dass in dieser nun vorliegenden Auswahl keine Männer vertreten sind. Meine Antwort darauf: Geht’s noch?! Habt Ihr keine anderen Probleme?! Mal gibt es Anthologien, die eine bunte Mischung (m/w/d) präsentieren, dann liegt der Schwerpunkt eher bei den Männern, und in diesem Fall geht es eben um die weibliche Sicht. Und diese kann sich durchaus von der männlichen Sichtweise unterscheiden bzw. im Laufe der Jahr(zehnt)e wandeln und verändern – abhängig von Ort und Zeit, will sagen: In welchem Jahrhundert, in welchem Land und vor welchem kulturellen Hintergrund hat die jeweilige Autorin gelebt und gewirkt.

Für diese Anthologie hat Herausgeberin Sandra Kegel sich einer wahren Mamut-Aufgabe gestellt und diese mit Bravour gemeistert. So decken die hier von ihr zusammengetragenen Geschichten einen Zeitraum von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ab und spiegeln so nicht nur die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft sondern auch den Wandel im (Selbst-)Bild der Frau wieder. Von den genannten Autorinnen war mir nur ca. ein Fünftel namentlich bekannt, was nicht bedeutet, dass ich darum schon etwas von ihnen gelesen hatte.

Da berichtet Agatha Christie in Die Fahrt auf der Themse über eine Frau, die Menschen nicht mag und der es somit schwer fällt, zwischenmenschliche Floskeln gesellschaftskonform anzuwenden. In Eine Heidin in der St. Paul´s Cathedral setzt Tekahionwake ihren Eindruck beim Besuch des besagten Gotteshauses aus grauem Stein im Vergleich zu den Ritualen ihres Stammes in der Erhabenheit der Natur. Sofia Tolstaja erzählt in Eine ganz überflüssige Bekanntschaft von den Gefühlswallungen beim Zusammentreffen einer verheirateten Frau mit einem Fremden, der sich über die Musik zu erkennen gibt. In Die Träumerin von Chawa Schapira begräbt die Titelheldin im Laufe ihres Lebens ihre Wünsche und Hoffnungen in ihrem Herzen, um den Erwartungen gerecht zu werden, die an sie gestellt wurden. Charlotte Perkins Gilman lässt in Wenn ich ein Mann wäre ihre Heldin in den Körper des Gatten schlüpfen und ermöglicht ihr so eine andere, doch nicht unbedingt angenehmere Sichtweise. Der Mond überm Dachfirst scheint bei Higuchi Ichiyo auf eine Ehefrau und Mutter, die sich standhaft den Avancen eines älteren, ebenfalls verheirateten Mannes verwehrt. Dorothy Parker lässt uns in Der Walzer an den bissig-ironischen Gedanken einer jungen Frau teilhaben, die mit ihrem Tanzpartner kein Glück hat, da dieser sich als allzu tollpatschig herausstellt. Dafür hat Die Tänzerin bei Patricia Highsmith einen kongenialen Partner, dem sie sich bewusst sexuell verweigert, um so den gemeinsamen Tango leidenschaftlicher zu zelebrieren. Bei Marlen Haushofer in I’ll Be Glad When You’re Dead… lauschen wir dem Monolog einer Frau, die sich von ihrem bisherigen Leben gelöst hat und nun mit sich, ihren Mit-Menschen im Besonderen und der Welt im Allgemeinen abrechnet.

Die Frauen in diesen Geschichten sind alle Individuen: Es gibt nicht die Frau. Es gibt nicht das Bild, wie eine Frau zu sein hat. Die Frauen in diesen Geschichten sind melancholisch und kokett, mitfühlend und berechnend, ernst und verschmitzt, liebevoll und verschlossen, sympathisch und abstoßend. Sie lachen und lieben, leiden und leben, weinen und singen, tanzen und verzweifeln, und manches Mal sterben sie auch. Sie bieten uns ein buntes, vielschichtiges Kaleidoskop an Lebensentwürfen, die zwischen den Extremen von Freude und Lebenslust bis Resignation und Verbitterung hin und her pendeln.

Dieses Buch präsentiert sich und seine Geschichten wie eine bunte Schatulle, die wertvolle Schmuckstücke in sich beherbergt. Niemand würde alle Schmuckstücke gleichzeitig aus der Schatulle nehmen und sich mit ihnen behängen. Im Gegenteil: Besonnen nimmt man – je nach Anlass – mal dieses, mal jenes Schmuckstück aus der Schatulle, um sich an ihm zu erfreuen. Und genau so verhalte ich mich mit diesem Buch. Ich habe bei weiten noch nicht alle Geschichten gelesen. Ich will auch nicht alle Geschichten in einem Rutsch lesen. Ich verweigere mich! Vielmehr möchte ich jede Geschichte als Solitaire für sich allein auf mich wirken lassen, um so ihre literarische Schönheit gebührend würdigen zu können.

Und so liegt dieses wunderbare Buch griffbereit auf dem Tischchen neben meinem Lesesessel und hat dort vielleicht eine Heimstätte für die Ewigkeit gefunden: Denn es gibt sie – die Bücher, die immer wieder und wieder zur Hand genommen werden müssen.


erschienen bei Manesse / ISBN: 978-3717525462

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

MONTAGSFRAGE #96: Welches (Cover-)Design eines Buches hat euch in letzter Zeit besonders gefallen?

Wer wählt schon ein Buch nur aufgrund eines gelungenen Cover-Designs aus? Wir doch nicht! („Hüstel!“) Schließlich kommt es doch einzig und allein auf den Inhalt an. Gerne bemühe ich hierzu einen gelungenen Vergleich meines geschätzten Blogger-Kollegen Frank Wolf vom „reisswolfblog“:

„Wenn ich mir im Restaurant um die Ecke eine Lebensmittelvergiftung zugezogen habe,
lobe ich ja auch nicht wenigstens noch die hübsche Tischdekoration.“

Wohl wahr…!!! Aber machen wir uns nichts vor: Wir alle obliegen der Versuchung der Optik! Oder, um beim Restaurant-Beispiel zu bleiben: Wären die Tische abgeranzt, die Stühle unbequem und der Fußboden klebrig, dann könnte die Küche noch so exquisit sein, ich würde dieses Restaurant nicht besuchen.

Optimal wäre es natürlich, wenn Cover und Inhalt eine Einheit bilden, bzw. der Inhalt hält, was das Cover verspricht. Jede*r von uns reagiert da auf unterschiedliche Reiz-Merkmale, wobei viele individuelle Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle spielen: Alter, Geldbeutel, persönliche Präferenz – um nur einige wenige zu nennen.

Als Liebhaber alter britischer Krimis reagiere ich auf Covers, auf denen ein Cottage, Landhaus oder sonstiges gediegenes Anwesen abgebildet ist. Die Verlage „Klett-Cotta“ und „DuMont“ arbeiten bei ihren Krimi-Ausgrabungen gerne nach diesem Prinzip: Zugegeben, diese Vorgehensweise ist nicht unbedingt originell, aber es funktioniert.

Der „Atlantik-Verlag“, Heimstätte von Agatha Christies Werken, ist in seiner Cover-Gestaltung deutlich kreativer. Hier stehen die Cover-Illustrationen immer im unmittelbaren Zusammenhang mit der Geschichte. So bildet die Jubiläumsausgabe zu Das fehlende Glied in der Kette: Poirots erster Fall eher die Ausnahme, da „ein Cottage, Landhaus oder sonstiges gediegenes Anwesen abgebildet ist.“ Trotzdem hat mich dieses Cover mit der reduzierten Wahl der Farben bzw. Farbabstufung sofort angesprochen. Durch diese Reduzierung wirkt das Cover – trotz der leichten Düsternis – elegant.

Bei Maigret macht Ferien von Georges Simenon war es das genaue Gegenteil: Eine sommerlich-leichte Strandidylle wird durch eine wärmende Sonne, die in den Schriftzug „Maigret“ übergeht, überstrahlt. Soll dies etwa andeuten, dass Kommissar Maigret der Sonne gleich auch die finsterste Ecke erhellt? Dazu schaukeln Boote auf dem Wasser, der Himmel ist blau, und der Strand lädt zum Flanieren ein. Ich fühlte förmlich die flirrende Atmosphäre des kleinen Städtchen Les Sables-d’Olonne, in dem die Geschichte spielt. Zudem liebe ich diesen Retro-Touch.

Bei der besonderen Ausgabe der Büchergilde Gutenberg zu „Der talentierte Mr. Ribley“ gab es auf dem Cover weder irgendwelche englischen Landhäuser noch einen Retro-Touch zu bewundern. Trotzdem fühlte ich mich von der Gestaltung angesprochen! Beim ersten Blick auf das Cover war ich eher irritiert und glaubte, verschwommen zu sehen. Schnell wurde mir jedoch bewusst, dass dieser Effekt auf die Art und Weise der Gestaltung zurückzuführen war. Alexandra Rügler hat für diesen klassischen Kriminalroman von Patricia Highsmith faszinierende Illustrationen in 3D-Optik kreiert (entsprechende Brille liegt bei), „die den Betrachter mit dem Buch interagieren lassen und so eine zweite Leseebene schaffen“ (Klappentext). Ob dies tatsächlich gelingt, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt berichten, da ich diesen Roman noch nicht gelesen habe.

Optik + Inhalt = Einheit: Das wäre bei einem Buch natürlich das Optimum!!!

…und lasst Ihr Euch auch von ein hinreißendes Äußeres verführen, oder zählen bei Euch nur die inneren Werte???


Antonia Leise von „Lauter & Leise“ hat dankenswerterweise DIE MONTAGSFRAGE: Buch-Blogger Vorstellungsrunde wiederbelebt und stellt an jedem Montag eine Frage, die Interessierte beantworten können und zum Vernetzen, Austauschen und Herumstöbern anregen soll! Ich bin gerne dabei!!!

In meinem MONTAGSFRAGE-Archiv findet Ihr Fragen & Antworten der vergangenen Wochen.

[Krimi] Patricia Highsmith – ZWEI FREMDE IM ZUG / bremer kriminal theater

frei nach dem Roman von Patricia Highsmith / Deutsch von Elke Körver und Maria Caleita

Premiere: 31. März 2017 / besuchte Vorstellung: 29. April 2017 / bremer kriminal theater


Inszenierung: Ralf Knapp
Bühne: Ralf Knapp / Heiko Windrath

Kostüme: Bianca Oostendorp


Eine Zufallsbegegnung im Zug mit fatalen Folgen für alle Beteiligten: Was lässt einen Menschen zum Mörder werden? Welche Umstände müssen eintreten, damit jemand einen ihm völlig Fremden tötet? Bei Patricia Highsmiths „Zwei Fremde im Zug“ geht es nicht um „Wer hat es getan?“ (Das wissen wir Zuschauer schon nach der ersten ¼ Stunde), vielmehr steht die Frage im Raum „Warum hat er es getan?“.

Sechs quadratische Waben stehen auf der Bühne – weiß, kühl und unberührt – und warten auf die Protagonisten. Bis auf wenige Ausnahmen stehen die Schauspieler allein in einer Wabe, kommunizieren miteinander aber auch aneinander vorbei. Missverständnisse sind vorprogrammiert, da jeder sich hinter „seiner“ Wand versteckt und bemüht, dem Gegenüber nicht hinter die Fassade blicken zu lassen.

Dieses Stück verzichtet auf „Action“, sondern setzt ganz auf die Wirkung der Dialoge und dem Können der Schauspieler (Christian Aumer, Denis Fischer, Janina Zamani & Martin Leßmann).

So ist dem Regisseur Ralf Knapp mit seinem Ensemble ein spannender Theaterabend gelungen, der noch lange im Gedächtnis haften bleibt.


ZWEI FREMDE IM ZUG wird am bremer kriminal theater noch bis Ende April 2019 gezeigt.