[Die Bücher meines Lebens] Armistead Maupin – Stadtgeschichten

– 1997 –


Ich war mitten drin in meinem Outing! Ein Jahr zuvor war ich endlich aus dem elterlichen Käfig entflohen, hatte meine erste eigene kleine Wohnung bezogen und zudem mich einer Kurs-Kameradin (= Freundin = Trauzeugin = Wahl-Schwester) offenbart. Einige mir wichtige Menschen sollten ihr peu à peu folgen. Ihre Reaktionen waren alle doch recht ähnlich: „Ja, nee, war klar!“ über „Ja, und…?“ bis „Ist mir egal! Ich hab dich lieb!“. Mit all diesen sehr wertvollen Menschen (sofern leider nicht schon verstorben) bin ich auch heute noch sehr eng befreundet. Mein Outing hatte sich zu einer emotionalen „Tour de Force“ entwickelt, die allerdings gleichzeitig aufregenden, unvorhersehbar und absolut beglückenden für mich war.

Irgendwann im Laufe des Jahres fielen mir Armistead Maupins Stadtgeschichten vor die Füße, klammerten sich an meinem Hosenbein fest und schienen „Bitte nimm mich mit!“ zu winseln. Wer hätte dieser Bitte wiederstehen können? Ich ganz sicher nicht! Und so adoptierte ich kurzerhand die bunte Patchwork-Familie aus der Barbary Lane Nr. 28 in San Franzisco: Mary Ann Singelton brachte mich mit ihrem Hang zu misslungenen Dates mit Männern zum Schmunzeln, während mein Herz bei Michael Tolliver deutlich schneller schlug (Ich könnte nicht mit 100%iger Sicherheit sagen, ob ich standhaft geblieben wäre, hätte er mir „Bitte nimm mich mit!“ zugeflüstert.), und die unübertreffliche Anna Madrigal wurde von mir kurzerhand zu meiner „Leih“-Mutter auserkoren. Ja, da war es das pralle Leben voller Lust, Leidenschaft und Liebeshunger, das gleichzeitig tieftraurig sein konnte und eine berührende Tragik beinhaltete. Waren sie doch alle Suchende nach Liebe, Akzeptanz und Anerkennung…!

Gleichwohl schafft Maupin den schwierigen Spagat zwischen „Comedy & Tragedy“: Sein Humor durchzieht alle 6 Romane und sorgt dafür, dass ich mich als Leser wohl, ja, sogar geborgen fühle. Doch sobald ich mich sicher fühlte, packte er mich emotional und rührte mich zu Tränen. Seine Figuren lassen auf ihrer Suche nach „’nem kleenen Stückchen Glück“ viele Chancen verstreichen, treffen nicht die richtigen Entscheidungen, scheitern. Da ist Trauer und Melancholie spürbar. Doch jammervoll aufgeben ist keine Option: Mit erhobenem Kopf geht es weiter!

Armistead Maupin mag seine Figuren mit all ihren Macken, Fehlern und Absonderlichkeiten und zeichnet die Charaktere zwar durchaus ironisch aber sehr, sehr liebevoll. Seine Botschaft ist eindeutig: „Es ist vollkommen in Ordnung, anders zu sein!“

Die Botschaft galt auch für mich und gab mir Halt auf meiner Suche nach einem Platz im Leben,…

„Es ist vollkommen in Ordnung, anders zu sein!“

…und diese Botschaft gilt für mich noch heute!!!


erschienen bei Rowohlt/ ISBN: 978-3499239694, 978-3499239762, 978-3499239823, 978-3499239908, 978-3499239960 & 978-3499240058


[Die Bücher meines Lebens] Ein Vorwort…

50 Jahre – ein halbes Jahrhundert habe ich nun auf dem Buckel: Nur eine Zahl wie jede andere auch…? Ja! und Nein!

Ich merke, dass diese Zahl etwas mit mir „macht“, …dass diese Jahre etwas mit mir gemacht haben. Die nahende 50 hat viele Gedanken und Gefühle in mir frei gesetzt, mich zum Grübeln gebracht und mich „gezwungen“, meinen bisherigen Lebens- und Lesens-Weg zu überdenken. Ich war nie jemand, der frühere Entscheidungen irgendwann bereut hat oder über erlittene Schicksalsschläge in Selbstmitleid verfallen wäre. Nein! Alles, was mir in meinem Leben bisher passierte, hat im Nachhinein einen Sinn ergeben. Alles, was mir in meinem Leben bisher passierte, hat mich zum Umdenken verleitet und mir geholfen, längst überfällige Entscheidungen zu treffen, um eine neue Richtung auf meinem Lebensweg einzuschlagen. Trotzdem möchte ich – wenn es sich bitte vermeiden lässt – einige dieser Schicksalsschläge nicht ein weiteres Mal durchleben müssen.

So turbulent mein Leben auch durchaus war, gab es doch immer eine Konstante, und diese Konstante war das Lesen für mich.

In den vergangenen 50 Jahren haben mich unzählige Bücher auf meinem Weg begleitet – Bücher, die so vielfältig wie ihre Autorinnen und Autoren, so unterschiedlich wie die ihnen zugedachten Leserinnen und Leser und so bunt wie das Leben waren. Jedes Buch, das ich gelesen habe, hat seine Spuren bei mir hinterlassen – auf der einen oder anderen Weise, mal mehr oder mal weniger intensiv. Und doch fiel es mir nicht schwer, diese ganz persönliche Auswahl zu treffen.

14 literarische Werke haben es auf meine Liste geschafft, und ich musste schmunzelnd feststellen, dass weder die Werke von namhaften Vertretern der „Sturm & Drang“ noch der „Aufklärung“ einen Platz auf meiner Liste erhalten haben, und keines dieser Werke war je auf einer Longlist des Deutschen Buchpreises. Mit 50 Jahren muss ich mir und dem Rest der Welt nichts mehr vormachen: Ein „Aufpimpen“ der Liste mit klangvolleren Namen kam für mich nicht in Frage! Dafür erlaube ich mir den Luxus und bin mit mir hemmungslos ehrlich: Diese Bücher haben mich durch außergewöhnliche Lebenssituationen begleitet, Emotionen in mir ausgelöst, mich getröstet, geleitet und inspiriert, mir Mut gemacht, mich ermahnt und lang verschollene Erinnerung hervor gelockt.

Sie haben es mehr als verdient, hier gewürdigt zu werden.

  • 1974: Walter Müller & Heinz Kampmeier Unsere neue Fibel
  • 1976: Hans Jürgen Press Die Abenteuer der schwarzen hand
  • 1977: Enid Blyton 5 Freunde im alten Turm
  • 1979: Michael Ende Die unendliche Geschichte
  • 1982: Janina David Ein Stück Himmel – Erde – Fremde
  • 1984: Fynn Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna
  • 1986: Margaret Mitchel Vom Winde verweht
  • 1990: Victor Hugo Die Elenden
  • 1993: Rita Mae Brown Venusneid
  • 1997: Armistead Maupin Stadtgeschichten
  • 2002: Truman Capote Frühstück bei Tiffany
  • 2007: Erich Kästner Drei Männer im Schnee
  • 2011: Agatha Christie Und dann gab’s keines mehr
  • 2018: Anne Müller Sommer in Super 8

Einige Werke habe ich Euch bei früheren Gelegenheiten schon einmal vorgestellt: Ich habe diese Texte genommen, gelesen, in mich hinein gehorcht und sie entsprechend redigiert. Weitere Werke werde ich Euch im Laufe der nächsten Tage und Wochen vorstellen: So erlaube ich mir, die 50 einige Wochen lang gemeinsam mit Euch zu feiern!

Ich wünsche Euch viel Spaß bei dieser Rückschau auf mein (Lese-)Leben!

Liebe Grüße
Andreas

P.S.: …und lieber ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel als ein falscher Fünfziger im Herzen! 😉