– 1984 –
„Der Unterschied von einem Menschen und einem Engel ist ganz einfach: Das meiste von einem Engel ist innen, und das meiste von einem Menschen ist außen…“
Anna ist 4 Jahre alt als der 19-jährige Fynn sie bei den Londoner Docks aufsammelt. Naja, genaugenommen hat Anna Fynn auserwählt, war sie doch von ihren Eltern weggelaufen und wollte/sollte auch nie wieder zurück. „Sie ist eine Kuh, und er ist ein Säufer. In das Scheißhaus geh ich nie mehr. Ich wohne bei dir.“ sprach’s und adoptierte kurzerhand Fynn und mit ihm seine gesamte Familie. Anna ist schlau und interessiert sich für alles und jeden, hat eine reine Seele, ein großes Herz und ihre ganz besondere Sicht auf die Dinge. So hält sie immer Zwiesprache mit Mister Gott, hinterfragt auf kindlich-weiser Art Geschehnisse, die ihr nicht richtig erscheinen. Kurz vor ihrem 8. Geburtstag stürzt Anna schwer von einem Baum und stirbt mit dem Satz „Wetten, dass mich Mister Gott dafür in seinen Himmel reinlässt.“ Sie hat die Wette sicher gewonnen!
Es war zum Osterfest 1984 als mein Bruder gemeinsam mit seiner damaligen Freundin mir dieses Buch schenkte. Ich gebe zu, ich war überrascht, weil a). mein Bruder mir ein Buch schenkte, b). es zudem von Gott handelte (und mit Gott hatte mein Bruder ungefähr soviel am Hut wie mit Töpfern in der Toskana) und c). es mir gefiel – sehr sogar! Ich hege bis heute den leisen Verdacht, dass die Initiative eher von Seiten der damaligen Freundin kam.
Ich befand mich am Ende meines 2-jährigen Konfirmationsunterrichts, stand somit kurz vor meiner Konfirmation und beschäftigte mich gerade sehr intensiv mit Glaubensfragen. Da bot mir dieses kleine Büchlein eine sowohl gelungene wie charmante Möglichkeit, mich aus einer anderen Perspektive Gott zu nähern. So lag das Buch schon seit Wochen griff- und somit stets lesebereit auf dem Tisch in meinem Zimmer – so auch an meinem Konfirmationstag. Ein (sogenannter) Freund, der an diesem Tag ebenfalls konfirmiert wurde und sich auf seiner eigenen Feier langweilte, tauchte während meiner Konfirmationsfeier bei uns zuhause auf, um mich zum Stromern um die Häuser zu überreden. Mein fassungsloses „Nein!“ konnte er nur schwer akzeptieren. Sein Blick fiel auf das kleine Büchlein auf meinem Tisch. „Du rennst wohl noch zur Kirche, wenn du erwachsen bist!“ meinte er verächtlich und zog von dannen, um sich mit Jungs, die cooler waren als ich, zu treffen.
Im Gegensatz zu vielen meiner Klassenkamerad*innen habe ich die Konfirmationszeit sehr genossen, da das Selbstverständnis des Christentums auch meiner Sicht entsprach und ich vieles für mich auf meinen Weg zum Erwachsenwerden mitnehmen konnte. So habe ich nach meiner Konfirmationszeit weiterhin die Jugendgruppe meiner Heimatgemeinde besucht.
Nein! Ich renne als Erwachsener sehr wenig zur Kirche!
Ich habe mich aber immer der Kirche verbunden gefühlt. Dabei hatte ich das große Glück, dass ich immer einer Kirchengemeinde, die sich durch Toleranz und Offenheit auszeichnete, angehörte. Mir ist durchaus bewusst, dass es auch andere (negative) Beispiele gibt. Leider gibt es auch „Christen“, die eben nicht die Menschen „aller Nationen, unabhängig von Rassen- oder Klassenzugehörigkeit, Geschlecht oder gesellschaftlicher Stellung“ tolerieren und/oder ihre Stellung auf verachtungswürdige Weise ausnutzen. Dies alles hat für mein Verständnis und Empfinden nichts mit „Christ sein“ zu tun und geschieht ganz sicher nicht „im Namen Gottes“. Dogmatisch und vehement vertretende Ansichten erscheinen mir äußerst fragwürdig und lösen meinen Impuls zur Kritik aus. Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild. Ich bin ein schwuler Mann: Noch Fragen?!
Nein! Ich renne als Erwachsener sehr wenig zur Kirche!
Dieses kleine, unspektakuläre Büchlein hat viel dazu beigetragen, um meinen Glauben zu festigen – auch ohne wöchentlichen Besuch des Gottesdienstes. Doch ich fühle mich in meiner kleinen Kirchengemeinde zuhause und bin gerne bereit, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten.
Manchmal schließen sich Kreise: Am 24. Dezember 1978 schritt ich als Joseph im Krippenspiel durch die Kirche meines Heimatortes. 34 Jahre später stand ich erstmals als Spielleiter in der Kirche meiner jetzigen Gemeinde und probte mit den Kids das Krippenspiel für Heiligabend. Halleluja!