Schlagwort: Victor Hugo
Apho·ri·si·a·kum…
MONTAGSFRAGE #134: Gibt es ein Buch, das Dir sehr gefallen hat, Du aber nicht noch einmal lesen würdest?
„Sag niemals nie…!“ – Sean Connerys letzter Einsatz als Spion im Auftrag ihrer Majestät könnte durchaus auch als Untertitel für diese MONTAGSFRAGE dienen. „Sag niemals nie…!“ – Sicher könnte ich jetzt vollmundig behaupten, dass ich das eine oder andere Werk nicht mehr lesen würde, obwohl es mir sehr gefallen hat, aber…
…aber was schert mich in einer Woche/einem Monat/einem Jahr mein Geschwätz von heute, wenn ich gerade dann zu genau diesem/jenen/welchen Zeitpunkt das dringende, unbändige und nicht zu stillende Bedürfnis verspüre, eben genau das Werk wieder lesen zu wollen, das ich nicht noch einmal lesen wollte. Somit ist meine Antwort zur heutigen MONTAGSFRAGE auch nur als ein kurzfristig gültiges Zeitdokument zu sehen – sozusagen ein Schnappschuss, der meine momentane Meinung im Wort festhält aber keine Gültigkeit für die Ewigkeit besitzt. Logisch, oder?
Doch nun hurtig ran an eine Beantwortung der Frage: Ich würde gerne die besagten Bücher in zwei Kategorien einteilen:
- Bücher, die mir sehr gefallen haben, die ich aber nicht nochmals lesen würde und darum auch nicht mehr in meinem Besitz sind.
- Bücher, die mir sehr gefallen haben, die ich aber nicht nochmals lesen würde aber trotzdem für immer und ewig in meinem Besitz bleiben werden.
Zur 1. Kategorie zählen interessanterweise viele Bücher, die ich im Rahmen meiner Blogger-Tätigkeit teilweise als Rezensionsexemplar zwecks Besprechung erhalten habe. Alle diese Bücher haben mir wirklich so sehr gefallen, dass ich vollmundige Rezensionen verfasst und sie überschwänglich gelobhudelt habe. Dieses Urteil habe ich voller Überzeugung getätigt, und ich würde diese Bücher auch immer wieder wärmstens weiter empfehlen. Doch da auch meine Lebenszeit begrenzt ist, und ich zudem den Wunsch verspüre, ganz viel und mir noch unbekannte Literatur zu entdecken, habe ich diese Werke (durchaus mit einem weinenden Auge) weiterziehen lassen. Zu diesen Büchern zählen u.a.:
- George Pelecanos – Das dunkle Herz der Stadt
- Wolf Haas – Junger Mann
- Gytha Lodge – Bis ihr sie findet
- Anne Enright – Die Schauspielerin
- Joanna Nadin – Meine Mutter, unser wildes Leben und alles dazwischen
Zur 2. Kategorie zählen hauptsächlich Werke, die mich in einer besonderen Lebenssituation getroffen haben – und „treffen“ trifft es genau! Unsere Begegnung war so prägend, dass sie zum Teil in die Ruhmeshalle „Die Bücher meines Lebens“ eingezogen sind. Da möchte ich gerne zwei Werke stellvertretend nennen:
- Victor Hugo – Die Elenden
- Margaret Mitchell – Vom Wind(e) verweht
Beide Werke dürfen sich mit Recht als Epos bezeichnen, denn allein von ihrem Seiten-Umfang sind sie epochal und können so durchaus einschüchternd wirken. „Vom Wind verweht“ bringt es in der Neuübersetzung auf stattliche 1200 Seiten und wird von „Die Elenden“ mit über 1500 Seiten sogar noch übertrumpft. Da würde ich es mir sehr genau überlegen, ob ich mich an eine solche literarische Schwarte nochmals ran traue. Zudem schlummert in mir die Angst, dass ich sie bei einem wiederholten Lesen vom Sockel des Besonderen stoße und somit brutal entzaubere, da sich meine Sichtweise (zwangsläufig) nach all den Jahren verändert hat. Ist es mir das wert…???
Diese Bücher sind so sehr mit mir und meinem Leben verwoben, dass sie immer ihren Platz in meinem Bücherregal haben werden.
…???
Antonia Leise von „Lauter & Leise“ hat dankenswerterweise DIE MONTAGSFRAGE: Buch-Blogger Vorstellungsrunde wiederbelebt und stellt an jedem Montag eine Frage, die Interessierte beantworten können und zum Vernetzen, Austauschen und Herumstöbern anregen soll! Ich bin gerne dabei!!!
In meinem MONTAGSFRAGE-Archiv findet Ihr Fragen & Antworten der vergangenen Wochen.
[Die Bücher meines Lebens] Victor Hugo – Die Elenden
– 1990 –
Es war das Jahr 1990: Ich fühlte mich gefangen in einer ungeliebten Ausbildung, in einem Elternhaus voller Probleme und in mir selbst: zu jung, zu ängstlich und darum zu unfähig, Entscheidungen zu treffen. In der Stadtteil-Bibliothek in Bremen-Lesum (mein damaliger Ausbildungsbetrieb befand sich dort in der Nähe) fand ich Zuflucht zwischen Ende der Berufsschule und Arbeitsbeginn im Ausbildungsbetrieb.
Jede einzelne Minute habe ich herausgekitzelt, um ja nicht zu früh im Betrieb in Erscheinung treten zu müssen. Der Grund für mein Verhalten nannte sich selbst „Ausbilderin“: Ab Tag eins der Ausbildung war mir klar, dass die Chemie zwischen uns niemals stimmen würde. Ab Tag eins der Ausbildung war ich ihr bevorzugter Prügelknabe: Lob gab es selten, dafür hagelte es Kritik. Natürlich alles im Rahmen einer qualifizierten Ausbildung…!
„Herr Kück, wie schreiben sie „nah“?“
„N A H!“ buchstabierte ich.
„Und warum haben sie es in diesem Bericht N H A geschrieben?“
„Ja, weil ich mich vertippt habe, Du dusselige Schnepfe!“ hätte ich ihr am liebsten ins Gesicht gebrüllt, aber da ich zu höflich, zu rücksichtsvoll, zu gut erzogen war, tat ich es natürlich nicht!
„Mobbing“, den Begriff kannte damals noch kein Mensch. Eher hieß es noch „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“. Aber – Hey! – ich war ein 1A-Mobbing-Opfer.
So saß ich also Stunde um Stunde in der Bibliothek, vertrödelte meine Zeit oder stöberte in den Büchern und fand diesen Roman: Eine alte Auflage aus den 70ern, wenig verliehen und somit wenig gelesen. Warum ich mir dieses Buch auslieh? Ich weiß es nicht! Ich bin nur froh, dass ich es tat. Ich tauchte ein in Jean Valjeans Welt, begleitete ihn durch sein Leben und wurde Teil seines Kosmos. Bei manchen Passagen rannen mir die Tränen über das Gesicht, und ich musste hemmungslos schlurzen. Bei manchen Passagen hatte ich das Gefühl, dass das Gelesene mir auf Brust und Seele drückte. Doch ich las weiter: morgens vor der Arbeit, in der Mittagspause, am Abend vorm Zubettgehen. Kaum brachte ich es über mich, dieses Buch nach Ablauf der Leihfrist wieder zur Bibliothek zurückzubringen, nur um es einige Wochen später abermals auszuleihen.
Ich wollte/musste unbedingt „Die Elenden“ selbst besitzen und machte mich verzweifelt auf die Suche: Nur leider war die letzte Auflage vergriffen und eine weitere Auflage stand in den berühmt-berüchtigten Sternen. Die damalige Buchhändlerin meines Vertrauens muss meine Enttäuschung gespürt haben: Ohne das ich davon wusste, ging sie weiter auf die Suche und fand „Die Elenden“ in den damals noch neuen Bundesländern. Seitdem nenne ich eine Ausgabe vom Verlag Volk & Welt mein Eigen, die ich nicht mehr missen möchte und wie meinen Augenapfel hüte.
Victor Hugo hat ein Epos voller Menschlichkeit geschaffen, das mit seiner humanitären Botschaft mein Herz und meine Seele zutiefst berührte. Ich fühlte mich in meinen Nöten verstanden und schöpfte Kraft für die Herausforderungen meiner kleinen, wirren Welt. Nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte, war ich ein anderer Mensch – ob auch ein besserer? Ich weiß es nicht. Dieses Urteil maße ich mir nicht an. Ich bin mir aber absolut sicher, dass das Lesen dieses Romans mich verändert hat! Lesen bewegt!
Nachtrag Ich habe durchaus etwas von meiner damaligen Ausbilderin gelernt: Als Praxisanleiter in der Krankenpflege (meine 2. Ausbildung) weiß ich nun sehr genau, wie ich mich meinen Auszubildenden gegenüber NICHT verhalte!
„Liebe Frau S., dafür danke ich Ihnen. Ansonsten vermeiden Sie es bitte in meiner Gegenwart zu verunfallen. Ich käme als examinierter Krankenpfleger evtl. in Versuchung, spontan an fachlicher Amnesie zu leiden.“
Hallo?! Ich habe gesagt, der Roman hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. Von einem Heiligen war nie die Rede…!!!
erschienen bei Volk und Welt/ ISBN: 978-3353001030 / Neu-Auflage erschienen bei Anaconda/ ISBN: 978-3730600429
[Die Bücher meines Lebens] Ein Vorwort…
50 Jahre – ein halbes Jahrhundert habe ich nun auf dem Buckel: Nur eine Zahl wie jede andere auch…? Ja! und Nein!
Ich merke, dass diese Zahl etwas mit mir „macht“, …dass diese Jahre etwas mit mir gemacht haben. Die nahende 50 hat viele Gedanken und Gefühle in mir frei gesetzt, mich zum Grübeln gebracht und mich „gezwungen“, meinen bisherigen Lebens- und Lesens-Weg zu überdenken. Ich war nie jemand, der frühere Entscheidungen irgendwann bereut hat oder über erlittene Schicksalsschläge in Selbstmitleid verfallen wäre. Nein! Alles, was mir in meinem Leben bisher passierte, hat im Nachhinein einen Sinn ergeben. Alles, was mir in meinem Leben bisher passierte, hat mich zum Umdenken verleitet und mir geholfen, längst überfällige Entscheidungen zu treffen, um eine neue Richtung auf meinem Lebensweg einzuschlagen. Trotzdem möchte ich – wenn es sich bitte vermeiden lässt – einige dieser Schicksalsschläge nicht ein weiteres Mal durchleben müssen.
So turbulent mein Leben auch durchaus war, gab es doch immer eine Konstante, und diese Konstante war das Lesen für mich.
In den vergangenen 50 Jahren haben mich unzählige Bücher auf meinem Weg begleitet – Bücher, die so vielfältig wie ihre Autorinnen und Autoren, so unterschiedlich wie die ihnen zugedachten Leserinnen und Leser und so bunt wie das Leben waren. Jedes Buch, das ich gelesen habe, hat seine Spuren bei mir hinterlassen – auf der einen oder anderen Weise, mal mehr oder mal weniger intensiv. Und doch fiel es mir nicht schwer, diese ganz persönliche Auswahl zu treffen.
14 literarische Werke haben es auf meine Liste geschafft, und ich musste schmunzelnd feststellen, dass weder die Werke von namhaften Vertretern der „Sturm & Drang“ noch der „Aufklärung“ einen Platz auf meiner Liste erhalten haben, und keines dieser Werke war je auf einer Longlist des Deutschen Buchpreises. Mit 50 Jahren muss ich mir und dem Rest der Welt nichts mehr vormachen: Ein „Aufpimpen“ der Liste mit klangvolleren Namen kam für mich nicht in Frage! Dafür erlaube ich mir den Luxus und bin mit mir hemmungslos ehrlich: Diese Bücher haben mich durch außergewöhnliche Lebenssituationen begleitet, Emotionen in mir ausgelöst, mich getröstet, geleitet und inspiriert, mir Mut gemacht, mich ermahnt und lang verschollene Erinnerung hervor gelockt.
Sie haben es mehr als verdient, hier gewürdigt zu werden.
- 1974: Walter Müller & Heinz Kampmeier Unsere neue Fibel
- 1976: Hans Jürgen Press Die Abenteuer der schwarzen hand
- 1977: Enid Blyton 5 Freunde im alten Turm
- 1979: Michael Ende Die unendliche Geschichte
- 1982: Janina David Ein Stück Himmel – Erde – Fremde
- 1984: Fynn Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna
- 1986: Margaret Mitchel Vom Winde verweht
- 1990: Victor Hugo Die Elenden
- 1993: Rita Mae Brown Venusneid
- 1997: Armistead Maupin Stadtgeschichten
- 2002: Truman Capote Frühstück bei Tiffany
- 2007: Erich Kästner Drei Männer im Schnee
- 2011: Agatha Christie Und dann gab’s keines mehr
- 2018: Anne Müller Sommer in Super 8
Einige Werke habe ich Euch bei früheren Gelegenheiten schon einmal vorgestellt: Ich habe diese Texte genommen, gelesen, in mich hinein gehorcht und sie entsprechend redigiert. Weitere Werke werde ich Euch im Laufe der nächsten Tage und Wochen vorstellen: So erlaube ich mir, die 50 einige Wochen lang gemeinsam mit Euch zu feiern!
Ich wünsche Euch viel Spaß bei dieser Rückschau auf mein (Lese-)Leben!
Liebe Grüße
Andreas
P.S.: …und lieber ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel als ein falscher Fünfziger im Herzen! 😉
[Rezension] Victor Hugo – Die Elenden
Allein die Inhaltsangabe von Hugos Epos könnte ein eigenes Buch füllen: Über 5 Bände erstreckt sich die Geschichte von Galeerensträfling Jean Valjean, der geläutert versucht ein neues Leben zu beginnen aber immer wieder von seiner Vergangenheit in Person des Inspektor Javert eingeholt wird.
Ich möchte hier gar nicht ins Detail der Handlung gehen. Ich möchte hier vielmehr versuchen zu beschreiben, was dieser Roman bei mir bewirkt hat, und wieviel er mir bedeutet.
Es war das Jahr 1990: Ich fühlte mich gefangen in einer ungeliebten Ausbildung, in einem Elternhaus voller Probleme und in mir selbst: zu jung, zu ängstlich und darum zu unfähig, Entscheidungen zu treffen. In der Stadtteil-Bibliothek fand ich Zuflucht zwischen Ende der Berufsschule und Arbeitsbeginn im Ausbildungsbetrieb, und…
…ich fand diesen Roman: Eine alte Auflage aus den 70ern, wenig verliehen und somit wenig gelesen. Warum ich mir dieses Buch auslieh? Ich weiß es nicht! Ich bin nur froh, dass ich es tat.
Lesen bedeutete damals für mich „Flucht aus dem Alltag“!
Ich tauchte ein in Jean Valjeans Welt, begleitete ihn durch sein Leben und wurde Teil seines Kosmos. Bei manchen Passagen rannen mir die Tränen über das Gesicht, und ich musste hemmungslos schlurzen. Bei manchen Passagen hatte ich das Gefühl, dass das Gelesene mir auf Brust und Seele drückt. Doch ich las weiter: morgens vor der Arbeit, in der Mittagspause, am Abend vorm Zubettgehen. Ich fühlte mich in meinen Nöten verstanden. Ich war nicht allein!
Victor Hugo hat ein Epos voller Menschlichkeit geschaffen, das Identifikationspotential quer durch alle Generationen bietet und mit seiner humanitären Botschaft das Herz und die Seele der Leser berührt.
Am Ende des Romans war ich ein anderer Mensch – ob auch ein besserer? Ich weiß es nicht. Dieses Urteil maße ich mir nicht an. Ich bin mir aber sehr sicher, dass das Lesen dieses Romans mich verändert hat!
Lesen bewegt!
Nachtrag: Damals wollte/ musste ich unbedingt „Die Elenden“ selbst besitzen und habe mich verzweifelt auf die Suche gemacht: Diogenes war der einzige Verlag, der diesen Roman damals gelistet hatte. Nur leider war die letzte Auflage vergriffen und eine weitere Auflage stand in den berühmt-berüchtigten Sternen. Die damalige Buchhändlerin meines Vertrauens Frau Weise muss meine Enttäuschung wohl gespürt haben: Ohne das ich davon wusste, ging sie weiter auf die Suche und fand „Die Elenden“ in den damals noch neuen Bundesländern. Seitdem nenne ich eine Ausgabe vom Verlag Volk & Welt mein Eigen, die ich nicht mehr missen möchte und wie meinen Augenapfel hüte.
erschienen bei Anaconda/ ISBN: 978-3730600429
Gabriela Wendt hat auf ihrem Blog „Buchperlenblog“ die tolle Aktion Perlentauchen ins Leben gerufen: Hier werden literarische Kostbarkeiten wieder-vorgestellt, die schon einige Jahre/ Jahrzehnte/ Jahrhunderte auf den Buckel haben aber nicht in Vergessenheit geraten sollten.
An dieser Aktion beteilige ich mich sehr gerne: Gute Geschichten sind zeitlos!