Schlagwort: Christopher Isherwood
[Rezension] Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin/ illustrierte Ausgabe und Hörspiel
Vor Jahren begegnete mir Christopher Isherwoods Episodenroman „Leb wohl, Berlin“ zum ersten Mal: Damals entflammte meine Liebe zum Musical und ließ mich zu den Klassikern des Genres auch immer einen neugierigen Blick auf die literarischen Vorlagen werfen. Irgendwann spielte mir das Schicksal (oder der Zufall) diesen Roman abermals in die Hände. Mit dem Abstand der Jahre und mit einem gereifteren Blick hatte dieses Werk eine gänzlich andere Wirkung auf mich. Dieser Umstand veranlasste mich, eine Rezension zu verfassen, die am 17. August 2019 hier auf meinem Blog erschien. Schnell kam mir die Idee, diesen interessanten Autor im Rahmen meiner kleinen Reihe LITERATEN IM FOKUS wieder mehr Aufmerksamkeit zu gönnen.
Und so kündigte ich vollmundig im März 2020 die Retrospektive zu Christopher Isherwood für Oktober desselben Jahres an. Doch wie so oft im Leben kommt zuerst etwas dazwischen und danach alles anders als man denkt. So schmachteten seitdem zwei besondere Fassungen von Isherwoods Erfolgsroman „Leb wohl, Berlin“ ein äußerst tristes Dasein auf meinem SuB und waren in ernsthafter Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Dies hätten sie nun wahrlich nicht verdient! So befreite ich sie aus ihrem Dornröschen-Schlaf und puschelte sie ordentlich mit dem Staubwedel ab, um sie von der Patina der vergangenen drei Jahre zu befreien. Und obwohl Christopher Isherwood es wert wäre, eine Retrospektive zu erhalten, verzichte ich momentan auf eben jene, da ich Euch die schon erwähnten Fassungen nicht weiter vorenthalten möchte.
Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin/ mit Illustrationen von Christine Nippoldt
Willkommen! Bienvenue! Welcome!
Berlin, Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts: Der junge Schriftsteller Christopher Isherwood kommt in diese pulsierende Metropole auf der Suche nach Inspiration für einen Roman. Inspiration findet er nicht – dafür verleiten ihn die vielen Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten: Persönlichkeiten, die nur eine Stadt wie Berlin hervorbringen oder anlocken kann. Inspiration! – Inspiration brauchte der reale Isherwood nicht zu suchen! Inspiration hatte Isherwood zuhauf direkt vor seiner Nase! Da ist seine ältliche Zimmerwirtin Fräulein Schroeder, die ihren besseren Zeiten hinterher träumt und trauert, über ihre Mieter stellvertretend am Leben teilnimmt und sich gezwungenermaßen mit jeglicher Regierung akklimatisiert. Was bleibt ihr auch übrig: Wo soll sie sonst hin? Da ist der junge Otto Nowak, der mit seiner Familie in einem Hinterhof des Hinterhofs eines Hinterhofs lebt, und die in ihrer erbärmlichen Trostlosigkeit willig den Nährboden bietet für die Versprechungen der Nazis. Da ist der intellektuelle Bernhard Landauer, Geschäftsmann aus dem noblen Villenviertel, der in seiner passiven Resignation gegenüber der Realität zwangsläufig zum Opfer für die Gräueltaten der Nazis wird. Da ist die kapriziöse Sally Bowles, semi-talentiert aber dafür selbst-überschätzend, mit einem Hauch Verrücktheit, einer sexuellen Freigiebigkeit und einem hohen Maß an Unkompliziertheit, die in der damaligen Zeit sowohl für Faszination wie für Verwirrung bei ihren Mitmenschen sorgt.
„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“
Der Autor wirkt beinah neutral und begegnet seinen Protagonisten wertfrei: Er ist Beobachter, nicht Analytiker. Er beschreibt die Szenerie durchaus detailliert aber unvoreingenommen. Trotzdem schafft er Atmosphäre ohne indifferent zu erscheinen.
Er porträtiert seine Protagonisten mit Witz, vermeidet es indes, sie der Lächerlichkeit preiszugeben – im Gegenteil: Oftmals offenbart sich in den alltäglichen Szenen und den scheinbar belanglosen Begegnungen eine bemitleidenswerte Tragik. Während die ersten Kapitel noch sehr detailliert das Geschehen wiedergeben, wirkt das letzte Kapitel mit seinen kurzen Episoden wie schnelle Schlaglichter, die eine wahrgenommenen Situation fragmentiert wiederspiegeln und trotz ihrer Kürze das Vage einer zunehmend unsicheren Wirklichkeit vermitteln.
Somit ist Christopher Isherwoods Episodenroman aus dem Jahre 1939 ein literarisches Zeugnis seiner Zeit und spiegelt eine Gesellschaft im Umbruch wieder: Das Weltoffene und Tolerante der Weimarer Republik ist noch spürbar, das Kleingeistige und Menschenverachtende des Nationalsozialismus ist schon zu erahnen. Das Berlin einer Sally Bowles wird bald Vergangenheit sein: Eine Epoche neigt sich dem Ende entgegen…!
Die Büchergilde Gutenberg ist bekannt für ihre außergewöhnliche Buchgestaltung: Mit ihren illustrierten Fassungen von (modernen) Klassikern sorgt sie gerne für Furore bei Buchliebhaber*innen und heimste in der Vergangenheit schon so manchen Preis ein. In diesem Fall hat sich die Künstlerin Christine Nippoldt dem Roman von Christopher Isherwood angenommen. So wie Isherwood sich in seinen Geschichten von realen Personen inspirieren ließ, so lässt auch Nippoldt bei der Schaffung ihrer Bilder sich von realen Personen inspirieren (wie sie in einem Nachwort verrät) und stöberte in historischem Bildmaterial. Optisch erinnern ihre Kunstwerke an Linol- oder Holzdrucke und sind in einer Art Collagentechnik entstanden, indem die Farbschichten nacheinander aufgetragen wurden. Dies verleiht ihnen einen beinah morbiden Charme und sorgt für Akzente. Nippoldts Illustrationen sind sehr atmosphärisch und variieren in ihrer Farbgebung je nachdem, welche Episode des Romans zu erzählen gilt. Dabei werden die Illustrationen nicht „nur“ einfach in die Handlung eingefügt: Das gestalterische Konzept wird konsequent auf das gesamte Buch angewendet. So schmückt die passende Vignette jedes Kapitel, und Initiale stehen am Anfang eines jeden Absatzes.
erschienen bei Büchergilde Gutenberg / ISBN: 978-3763269181 / in der Übersetzung von Kathrin Passing und Gerhard Henschel
ebenfalls erschienen bei Hoffmann & Campe/ ISBN: 978-3455405002 und Atlantik/ ISBN: 978-3455650778 (alle ohne Illustrationen)
Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin (Hörspiel)
4 CDs/ Bearbeitung: Heinz Sommer/ Regie: Leonhard Koppelmann/ Originalkomposition & musikalische Leitung: Jörg Achim Keller/ es spielt die HR-Bigband/ mit Mathieu Carrière, Christopher Nell, Laura Maire, Barbara Philipp u.v.m.
„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“
Mit diesem Satz beginnt auch eines der fulminantesten Hörspiele, das ich mir je anhören durfte. Wie einem Mantra gleich bleibt Mathieu Carrière als Erzähler dieser Aussage treu: Er beobachtet und kommentiert aber urteilt nicht. Er hält Distanz zu seiner Berichterstattung, wirkt dabei aber nie unbeteiligt oder gleichgültig. Dabei verwebt sich seine Stimme immer wieder gekonnt mit der von Christopher Nell. Während Carrière den deutschen Text spricht, können wir auch dem englischen Original durch Nell lauschen, was so für eine beängstigende Nähe zum Autor sorgt. Die Stimme des Erzählers verschmilzt mit der Stimme des jungen Christopher Isherwood. Christopher Nell mimt den aufstrebenden Autor als einen unvoreingenommenen Charakter mit jugendlichem Charme, dem wir den gebildeten Literaten ebenso abnehmen wie den jungen Mann, der nur allzu empfänglich ist für die mannigfaltigen Verführungen im damaligen Berlin.
Laura Maire schafft in ihrem Porträt der Sally Bowles die gekonnte Balance zwischen Pragmatismus, Selbstüberschätzung und Verführung, ohne dass sie ins allzu Ordinäre abrutscht. Ihre Stimme pendelt zwischen unbändiger Lebenslust, verruchter Erotik und kindlicher Naivität. Barbara Philipp verleiht der Zimmerwirtin Fräulein Schroeder mit prägnanter Stimme eine liebenswerte Kauzigkeit und geizt nicht mit bodenständigen Humor. Dabei ist es eine Freude zuzuhören, wie ein tolle Schauspielerin einer literarischen Figur ihre Stimme schenkt: Aufgrund mangelnder Englischkenntnisse spricht Fräulein Schröder Christopher Isherwood immer mit „Herr Issiwu“ an, was von Philipp ganz entzückend moduliert wird.
Diese vier talentierten Schauspieler*innen führen ein hochkarätiges Ensemble an, das in div. Rollen u.a. durch Lucie Heintze, Daniela Kiefer, Ole Lagerpusch, Gisa Flake, Felix von Manteuffel, Wanja Mues, Friedhelm Ptok und Franziska Troegner auf das Vortrefflichste komplementiert wird. Diese renommierten Sprecher*innen sind sich nicht zu schade, um in die div. (Neben-)Rollen zu schlüpfen und so zur hohen Qualität dieses Hörspiels wesentlich beizutragen.
Heinz Sommer bleibt in seiner Bearbeitung der bekannten Übersetzung durch Kathrin Passing und Gerhard Henschel treu und verflechtet die Dialoge gekonnt mit dem Erzähltext. Dabei verzichtet er nur auf die beschreibenden Passagen, die über Musik, historische Original-Einspielungen (z. Bsp. Auszüge aus dem Film „Der blaue Engel“ oder ein Radio-Interview mit Max Schmeling) und den Hintergrundgeräusche dem Hörer vermittelt werden. Den musikalischen Rahmen liefert Jörg Achim Keller mit der HR-Bigband, die mit ihrem authentischen Sound das so genannte Babylon Berlin wiederaufleben lassen. Strippenzieher hinter all dieser einzelnen Komponenten und somit derjenige, der dies alles zu einem Gesamtkunstwerk bündelt, ist der Regisseur Leonhard Koppelmann, der hier eine großartige Arbeit abliefert. Er sorgt für eine enorme „Tiefe“ und verleiht diesem Hörspiel so eine unwiderstehliche Sogkraft, der ich mich nicht entziehen konnte. Ein sensationelles Hör-Erlebnis…!!!
Auf Wiedersehen! A bientôt! Good night!
erschienen bei der Hörverlag/ ISBN: 978-3844536317
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Hörexemplar!
Literaten im Fokus: Schiebung…!
Ihr Lieben,
„eigentlich“ (!) war für Oktober die nächste Runde zu „Literaten im Fokus“ geplant.
Diesmal sollte sich mein Augenmerk auf den britischen Autor Christopher Isherwood richten, der u.a. mit Leb wohl, Berlin die literarische Vorlage für das berühmte Musical Cabaret lieferte. Hierzu hätte ich wie gewohnt den Autor zuerst mit einem Porträt gewürdigt, um ihn dann anhand von vier literarischen Werken vorzustellen, die entweder aus seiner Feder stammen oder von ihm handeln. Abschließend hätte ich Euch dann eine*n seiner Wegbegleiter*innen präsentiert. Diese Abfolge an Beiträgen zu erstellen, bereitet mir durchaus viel Spaß, ist aber auch sehr zeit- und arbeitsintensiv.
Doch irgendwie fühle ich mich momentan etwas müde, und alles in mir sehnt sich nach einer etwas weniger anspruchsvollen Lektüre. Darum mache ich mich einer geplanten Schiebung schuldig und habe beschlossen, den Christopher (😉) ins nächste Jahr zu verrücken. Ich bitte um/hoffe auf Euer Verständnis!
Selbstverständlich wird es im Oktober Rezensionen von mir zu lesen geben: Den einen oder anderen außergewöhnlichen Bildband möchte ich gerne vorstellen, bevor ich Euch mit wunderbaren Weihnachtskrimis schon vorab auf das schönste Fest des Jahres einstimme. Wie jedes Jahr steht plötzlich und unerwartet der Heilige Abend vor der Tür, und Ihr hättet dann keine mörderische Lektüre. Das kann ich doch nicht zulassen. Darum: Ihr dürft gespannt sein…!
Liebe Grüße
Andreas
Literaten im Fokus…
Manchmal ist es wie verhext: Ohne eigenem Zutun und somit beinah wie aus heiterem Himmel fallen mir manchmal Bücher zu Autorinnen und Autoren in den Schoss, die sich wunderbar eignen, um im überschaubaren Rahmen einer kleinen Monats-Reihe hier auf meinem Blog rezensiert zu werden. Dabei handelt es sich einerseits um Original-Werke der jeweiligen Autorin/ des jeweiligen Autors aber auch um Begleit-Werke, die auf die originalen Werke Bezug nehmen, von ihnen inspiriert wurden oder deren Autor*innen als Zeitzeugen fungieren.
Bei allen 4 Autor*innen handelt es sich um bekannte Namen in der Literatur: Alle werden von mir gleichermaßen hochgeschätzt und sind mit ihren Werken durchaus schon häufiger auf meinem Blog in Erscheinung getreten. Doch nun möchte ich Euch nicht länger auf die Folter spannen und Euch die Namen meiner 4 Auserwählten verraten…!
Ladies First: Ich beginne meine kleine Reihe im April mit Agatha Christie, der unumstrittenen „Queen of Crime“. Im Juni werfen wir einen (Augen-)Blick auf das Schaffen vom großen Literaten Erich Kästner. Der August offenbart uns das eine oder andere Highlight aus dem Œuvre von Georges Simenon. Im Oktober verweilen wir einen Moment bei Christopher Isherwood und ergötzen uns an seinem Talent.
Wir Buch-Blogger neigen dazu, allzu häufig auf die Verlagsvorschauen mit den Neuerscheinungen zu schielen und übersehen darüber leicht die literarischen Schätze der Vergangenheit. Vielleicht kann ich mit meiner kleinen Reihe dem ein wenig entgegenwirken und hoffe, dass Euch diese kleinen Retrospektiven viel Freude bereiten!!!
[Rezension] Christopher Isherwood – Leb wohl, Berlin
Willkommen! Bienvenue! Welcome!
Berlin, Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts: Der junge Schriftsteller Christopher Isherwood kommt in diese pulsierende Metropole auf der Suche nach Inspiration für einen Roman. Inspiration findet er nicht – dafür verleiten ihn die vielen Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten: Persönlichkeiten, die nur eine Stadt wie Berlin hervorbringen oder anlocken kann.
Inspiration! – Inspiration brauchte der reale Isherwood nicht zu suchen! Inspiration hatte Isherwood zuhauf direkt vor seiner Nase!
Da ist seine ältliche Zimmerwirtin Fräulein Schroeder, die ihren besseren Zeiten hinterher träumt und trauert, über ihre Mieter stellvertretend am Leben teilnimmt und sich gezwungenermaßen mit jeglicher Regierung akklimatisiert. Was bleibt ihr auch übrig: Wo soll sie sonst hin?
Da ist der junge Otto Nowak, der mit seiner Familie in einem Hinterhof des Hinterhofs eines Hinterhofs lebt, und die in ihrer erbärmlichen Trostlosigkeit willig den Nährboden bietet für die Versprechungen der Nazis.
Da ist der intellektuelle Bernhard Landauer, Geschäftsmann aus dem noblen Villenviertel, der in seiner passiven Resignation gegenüber der Realität zwangsläufig zum Opfer für die Gräueltaten der Nazis wird.
Da ist die kapriziöse Sally Bowles, semi-talentiert aber dafür selbst-überschätzend, mit einem Hauch Verrücktheit, einer sexuellen Freigiebigkeit und einem hohen Maß an Unkompliziertheit, die in der damaligen Zeit sowohl für Faszination wie für Verwirrung bei ihren Mitmenschen sorgt.
„Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“
Der Autor wirkt beinah neutral und begegnet seinen Protagonisten wertfrei: Er ist Beobachter, nicht Analytiker. Er beschreibt die Szenerie durchaus detailliert aber unvoreingenommen. Trotzdem schafft er Atmosphäre ohne indifferent zu erscheinen.
Er porträtiert seine Protagonisten mit Witz, vermeidet es indes, sie der Lächerlichkeit preiszugeben – im Gegenteil: Oftmals offenbart sich in den alltäglichen Szenen und den scheinbar belanglosen Begegnungen eine bemitleidenswerte Tragik. Während die ersten Kapitel noch sehr detailliert das Geschehen wiedergeben, wirkt das letzte Kapitel mit seinen kurzen Episoden wie schnelle Schlaglichter, die eine wahrgenommenen Situation fragmentiert wiederspiegeln und trotz ihrer Kürze das Vage einer zunehmend unsicheren Wirklichkeit vermitteln.
Somit ist Christopher Isherwoods Episodenroman aus dem Jahre 1939 ein literarisches Zeugnis seiner Zeit und spiegelt eine Gesellschaft im Umbruch wieder: Das Weltoffene und Tolerante der Weimarer Republik ist noch spürbar, das Kleingeistige und Menschenverachtende des Nationalsozialismus ist schon zu erahnen. Das Berlin einer Sally Bowles wird bald Vergangenheit sein: Eine Epoche neigt sich dem Ende entgegen…!
Auf Wiedersehen! A bientôt! Good night!
erschienen bei Hoffmann & Campe/ ISBN: 978-3455405002
[Musical] John Kander – CABARET / Stadttheater Bremerhaven
Buch von Joe Masteroff nach dem Stück Ich bin eine Kamera von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood / Gesangstexte von Fred Ebb / Musik von John Kander / Deutsch von Robert Gilbert / in der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker
Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus
Clifford Bradschaw tritt auf. Er ist Schriftsteller aus Amerika und auf dem Weg ins Berlin der Weimarer Republik, um dort im pulsierenden Leben der Großstadt endlich die Inspiration für seinen großen Roman zu finden. Auf der großen Leinwand flackern die ersten Bilder und formen sich zu Konturen: Clifford sitzt im Zugabteil und lernt den Devisenschmuggler Ernst Ludwig kennen, der ihm nicht nur eine Bleibe vermittelt sondern auch die Freundschaft anbietet. Clifford nimmt – trotz der Warnung des windigen Conférenciers – beides an,…
…und taucht am Silvesterabend des Jahres 1929 in die dekadente Welt dieser Metropole ein, lernt Nachtclub-Sängerin Sally Bowles kennen und lieben, sieht wie die zarte, späte Liebe seiner Wirtin Fräulein Schneider zum jüdischen Obsthändler Herr Schulz aufgrund der politischen Entwicklungen zerbricht und erkennt die Nationalsozialisten, die immer mehr Einfluss gewinnen, als Bedrohung der Freiheit des Einzelnen und als Zerstörung der Grundfeste der demokratischen Gesellschaft.
Harter Tobak für ein Musical…! „Cabaret“ wird im Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven darum auch unter „Schauspiel“ geführt. Und so sind die Hauptrollen (mit einer Ausnahme) aus dem Schauspielensemble besetzt. Zudem wurde auf das große Orchester verzichtet: Die Musik klingt in der Besetzung der 6-Mann-starken Band unter der Leitung von Jan-Hendrik Ehlers darum auch mehr nach Weill/ Brecht als nach Broadway-Sound.
Während in anderen Inszenierungen das Hauptaugenmerk gerne eher auf Sally Bowles und dem Conférenciers liegt, steht hier der Schriftsteller Clifford Bradshaw im Mittelpunkt und rückt so das Musical näher an seine Vorlage, der Erzählung „Goodbye to Berlin“ von Christopher Isherwood. Henning Bäcker füllt diese Aufgabe bravourös aus. Er trägt diese anspruchsvolle Rolle, ist nicht nur Erzähler – Nein! – er ist der Chronist seiner Zeit: Nah genug, um betroffen zu sein/ fern genug, um ein krankes System zu erkennen! Bäckers Clifford Bradshaw bleibt, trotz aller Ambivalenz und sich den Verlockungen kurzfristig hingebend, das Gewissen des Stücks: Für ihn steht die Menschlichkeit über allem!
Die Sally Bowles von Dorothea Maria Müller (Gast und einziger Musicalprofi im Ensemble) erscheint anfangs als oberflächliches Flittchen, der Spaß (auch am Sex) und die eigene, klägliche Karriere wichtiger zu sein scheinen, als eine ernste Beziehung oder die angespannte politische Atmosphäre. Erst im 2. Akt ändert sich diese Haltung, als Sally schmerzhaft erkennen muss, dass sie selbst für ihr Tun (oder auch Nicht-Tun) verantwortlich ist. Hier hat Dorothea Maria Müller die Gelegenheit nicht nur gesanglich sondern auch schauspielerisch zu glänzen: Ihre Konfrontation mit Cliff ist voller Dramatik und geht unter die Haut. Zudem verfügt Müller über eine tolle Stimme und bringt die Song-Klassiker dank ihrer individuellen Phrasierung zum Blühen.
Sascha Maria Icks wurde unlängst in einem Artikel eines Boulevard-Magazins als „Grande Dame“ des Stadttheater Bremerhaven bezeichnet. Soweit würde ich nicht gehen: Klingt dies doch zu sehr nach nahender Rente, und davon ist sie weit entfernt. Im Gegenteil: Auch in der Rolle des Conférenciers zeigt sie wieder ihre Kunst. Ihr Conférencier ist ein anpassungsfähiges Wesen (sexuell/ politisch) voller Ironie und der diabolische, scheinbar unberührbare Strippenzieher, dem menschliche Schicksale oder politische Entwicklungen „am A…“ vorbei geht. Selten wird diese Rolle von einer Frau verkörpert: Dabei ist sie mit ihrer Ambivalenz, Androgynität und sexueller Flexibilität auf kein Geschlecht festgelegt. Icks ist in guter Gesellschaft: Bei der deutschsprachigen Ur-Aufführung 1970 am Theater an der Wien wurde diese Rolle von der großartigen Blanche Aubry verkörpert.
Isabel Zeumer und Kay Krause als Fräulein Schneider und Herr Schulz glänzen nicht: Sie schimmern nur zart inmitten dieses ganzen grellen Tands und Flitters und berühren darum im Spiel umso mehr. Gerade die Zerstörung dieses kleinen Glücks der älteren Menschen berührt beinah mehr als die große Dramatik zwischen Sally und Cliff.
Jakob Tögel ist schon rein optisch der Vorzeige-Deutsche: groß und blond. Er legt die Rolle des Ernst Ludwig anfangs beinah zu sympathisch an. Er ist der attraktive Verführer, der scheinbar ungefährlich, dafür sexuell sehr aufgeschlossen, das Vertrauen seiner Mitmenschen gewinnt, um dann später die Fratze des Nationalsozialisten zu zeigen.
Mark Zurmühle ist eine aufwühlende Inszenierung gelungen: Der erste Akt plätschert scheinbar belanglos vor sich hin. Das Amüsement steht im Vordergrund. Alles scheint banal! Umso mächtiger treffen das Publikum die Entwicklungen des 2. Aktes und machen betroffen – ähnlich wie die politischen Entwicklungen unserer Gegenwart: erst in Sicherheit wiegen, dann zuschlagen! Einzige (kleine) Wermutstropfen dieser Inszenierung waren für mich die farblos wirkende Choreografie von Andrea Danae Kingston und die wenig individuelle Zeichnung der Kit-Kat-Girls und -Boys (Vielleicht auch so gewollt?).
Eine absolut sehenswerte „Cabaret“-Inszenierung, bei der Schauspiel vor Show steht!
CABARET wird am Stadttheater Bremerhaven noch bis zum Ende der Spielzeit 2018/19 gezeigt.