[Rezension] Tomasz Jedrowski – IM WASSER SIND WIR SCHWERELOS

Anfang Februar des Jahres 2021 erreichte mich eine Nachricht von der Buchhändlerin meines Vertrauens: „Tolles Buch, unbedingt lesen, lass dir ein Rezi-Exemplar schicken, wenn du keins mehr bekommst, leihe ich Dir meins.“ Die Rede war von IM WASSER SIND WIR SCHWERELOS von Tomasz Jedrowski. Ich bestellte ein Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt wurde, und begann voller Vorfreude und Neugier zu lesen…!

Ludwik ist verliebt. Es ist der Sommer nach dem Examen, ein Sommer, in dem alles anders wird. Denn Ludwik ist verliebt in Janusz, eine Unmöglichkeit in Polen im Jahr 1980. Zu zweit verbringen sie magische Tage an einem verborgenen See im Wald. Hier können sie sich einander offenbaren, hier erleben sie die große Liebe. Doch irgendwann ist der Sommer zu Ende, sie müssen zurück in die Stadt. Die Welt befindet sich im Umbruch, Ludwik träumt von der Flucht in den Westen, Janusz wählt eine Karriere innerhalb des Systems. Ludwik muss sich entscheiden: für ein Leben voller Heimlichkeiten – oder den Mut, er selbst zu sein.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Über die ersten Seiten schien ich damals nur so zu fliegen. Dann bahnte sich bereits vor Ostern ein kleines persönliches Drama an, das sich über die weiteren zwei Wochen nach Ostern ausdehnen sollte. Mein Lesefluss wurde abrupt unterbrochen und tat sich in den Wochen danach extrem schwer, wieder in einen entspannten Flow zu geraten. Ich begann wieder mit der Lektüre des Romans. Doch nach nur wenigen Seiten schlug ich den Buchdeckel wieder zu. Irgendwie war aufgrund der Anspannung der vorangegangenen Wochen meine Leselust in Mitleidenschaft gezogen, und dieser Roman war leider nicht dazu geeignet, mich aus dieser Lese-Lethargie zu befreien. So legte ich ihn vorerst – durchaus mit Bedauern – zur Seite und hoffte auf eine weitere gemeinsame Chance zu einem späteren Zeitpunkt.

Im Laufe der Jahre bei Durchsicht meines SuBs hielt ich diesen Roman immer wieder in den Händen. Oft haderte ich mit mir und fragte mich, ob es nicht besser wäre, wenn ich ihn ungelesen gehenlasse – vor allem nachdem auch mein zweiter Versuch der Annäherung ähnlich scheiterte wie der erste Versuch. Doch irgendetwas hielt mich davon ab: Die Zeit war (noch) nicht reif, ihm die Chance zu geben, dank einem der nahen öffentlichen Bücherschränke ein neues Zuhause zu finden. Und so blieb er vorerst bei mir,…

…bis die Zeit für uns beide reif zu sein schien: Schmerzvoll, melancholisch und bittersüß erzählt Tomasz Jedrowski eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse im Polen der 80er Jahre. Dabei ist es eigentlich unerheblich um welches Geschlecht es sich handelt. Hier gibt es zwei Menschen, die trotz ihrer großen Liebe zueinander nicht zueinander kommen können. Die Gründe können vielfältig sein und entziehen sich jeglicher Beurteilung Außenstehender. Was bleibt, ist eine große Tragik, ein großer Verlust und eine Lücke, die nicht gefüllt werden kann. Sie kann durchaus verdeckt werden, wird aber immer spürbar bleiben. Den inneren Barrieren unserer Helden stellt der Autor ein gesellschaftliches System gegenüber, das sie zusätzlich von außen hemmt, einengt und so zu ihren individuellen Handlungen „zwingt“.

Tomasz Jedrowski entlockt seinen Worten eine geballte emotionale Wucht – mal zart, mal heftig, immer echt. Ein Humor, der vielleicht lindert oder entschärfend wirkt, war für mich kaum wahrnehmbar. Er wurde von mir aber auch weder vermisst noch gewollt, da die Figuren so authentisch, so lebendig sind, und jedweder Humor die fragile Bitterkeit der Emotionen unangebracht verwässert hätte.

Gleichzeitig erinnerte mich diese Geschichte an meine eigene Suche nach Identität in den 80ern. Wie unsere Romanhelden fragte auch ich mich, wer ich bin, und (vor allem) was bin ich? Beim Lesen schien es mir, als würde ich Ludwiks Schmerz, der ein Sehnen nach etwas Unaussprechlichem erzeugen kann, körperlich spüren. Doch auch Janusz Ängste nach Ablehnung und Ausgrenzung konnte ich nur allzu gut nachempfinden. Tröpfchenweise sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass ich wohl deshalb intuitiv mit diesem Roman gefremdelt hatte, da er so nah an meine eigenen Geschichte, an meinen eigenen Empfindungen, an meinem eigenen Erlebten ist.

Tränen rannen mir beim Lesen über die Wangen. Die Brust wurde mir eng, um sich dann wieder mit Luft zu füllen und zu weiten. Die Wohltat eines frischen Atemzugs signalisierte mir: Es geht weiter! Es geht immer weiter! Irgendwie!


erschienen bei Hoffmann und Campe/ ISBN: 978-3455011173/ in der Übersetzung von Brigitte Jakobeit
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Agatha Christie – EIN MORD WIRD ANGEKÜNDIGT

Es war an einem dieser Tage, an dem es mal wieder nichts im Fernsehen gab – zumindest nichts, das mich hätte interessieren können. Und so warf ich einen Blick in unsere gut gefüllte private Mediothek und pickte mir die TV-Verfilmung zu Agatha Christies EIN MORD WIRD ANGEKÜNDIGT heraus, eine dieser gelungenen Fernsehadaptionen mit Geraldine McEwan als Miss Marple sowie Zoë Wanamaker und Elaine Paige in weiteren Rollen. Wie sehr gelungen diese Adaption war, das sollte ich bei meinem erstmaligen Lesen des Original-Romans feststellen. Denn genau dazu hatte mich dieser gemütliche Fernsehabend verleitet…!

„Am Freitag, den 29. Oktober, wird in Little Paddocks um 18.30 Uhr ein Mord stattfinden. Freunde werden gebeten, diesen Hinweis als Einladung aufzufassen.“ So steht es in einer Anzeige im Lokalblatt des Städtchens Chipping Cleghorn. Die Bewohner sind irritiert, aber auch neugierig. In Scharen strömen sie zum Gutshaus. Während ihnen Sherry gereicht wird, geht plötzlich das Licht aus, und ein Schuss fällt. Als das Licht wieder angeht, offenbart sich ein grausames Bild.

 (Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Vieles wurde Agatha Christie schon vorgeworfen: Ihre Werke wären für heutige Zeiten (!) zu bieder, zu langatmig und unglaubwürdig sowie die Figuren zu elitär und die Plots an den Haaren herbeigezogen. Dabei vergessen die Unken unter den Leser*innen, dass manche ihrer Werke vor mehr als hundert Jahren entstanden sind.

(Ironie an) Aber als verantwortungsvolle und in die Zukunft schauende Autorin hätte sie da schon ihre Werke „für heutige Zeiten“ schreiben können, nicht wahr? Doch wann genau wären sie gewesen, diese „heutigen Zeiten“? (Ironie aus)

Okay, ich schweife ab! Was ich vielmehr ausdrücken möchte, ist folgendes: Agatha Christie war ein Kind „ihrer Zeit“, und somit hat sie damals durchaus „für heutige Zeiten“ geschrieben. Wer auch immer dies nicht versteht, der würde sicherlich auch kritisieren, dass William Shakespeares Verse „für heutige Zeiten“ zu schwülstig seien.

Was man Agatha Christie definitiv nicht vorwerfen kann, ist, dass sie es nicht verstanden hätte, unterhaltsame Geschichten zu schreiben, die auch noch „für heutige Zeiten“ mit unvorhersehbaren Twists überraschen – wie auch bei EIN MORD WIRD ANGEKÜNDIGT. Hier geizte sie zudem nicht mit einer Vielzahl an Verwicklungen und prägnanten Figuren, zwischen denen Miss Marple dezent aber nachdrücklich agierte. Beinah schien es, als wäre es dieser kleinen Lady unangenehm, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Umso mehr bewunderte ich sie abermals für ihre stoische Ruhe, ihrem unaufgeregten Auftreten und ihrem wachen, unverstellten Verstand.

Zudem mochte ich das Setting, das Christie erschuf, sehr: Alles wirkte so friedlich, ländlich harmonisch, beinah bieder – und plötzlich passierten diese schändlichen Morde (Ja, es sind mehrere!), und das Bild der perfekten Idylle bekam nicht nur ein paar Kratzer: Es wurde vielmehr gänzlich zerstört. Nichts war danach, wie es zuvor schien.

Apropos Fernsehadaption: Ich wusste durchaus bereits, dass Christie eine wahre Meisterin im Kreieren von Dialogen war, und doch staunte ich, als ich den Roman las und feststellte, dass genau diese Dialoge beinah Eins-zu-eins dem Roman entnommen wurden, ihren Weg ins Drehbuch und somit in die Verfilmung fanden. Großartig!

Allen Unkenrufern zum Trotz: Für mich war, ist und bleibt Agatha Christie ein Garant für gute Krimi-Unterhaltung!


erschienen bei Atlantik / ISBN: 978-3455650242 / in der Übersetzung von Sylvia Spatz
ebenfalls erschienen als Hörbuch bei Der Hörverlag / ISBN: 978-3844534665

[Rezension] MIT MUSIK GEHT ALLES BESSER & MUSIK IST, WAS ZUSAMMEN KLINGT/ aus der Reihe DER ROTE FADEN

Kennt ihr schon die Reihe DER ROTE FADEN aus dem Coppenrath Verlag? Diese entzückenden Büchlein, die nicht größer sind als ein Oktavheft? Nein! Na, dann wird es aber höchste Zeit! Denn in der Zwischenzeit gibt es unzählige dieser kleinen Heftchen zu ebenso vielen Themen und Anlässen – alle nur jeweils 20 Seiten stark und mit der prägnanten roten Fadenheftung. Zudem sind sie nicht schwerer als ein so genannter Kompaktbrief (Porto: € 1,10) und können in einem Umschlag ganz wunderbar statt einer Grußkarte verschickt werden. Sie sind auch nicht teurer als diese, bereiten dem Adressaten allerdings sicher viel länger Freude. Zu Weihnachten aber auch zu Geburtstagen habe ich sie bereits nur allzu gerne verschickt.

Nun habe ich mir selbst – zwecks Überbrückung der theaterlosen Zeit – zwei Exemplare gegönnt, die sich mit der Musik beschäftigen. Bei MIT MUSIK GEHT ALLES BESSER (von 2018) findet ihr viele kluge Aphorismen, leider vornehmlich von Männern (mit einer Ausnahme: Sophie Scholl), die sowohl von bekannten Philosophen, Dichtern und Denkern als auch von Musikschaffenden wie Komponisten und Dirigenten stammen. Bei MUSIK IST, WAS ZUSAMMEN KLINGT (von 2024) ist man diesem Konzept weitestgehend treu geblieben, hat allerdings auch einige längere Texte und Gedichte hinzugefügt sowie mehr kluge Frauen zu Wort kommen lassen.

Mit Freude las ich all diese weisen Worte und fühlte mich mal wieder sehr bestätigt, dass Musik eine wunderbare Errungenschaft ist, die so wohltuend auf Geist, Körper und somit auf unser Wohlbefinden positiven Einfluss nimmt.

Zudem schienen mir die Aphorismen nicht willkürlich aneinander gereiht: Vielmehr meinte ich einen ROTEN FADEN (!) zu entdecken. Da standen Zitate zueinander, die in ihrer Kombination herrlich amüsant waren. So behauptete Johannes Brahms „Studiere Bach. Dort wirst du alles finden.“, während Johann Sebastian Bach ein Jahrhundert zuvor seine musikalischen Fähigkeiten wie folgt beschrieb „Alles, was man tun muss, ist die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen.“. Auch entdeckte ich in beiden Büchlein nur zwei Texte, die identisch waren aber an der jeweiligen Stelle (Stichwort: ROTER FADEN) durchaus Sinn machten.

Apropos Jahrhunderte: Die Herkunft der Zitate erstrecken sich über mehrere Epochen. Und so unterschiedlich die Zeiten ihrer Entstehung auch waren, sie alle huldigen die Musik in all ihren Facetten. Da dürfen die Titel (incl. ihrer Untertitel) dieser reizenden Heftchen durchaus programmatisch verstanden werden:

MIT MUSIK GEHT ALLES BESSER
Von der Kunst der Harmonie und Lebensfreude
&
MUSIK IST, WAS ZUSAMMEN KLINGT
…und was uns zusammenbringt
💜


erschienen bei Coppenrath/ ISBN: 978-3649629818 & 978-3649647058

[Rezension] Josephine Tey – EIN SCHILLING FÜR KERZEN

Er ist nun auch aus seinem Schlummer erwacht. Vielmehr wurde er vom Verlag wieder wachgeküsst, und da lag er nun vor mir – der letzte Fall von Inspector Alan Grant, mit dem der Oktopus Verlag das halbe Dutzend voll macht und die Serie abschließt. Wobei: Aufgrund der nicht nachvollziehbaren Veröffentlichungsstrategie des Verlages, bei der die Bände nicht chronologisch sondern wild durcheinander veröffentlicht wurden, handelt es sich bei EIN SCHILLING FÜR KERZEN zwar durchaus um den letzten Roman dieser Serie, der als Neu-Auflage das Licht der Bücherwelt erblickte, allerdings innerhalb der Serie haben wir es hier erst mit Alan Grants zweiten Fall zu tun.

Verwirrend?! Ja, durchaus! Doch dies ist leicht zu verschmerzen, da die Episoden alle für sich stehen, und die privaten Entwicklungen im Leben des Inspectors auch bei dieser „gemischten“ Reihenfolge trotzdem nachvollziehbar bleiben und somit die Freude an der Lektüre niemals schmälern.

Westover, ein beschauliches Städtchen an der Südküste Englands. Hier wird an einem klaren, sonnigen Morgen die berühmte Schauspielerin Christine Clay tot an den Klippen gefunden. Was zunächst nach Selbstmord oder einem Badeunfall aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Verdächtige gibt es wie Sand am Meer, allen voran der mittellose Tisdall. Er war zur Tatzeit vor Ort – und er profitiert von dem Tod des Weltstars: Kurz zuvor hat sie ihm ein stattliches Erbe zugedacht. Nachdem Tisdall spurlos verschwindet und ausgerechnet die Tochter des Polizeichefs ihn entlastet, wird der Fall noch mysteriöser: Wo war Clays Ehemann zur Tatzeit? Wie konnte die Astrologin Lydia ihren Tod vorhersagen? Und was hat der dubiose Bruder mit der Sache zu tun, dem Clay lediglich einen „Schilling für Kerzen“ vermachte? Inspector Alan Grant von Scotland Yard übernimmt den Fall, der bald zum Albtraum wird: zu viele Hinweise, zu viele Motive und zu viele Verdächtige, die der Schauspielerin nichts als den Tod wünschten…

 (Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Inspector Alan Grant: Ich habe diesen ruhigen, besonnenen Ermittler sehr zu schätzen gelernt und verspüre ein wenig wehmütigen Trennungsschmerz bei dem Gedanken, dass es keine weiteren neuen Begegnungen mit ihm geben wird. Umso dankbarer bin ich, dass Autorin Josephine Tey uns wenigstens sechs Romane mit ihm geschenkt hat, die einen so prägenden Eindruck hinterlassen haben, dass sie stets ihren Platz in der „Hall of Fame“ des goldenen Zeitalters der Kriminalliteratur behalten werden.

Alle bereits bei WARTEN AUF DEN TOD erwähnten Qualitäten der Autorin im Kreieren einer spannenden Geschichte hat sie hier nochmals verfeinert. Es schien mir, als hätte sie intensiv am Charakter unseres Hauptdarstellers gearbeitet und ihn weiter im Detail „ausgeformt“. Diese stetige Entwicklung unseres Helden führte sie übrigens konsequent in den Folge-Romanen fort und zeichnete so eine komplexe Figur voller Empathie und Menschlichkeit.

Doch bei EIN SCHILLING FÜR KERZEN hatte ich zudem den Eindruck, dass sie im besonderen Maße auch den Nebenfiguren ihre Beachtung schenkte und uns einen bunten Strauß praller Typen kredenzte. Da haben wir den scheinbar unschuldig verdächtigten Naiven: Robert Tisdall wird so offensichtlich sympathisch gezeichnet, dass ich nicht umhin kam, ihn zu verdächtigen (Ob er tatsächlich der Täter ist, wird hier nicht verraten.). Daneben wirkt Jammy „Knüller“ Hopkins beinah wie die Karikatur eines schmierigen Klatschreporters, der rücksichtslos unverfroren auftritt und dabei sehr amüsant ist. Zudem machen wir die erfreuliche Bekanntschaft mit einer äußerst patenten jungen Dame: Erica Burgoyne ist die 16-jährige Tochter des Chief Constable Colonel Burgoyne, die mit einer Menge Grips in ihrem Schädel und einem so gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet ist, dass sie sich von den Allüren der Erwachsenen nicht irritieren lässt. Doch auch Williams, der treue Assistent von Grant, bekam mehr Kontur und entpuppte sich als durch und durch feiner Kerl, der stets loyal hinter, vor oder neben seinem Chef steht – je nachdem, wo er gerade gebraucht wird.

Josephine Tey zählt für mich zu eine der ganz großen Kriminalautorinnen und braucht einen Vergleich mit populäreren Kolleginnen der schriftstellerischen Zunft wahrlich nicht fürchten. Umso mehr freut es mich, dass sie und ihre Werke verdientermaßen endlich wieder mehr Beachtung erfahren.


erschienen bei Oktopus (Kampa) / ISBN: 978-3311300731 / in der Übersetzung von Manfred Allié

[Rezension] Susa Hämmerle – DORNRÖSCHEN. Das Ballett nach Peter Iljitsch Tschaikowsky/ mit Illustrationen von Anette Bley

Krachend fallen nach und nach die Eingangstüren der Theater unserer Republik in die Schlösser. Unzählige Schlüssel drehen sich in eben diesen, um sie zu verschließen. Frühestens in 8 Wochen drehen besagte Schlüssel sich wieder in die andere Richtung, um dem Publikum zur Spielzeit 2025/2026 wieder Einlass in die heiligen Hallen der Musentempel zu gewähren. Auch mein Stamm-Theater hat sich in die Sommerpause verabschiedet, und so versuche ich mich – wie in jedem Jahr – mit Lektüre rund um das Thema Theater abzulenken, um die theaterlose Zeit möglichst kurzweilig zu überstehen.

Mit DORNRÖSCHEN, dem zauberhaften Märchenballett von Peter Iljitsch Tschaikowsky habe ich mir ein Werk ausgesucht, das in der nächsten Saison auch an meinem Stamm-Theater zur Aufführung kommen wird. Beim 3. Familienkonzert wird das Philharmonische Orchesters Bremerhaven unter der musikalischen Leitung von Hartmut Brüsch die gelungene Kooperation mit der Ballettschule Dance Art fortführen. Irina und Marius Manole werden mit den Schüler*innen ihrer Ballettschule sicherlich wieder eine wunderbar kindgerechte wie phantasievolle Choreografie für das junge Publikum erstellen. Bis es soweit ist, muss ich mich leider beinah ein Jahr gedulden.

Wie schön, dass ich mich mit diesem Buch ein wenig trösten konnte: Und so warf ich die beigefügte CD in den Player, setzte mich mit dem Buch bewaffnet gemütlich in meinen Lesesessel, schlug die erste Seite auf und drückte bei der Fernbedienung auf „Play“…


HINWEIS: Bei der obigen Aufnahme handelt es sich nicht um die, die dem Buch beigefügt ist. Es ist eine ältere Aufnahme, und sie dient nur dazu, einen Eindruck von der Musik zu vermitteln.

Susa Hämmerle lieferte wieder eine wunderbare Nacherzählung der Handlung und würzte diese mit witzigen Dialogen, die den Personen mehr Profil verliehen. Sie schuf so eine gelungene Textfassung, die zum Vorlesen prädestiniert ist und genügend Anknüpfungspunkte für die Musik bietet.

Doch so wohlgeraten der Text auch ist, die Schwerpunkte und somit das Hauptaugenmerk liegen bei einem MUSIKalischen BILDerbuch aus dem Annette Betz-Verlag nun einmal auf MUSIK und BILD.

Bei der beigefügten Aufnahme griff man abermals auf das Archiv des renommierten NAXOS-Labels zurück, deren Einspielungen von einer hohen Qualität sind und somit oftmals eine gute Wahl darstellen. Diesmal entschied man sich für eine Einspielung aus dem Jahre 1988 mit dem Tschechisch-Slowakischem Staatsorchester unter der Leitung von Andrew Mogrelia, die Tschaikowskys Kompositionen mit der richtigen Mischung aus theatralem Druck und träumerischen Schmalz „über die Rampe“ brachten. Dabei wurde die beinah 3-stündige Original-Aufnahme auf kindgerechte 62 Minuten eingekürzt, wobei die bekannten Melodien erhalten blieben, allerdings einige Passagen etwas abrupt endeten – ein Umstand, der für die Kids sicherlich eher von geringem Belang ist.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Schon mit dem ersten Bild verdeutlicht die Künstlerin Anette Bley nicht nur die enge Bindung des Werkes zur Bühne, sondern sie schuf auch einen gelungenen Einstieg in die Geschichte. Als Betrachtender dieses Bilderbuches versetzt sie mich in die Rolle des Zuschauers. Ich sitze im Saal eines Theaters und werfe einen Blick über den Orchestergraben zur Bühne. Während die Musiker noch ihre Instrumente stimmen, sitzt der Komponist höchstpersönlich am linken Bühnenrand und notiert in aller Eile noch einige Änderungen in seiner Partitur. Von der Seitenbühne schlendern die Protagonist*innen auf die Bühne, huschen durch den leicht geöffneten Vorhang und begeben sich im dahinter befindlichen Bühnenbild in Position. Es bleiben nur noch wenige Augenblicke bis zum Beginn der Vorstellung, der Dirigent hebt seinen Taktstock, und dann kann das Spiel beginnen.

Weich und fließend fügen sich die Figuren in ein detailreiches und zauberhaftes Setting. Jede Figur überzeugt durch eine prägnante Physiognomie und einem individuellen Kostümdesign, die es den Kids leichter macht, die Figuren auch auf den nachfolgenden Illustrationen wiederzuerkennen. Doch unbedingt sollten nicht nur die Hauptpersonen beachtet werden. Vielmehr bin ich mit meinem Blick auch an den Rand des Geschehens gewandert und habe dort etliches entdeckt, das mich sehr amüsiert hat. Da lohnt es sich, den Fokus auch auf die Nebenrollen zu lenken und darauf zu achten, wo sie im Laufe der Geschichte immer mal wieder auftauchen. Da lugt mal hier eine markante Nase um die Ecke, da schauen mal dort Füße hinter dem Sessel hervor, und auch das, was ich durch eine geöffnete Tür im Hintergrund erspähte, erheiterte mich sehr.

Anette Bley hat wahrlich märchenhafte Bilder kreiert, bei denen ich besonders die wundervolle Harmonie der Farben hervorheben möchte, die dafür sorgt, dass die Illustrationen beinah sphärisch wirken.

Schier endlos lange elf Monate dauert es noch, bis die entzückenden Figuren dieses Märchenballetts auf der Bühne meines Stamm-Theaters ihre Gestalt annehmen und endlich zu tanzen beginnen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bis dahin wirklich so viel Geduld aufbringen kann! 🤩


erschienen bei Annette Betz / ISBN: 978-3219112122

[Rezension] Alison Green – WILLKOMMEN. Ein Buch über Freundschaft/ mit Illustrationen von Axel Scheffler

„Willkommenskultur“ – dieses Wort war im Zuge der (s.g.) Flüchtlingskrise in aller Munde. Doch was versteckt sich hinter diesem Wort? „Willkommenskultur“ beschreibt eine positive Einstellung und ein wertschätzendes Verhalten gegenüber Menschen, die in einem Land willkommen geheißen werden. Grundvoraussetzung für diese positive Einstellung sind Offenheit und Akzeptanz bei allen Beteiligten. Aber eine „Willkommenskultur“ spielt sich nicht nur auf der großen Weltbühne sondern auch im Kleinen, in meiner Gemeinde, in meiner Nachbarschaft, bei mir zuhause ab. Auch dort ist es wichtig, dass ich Menschen, die vielleicht nicht aus dem mir bekannten Erfahrungsraum stammen, mit Offenheit und Akzeptanz begegne, mit dem Wunsch, dass wir eine gute Zeit miteinander verbringen.

Wenn mich Fremdartiges ängstigt, dann hilft es, es besser kennenzulernen. Wir machen uns einander bekannt in der Hoffnung, dass aus Fremden Freunde werden. Dieses Verhalten kann nicht früh genug gefördert werden. Besonders Kinder sind da mit einer wunderbaren Neugier und einer bewundernswerten Unbefangenheit ausgestattet. Beides wird erst durch den Einfluss Erwachsener begrenzt. Dieses reizende Bilderbuch setzt dem ein Statement entgegen und feiert die große bunte Vielfalt.

Hier ist jeder herzlich willkommen – ob er klein ist oder groß, ob er flattert oder springt. Viele nette Tiere zeigen dir, was Freundschaft bedeutet und wie man andere willkommen heißt: zusammen spielen und lachen, genauso wie etwas miteinander zu teilen und sich nach einem Streit wieder vertragen. Manchmal reichen schon kleine Gesten, wie jemanden an die Pfote zu nehmen, damit sich jeder angenommen fühlt. Stell dir mal vor, alle in dieser Welt wären Freunde und jeder würde sich willkommen fühlen. Lasst uns alle mithelfen, damit das gelingt.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages bzw.
dem Klappentext des Buches entnommen!)


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Axel Scheffler – Illustrator vom allseits bekannten „Grüffelo“ – hat wieder zugeschlagen. Nun sind mir persönlich die Abenteuer des Grüffelos nicht bekannt. Vielmehr habe ich die Bekanntschaft mit Schefflers Bildern bei TAGEBUCH EINER KILLERKATZE und DIE FLÖHE IN DER OPER gemacht und empfand sie immer sehr stimmig zur Handlung.

Hier schuf er zum einfachen aber klaren und einfühlsamen Text von Alison Green eine drollige, farbenfrohe und abwechslungsreiche Tierschar, die einerseits die Besonderheiten der jeweiligen Art erkennen lässt, doch vielmehr die Gemeinsamkeiten hervorhebt. Diversität wird hier gefeiert und somit auch ein mit- und voneinander lernen. Der Fokus liegt deutlich darauf, was die Tiere vereint bzw. vereinen könnte, nicht auf das, was sie trennen würde.

So schuf Scheffler ein wunderbares Anschauungsmaterial für Kids, die vielleicht ähnliche Situationen wie die Tiere erleben, und dank dieses Buches spielerisch Möglichkeiten zum Handeln vermittelt bekommen.

Dieses Buch ist ein entzückendes Plädoyer für Toleranz und Respekt, die für mich die Grundlage für ein friedliches Miteinander sind. „Stell dir mal vor, die ganze Welt wäre wie dieses Buch – alle wären nett…“ steht im Buch geschrieben. Ja, das wäre schön, und die Kids hätten eine solche Welt so sehr verdient.

❤️🧡💛💚💙
Sorgen wir dafür, dass unsere Kinder
in einer regenbogenbunten Welt leben dürfen!
💙💚💛🧡❤️


erschienen bei Beltz & Gelberg / ISBN: 978-340775990 / in der Übersetzung von Adélie Scheffler und Axel Scheffler
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Winifred Watson – MISS PETTIGREWS GROSSER TAG

Sie war eine talentierte Schriftstellerin und sollte doch nur sechs Romane veröffentlichen, aus deren Mitte MISS PETTIGREWS GROSSER TAG wie ein funkelnder Diamant hervorsticht. Ihren ersten Roman schrieb sie aus einer inneren Not heraus, da sie fand, dass das, was ihr als Literatur zur Verfügung stand, nicht gut sei. Das könne sie besser, befand sie, und legte los. Glücklicherweise übte sie zu dem Zeitpunkt eine Tätigkeit aus, die sie eher unterforderte und viel Zeit bot. Sie selbst beschrieb es einmal so…

The person I worked for never gave me any work until the afternoon.
He told me to bring some knitting in. So I wrote the whole book in the office.“

Nach zwei eher ernsten Romanen, die beide im ländlichen Milieu spielten, war Winifred Watson nach Leichtigkeit. Doch von ihrer Idee zu MISS PETTIGREWS GROSSER TAG, wo die Leserschaft einer ältlichen Jungfer einen Tag lang auf ihrem Weg durch die Stadt folgen sollte, war der Verlag wenig überzeugt und noch weniger begeistert. Viel zu gut verkauften sich ihre bisherigen Bücher, und so forderte der Verlag von ihr weitere dramatische Geschichten vom Lande. Doch Watson brannte für ihre Idee, glaubte an deren Erfolg und handelte mit dem Verlag einen Deal aus: Dieser sollte MISS PETTIGREWS GROSSER TAG veröffentlichen, und sie würde ihn mit weiteren der so beliebten Dramen versorgen.

Wie Watson vorausgesagt hatte, wurde MISS PETTIGREWS GROSSER TAG direkt nach Erscheinen im Jahre 1938 ein großer Erfolg – zuerst im englischsprachigen Raum, dann in der jeweiligen Übersetzung auch in anderen Ländern.

London in den 1930er Jahren. Das Leben hat es nicht gut gemeint mit Miss Pettigrew: Als Gouvernante im mittleren Alter, ohne Mann und fast mittellos, hofft sie, dass ihre neue Anstellung ihr zumindest ein bescheidenes Auskommen bescheren wird. Aber statt von ihrer Agentur zu einer Familie mit einer Schar ungezogener Kinder geschickt zu werden, landet sie durch ein Missverständnis bei der Schauspielerin und Nachtclubsängerin Delysia LaFosse. Und ehe sie es sich versieht, ist Miss Pettigrew Teil der mondänen, aber chaotischen Welt von Miss LaFosse, in der es drei Männer gleichzeitig in Schach zu halten gilt. Nach anfänglicher Scheu macht sich die Gouvernante schließlich tatkräftig daran, Miss LaFosses Liebesleben in Ordnung zu bringen. Dabei taucht sie notgedrungen auch selbst in deren aufregende Welt aus Glamour, Flirts und galanten Gentlemen ein. So kommt es, dass sich auch Miss Pettigrews eigenes Leben innerhalb nur einen Tages für immer verändert…

(Inhaltsangabe dem Umschlag des Romans entnommen!)

Leichtigkeit: Dies war das erste, was mir bei meiner Lektüre in den Sinn kam. Ich seufzte und dachte bei mir „So ein schöner leichter Roman!“.

Watson taktete die Geschichte in sechszehn Kapitel bzw. Zeiträume innerhalb eines Tages. Da wurde auf die Sekunde genau Buch geführt, wann sich eine Situation veränderte und ein weiterer Zeitabschnitt begann. Dies führte dazu, dass ich scheinbar mühelos durch die Handlung flog, neugierig darauf, was unsere wunderbaren Heldinnen (Ja, die Damen stehen hier definitiv im Zentrum des Geschehens!) sonst noch Aufregendes erleben werde. Die Autorin schenkte uns in einem glamourösen Setting interessante wie verführerische Protagonist*innen, die einerseits Klischees bedienen und diese gleichzeitig widerlegen. Der gesamte Roman ist gespickt mit spritzig-witzigen Dialogen, die mich extrem erheitert haben. Wobei mich besonders die Dialoge im siebten Kapitel oder vielmehr des Zeitraums von 15:44 – 17:02 Uhr so sehr begeisterten, dass ich mir besagte Passage mehrmals selbst laut vorlas.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass dies – trotz allem Amüsement – auch die Geschichte einer Emanzipation ist, in der sich zwei gänzlich unterschiedliche Frauentypen solidarisieren und es wagen, aus dem gesellschaftlichen Korsett auszubrechen und sich verweigern, den ihnen von außen vorgegebenen Platz im sozialen Gefüge weiterhin auszufüllen. Auch täuscht der Humor nicht über die Missstände in der damaligen Gesellschaft hinweg: Abhängigkeit Bediensteter vom Dienstherrn, die Stellung der Frau innerhalb einer männlich dominierten Hierarchie und ihre manchmal fragwürdigen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Es ist präsent, doch nie erdrückend!

„So ein schöner leichter Roman!“ …und witzig, keck, frivol, romantisch und zauberhaft. Da verwundert es schon, dass er nicht bereits viel früher seinen Weg auf die große Leinwand fand.


erschienen bei Manhattan (Goldmann) / ISBN: 978-3442546619 / in der Übersetzung von Martina Tichy

[Rezension] Agatha Christie – EIN GEFÄHRLICHER GEGNER

Es war im Jahre 1922 – Hercule Poirot hatte wenige Jahre zuvor seine kleinen grauen Zellen erstmals angestrengt, und Miss Marples Stern am Krimihimmel sollte erst einige Jahre später erstrahlen – da schickte Agatha Christie zwei junge Menschen in die Welt, die die Kriminalliteratur zwar nicht revolutionieren sollten, dafür aber ein Kuriosum darstellten. Mit ihrem jugendlichen Elan und unkonventionellen Auftreten bildeten sie zudem einen attraktiven Gegenpart zum brillanten und pedantischen Hercule Poirot.

Unser Protagonisten-Paar Tommy und Tuppence kamen in nur vier Romanen und einer Anthologie zum Einsatz, die in dem Zeitraum eines halben Jahrhunderts erschienen. Dieser Umstand erscheint zunächst wenig spektakulär, doch jedes Mal waren sie um genau die Jahre gealtert, die seit ihrem letzten Erscheinen vergangen waren. Waren unsere Heldin und unser Held zu Beginn in ihren Zwanzigern und ihre Autorin somit Anfang 30, so alterten sie im Laufe der folgenden Romane höchst würdevoll gemeinsam. Auch ließ Christie die beiden genau in dem Jahr agieren, in dem der jeweilige Roman erschienen war. Somit durchlebte ich als Leser mit ihnen den gesellschaftlichen Wandel, der über diesen Zeitraum stattfand, ebenso, wie die physischen und psychischen Veränderungen, die das Älterwerden so mit sich bringt.

„Zwei junge Abenteurer zu mieten. Zu allem und überall einsatzbereit. Honorar muss stimmen. Kein vernünftiges Angebote wird abgelehnt.“ Mit dieser Anzeige suchen der vorsichtige Tommy und die unerschrockene Tuppence Arbeit. Sie müssen nicht lange auf ihren ersten Fall warten: Beim Untergang des Luxusschiffes RMS Lusitania sind hochsensible Regierungspapiere verloren gegangen. Parallel müssen die beiden auch die mysteriöse Jane Finn suchen. Mehrmals gerät das ungleiche Paar in Gefahr und stößt auf eine abgründige Verschwörung…

 (Inhaltsangabe dem Umschlag des Romans entnommen!)

Agatha Christie gelang es bereits mit ihrem zweiten Roman, einen Frauentypus zu etablieren, der damals weit entfernt vom gesellschaftlich erwarteten Bild einer Frau war und somit ein Novum darstellte. Mit Tuppence Cowley (spätere Beresford) tauchte eine sehr resolute, selbstbewusste junge Dame auf der Bildfläche auf, die – im besten Sinne der Worte – die Ärmel hochkrempelt und pragmatisch die Dinge selbst in die Hand nimmt, auch wenn sie dabei hin und wieder über das Ziel hinausschießt. Einen Mann akzeptiert sie an ihrer Seite höchstens dann, wenn dieser ihr auf Augenhöhe begegnet und sie als ebenbürtige Partnerin ansieht. Selbstgefällige Aufschneider, eitle Fatzken und sich selbst überschätzende Gockel können sie nicht beeindrucken – vielmehr lässt sie solche Typen des männlichen Geschlechts charmant abblitzen. Was sie braucht ist ein netter Kerl mit Substanz. Darum setzte Christie ihr mit Tommy Beresford einen jungen Mann vor ihr keckes Näschen, der das genaue Gegenteil von den bereits beschriebenen Typen war. Tommy ist zwar kein Beau aber absolut sympathisch. Dank seiner zurückhaltenden Art, wägt er erst ab, bevor er sich ins Getümmel stürzt. Trotzdem ist er kein Feigling: Wenn es benötigt wird, zeigt er Rückgrat und Courage und ist ein äußerst verlässlicher Partner.

Glaubhaft und detailliert fängt die Autorin das Zeitgeschehen nach dem ersten Weltkrieg ein und lässt auch die damaligen Nöte der (jungen) Menschen nicht unerwähnt. Dies gelingt ihr, ohne dass sie ins allzu dramatische abgleitet. Sie siedelte die Handlung zwischen Kriminalroman und Spionage-Thriller an, die sie mit einigen, in die Irre führenden Wendungen spickte und so eine spannende Unterhaltung garantierte – zumal sie es grandios verstand, die Leserschaft im Dunkeln tappen zu lassen, da sie die Identitäten der Täter gekonnt verschleierte. Die kessen Dialoge zwischen Tommy und Tuppence erinnerten mich an den verbalen Schlagabtausch zwischen Nick und Nora in den „Der dünne Mann“-Verfilmungen, haben nach all den Jahren nichts von ihrer Frische eingebüßt und amüsierten mich famos.

Agatha Christie zeigte in EIN GEFÄHRLICHER GEGNER Tommy und Tuppence in der Blüte ihrer Jahre und legte so den literarischen Grundstein für zwei liebenswerte Figuren, die als PARTNERS IN CRIME nicht nur eine außergewöhnliche Partnerschaft sondern auch eine lebenslange Liebe miteinander verbinden sollten.


erschienen bei Atlantik / ISBN: 978-3455651355 / in der Übersetzung von Giovanni und Ditte Bandini
ebenfalls erschienen als Hörbuch bei Der Hörverlag / ISBN: 978-3867178457

[Rezension] Kate Atkinson – NACHT ÜBER SOHO

Die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts üben überall und allerorten bei vielen von uns eine magnetisierende Faszination aus. Woran mag es liegen? Die Gründe sind vielfältig. Vielleicht liegt es daran, dass auch wir uns in den 20ern unseres Jahrhunderts befinden, uns etlichen Problemen stellen müssen und darum einen vergleichenden Blick auf das letzte Jahrhundert werfen. Wie haben die Menschen der Vergangenheit Herausforderungen gemeistert?! Auch damals war es eine unsichere Zeit: Der erste Weltkrieg war lange noch nicht vergessen und sorgte dafür, dass die Menschen ihren Lebensrhythmus neu finden mussten. Eine unbändige Lust am Leben war spürbar, die auch mit einer lockeren Moralvorstellung einherkam. Das Bild der Frauen veränderte sich, da sie in den Kriegsjahren gezeigt hatten, dass sie nicht nur zu „Kinder, Küche, Kirche“ befähigt sind. Über all dem lag der Glanz von Luxus, Reichtum, Glamour und dem Versprechen, dass alles möglich wäre – doch es war ein trügerischer Glanz…

England 1926: In einem Land, das sich noch immer vom Ersten Weltkrieg erholt, ist London zum Mittelpunkt eines neuen, ausgelassenen Nachtlebens geworden. In den Clubs von Soho tummeln sich Adelige neben Starlets, Prinzen neben Gangstern, und Mädchen verkaufen Tänze für einen Schilling. Im Zentrum dieser glitzernden Welt steht die berüchtigte Nellie Coker. Rücksichtslos und ehrgeizig kontrolliert sie die wichtigsten Clubs der Stadt. Doch der Erfolg schafft Feinde: Nellies Imperium wird von außen und von innen bedroht. Da sind ihre sechs Kinder, die alle eigene Ziele verfolgen, rivalisierende Straßengangs, ein Mafioso mit guten Manieren und schlechten Absichten Und da ist Inspektor John Frobisher. Seine Mission: herauszufinden, was mit den vielen Mädchen geschieht, die im Sohoer Nachtleben spurlos verschwinden. Mithilfe der jungen Bibliothekarin Gwendolen Kelling, die er in Nellies Clubs einschleust, beginnt er, der Königin von Soho das Leben schwer zu machen.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Kate Atkinson überzeugt in diesem Roman mit einer feinen Charakterisierung der Akteure, die niemals in ein plakatives Schwarz-Weiß-Zeichnen abdriftet, sondern die Personen sehr vielschichtig porträtiert. Selbst die unredlichsten Figuren versprühen so eine Menge Charisma, das dafür sorgte, dass ihnen meine Aufmerksamkeit stets sicher war. Aber auch die Held*innen wirken mit ihren ambivalenten Gefühlen und Gedanken nie eindimensional. Kate Atkinson gelang es, ihnen allen eine individuelle Biografie zu schenken, die durchaus als Begründung für ihr Handeln dienen konnte.

Auch die Dialoge sind bei der Autorin wohlüberlegt und genau gesetzt. Sie definieren die handelnden Personen sehr genau, offenbaren Schwächen und boten so manche Überraschung, da die Figuren Äußerungen tätigten, mit denen ich nicht gerechnet bzw. ihnen nicht zugetraut hätte. Ebenso genau fallen die Beschreibungen der Settings aus und zeugen von einer guten Beobachtungsgabe der Autorin.

Doch was nützen raffinierte Charaktere, wenn sie sich in einem luftleeren Raum aka einer spannungsarmen Handlung nicht entfalten dürfen. Dies ist bei Atkinson nicht zu befürchten: Hier ist nicht nur ein einziger großer Spannungsbogen für die Haupthandlung vorhanden. Vielmehr schuf die Autorin viele kleine Nebenhandlungen incl. eigner Spannungsbögen, die sich mal früher, mal später mit der Haupthandlung vereinen. Beinah wirkte es auf mich, als würden sich Stricke, die aus vielen unterschiedlichen Richtungen kommen, zu einem dicken Tau verweben, um dann – nach einiger Zeit – wieder in unterschiedlichen Richtungen auszufransen. Doch die einzelnen Stricke haben sich bei diesem Vorgang verändert: Manche haben sich aufgerieben, andere sind kompakter geworden. Im Falle unserer Protagonist*innen haben die Ereignisse sichtbare Spuren hinterlassen, die Einfluss auf ihre weitere Entwicklung nehmen werden.

Doch was ist dieser Roman nun schlussendlich? Gesellschaftsstudie, Sittengemälde oder Kriminalroman? Kate Atkinson schaffte es bravourös, alles miteinander zu verbinden. Genrezuweisung? Wer braucht schon eine Genrezuweise! Was ich lesen durfte, war ein ganz und gar fesselnder Roman, der mich in seiner Vielschichtigkeit vollumfänglich begeisterte.


erschienen bei Dumont / ISBN: 978-3755800156 / in der Übersetzung von Anette Grube
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Janice Hallett – DIE ENGEL VON ALPERTON. Der Teufel steckt im Detail

Autorin Janice Hallett kultivierte bei diesem Roman weiterhin ihren besonderen Stil beim Aufbau einer Geschichten, indem sie uns abermals – nach DIE AUFFÜHRUNG – aus der Fülle an modernen Kommunikationsmöglichkeiten eine bunten Strauß an Informationen band und uns diesen zur Begutachtung vorlegte. Da gab es viel zu entdecken und noch mehr zu beachten: Ausdrucke von E-Mails und Text-Nachrichten, Zeitungsausschnitte, Auszüge aus unveröffentlichten Romanen und Drehbüchern sowie Gesprächsprotokolle. Wie schnell könnte da ein wichtiges Detail überlesen werden? Denn – so sagte es schon der Untertitel – der Teufel steckte wahrlich im Detail, und gerade diese immense Menge an Details sorgte dafür, dass diese Geschichte so undurchschaubar erschien…

Die TrueCrimeAutorin Amanda Bailey weiß alles über den berüchtigten Fall der Engel von Alperton. Zahlreiche Bücher und Verfilmungen berichteten von der fanatischen Sekte, seit ihre Mitglieder vor achtzehn Jahren versuchten, ein Baby zu opfern, das sie für den Antichrist hielten. Mittlerweile scheint daher alles erzählt zu sein doch nun ist das „AlpertonBaby“ volljährig und könnte endlich interviewt werden. Amanda wittert ihre Chance auf einen echten Coup. Doch während sie immer tiefer in die Recherchen eintaucht, wird klar, dass in diesem Fall nichts ist, wie es scheint. Und dass die Geschichte der Engel von Alperton noch lange nicht vorbei ist.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Auch diesmal kann ich der Autorin nicht vorwerfen, dass sie mir mit dieser Lektüre keine spannenden Lese-Stunden geschenkt hätte. Es ist wahrlich erstaunlich, mit welcher Raffinesse sie mich mit jeder weiteren Mail, mit jedem weiteren Interview, mit jedem weiteren Protokoll in Richtung Wahrheit (Was ist schon Wahrheit?) lotste. Da las ich einen Auszug, der scheinbar aus einem Drehbuch stammte, fragte mich währen der Lektüre „Was soll das?“, bis dann langsam die Erkenntnis tröpfchenweise in mein Gehirn einsickerte und mich mit einem Aha-Effekt überrumpelte.

Ebenso erstaunlich war es für mich, dass sie es innerhalb des starren Korsetts der modernen Kommunikationsmöglichkeiten trotzdem schaffte, eine geheimnisvolle, beinah schon beängstigende Atmosphäre zu kreieren. Dabei traten die signifikanten Charaktereigenschaften der handelnden Personen deutlich hervor und ermöglichten es mir so, eine genaue Vorstellung der Figuren zu erhalten.

Das Ende der Geschichte überraschte durchaus, ließ mich allerdings auch sehr zwiespältig zurück. Da gab es zu viele dubiose Zufälle, zu viele nicht nachvollziehbare Wendungen. Beinah schien es mir, als müssten nun zwangsläufig für alle offenen Fragen die passenden Antworten gefunden werden – auch wenn dabei knapp an der Logik vorbeigeschrammt wurde.

Janice Hallett ist eine äußerst talentierte Autorin – das steht außer Frage. Doch leider verspüre ich nun, nachdem ich ihren dritten Roman gelesen habe, eine gewisse Sättigung in Bezug ihres Stils. Da würde ich mir wünschen, von ihr auch einmal einen Roman „im klassisch literarischen Sinne“ lesen zu dürfen. Wer weiß, vielleicht würde sie mich damit aufs Neue in Erstaunen versetzen.


erschienen bei Atrium / ISBN: 978-3855351978 / in der Übersetzung von Stefanie Kremer

ICH DANKE DER PRESSEAGENTUR POLITYCKI & PARTNER HERZLICH FÜR DAS ZUR VERFÜGUNG GESTELLTE LESEEXEMPLAR!