MONTAGSFRAGE #106: Was war dein Lesehighlight 2020?

Nur noch einige wenige Tage und dann wird dieses Jahr endlich der Vergangenheit angehören. Nie zuvor war ich so froh, dass ein Jahr vorbei geht, wie in 2020. Aber nie zuvor hat uns ein Jahr auch so viel abverlangt wie in 2020. Was wird uns das Schicksal für das Jahr 2021 bereithalten?

Meine frühere Chefin und ich saßen am letzten Arbeitstag des Jahres gerne auf einer Tasse Kaffee zusammen und ließen gemeinsam das vergangene Jahr mit seinen vielfältigen Aufgaben, Ereignissen und Herausforderungen Revue passieren. In den ersten Jahren unserer Zusammenarbeit verabschiedeten wir uns mit dem hoffnungsvollen Satz „Im nächsten Jahr wird alles besser!“. Aber es wurde nicht unbedingt „besser“, vielmehr endwickelte sich das folgende Jahr meistens anders als gedacht. Darum änderten wir auch unseren Jahresabschluss-Satz in „Im nächsten Jahr wird alles anders!“.

Und doch wünsche ich mir für das Neue Jahr ganz unbescheiden beides: Das Jahr 2021 soll bitte „besser“ und somit „anders“ als das Jahr 2020 werden!

Was aber niemals „besser“ war, und somit auf keinen Fall „anders“ werden soll, ist meine Liebe zum Lesen. In diesem Jahr durfte ich mich an gänzlich unterschiedlichen und doch sehr besonderen Lektüren erfreuen. Zwar segelte ich durchaus auch auf bekannten Gewässern, erforschte aber ebenso unbekannteres Terrain. Bei meinem Rückblick stellte ich mit ein wenig Verwunderung fest, dass meine Lesehighlights in diesem Jahr eher „die ollen Kamellen“ waren, die entweder von mir erstmals wahrgenommen oder wiederentdeckt wurden.


Im Februar beschäftigte ich mich mit Margaret Mitchells Epos Vom Wind verweht, das in einer frischen Neu-Übersetzung erschienen ist. Dieser Klassiker fand schon Eingang in Die Bücher meines Lebens und animierte mich zu der Abhandlung Wie ein Cover die Wahrnehmung beinflusst.

Der Juli stand ganz im Zeichen von Erich Kästner und seinem Werk: Besonders das kleine Büchlein Über das Verbrennen von Büchern nahm mich gefangen. Seine Berichte u.a. über die Bücherverbrennung im Mai 1933 sind Zeugnis und Mahnung zugleich.

Im Rahmen meiner kleinen Kästner-Retrospektive beschäftigte ich mich erstmals auch mit dem Erfinder der charmanten Bildergeschichten Vater und Sohn. Erich Ohser (alias E.O. Plauen) war ein enger Freund Kästners, dessen Schicksal mich erschütterte.

An Menschen im Hotel von Vicki Baum wagte ich mich im September und erlebte eine kleine Überraschung: Ich erwartete eine in die Jahre gekommene Geschichte und entdeckte einen fesselnden Gesellschaftsroman. Mein Interesse an weiteren Werken der Autorin war geweckt…!

Im Oktober traute ich mich endlich, einen Blick in die Schmuckausgabe von Michael Endes Die unendliche Geschichte zu werfen und wurde nicht enttäuscht: Die Illustrationen von Sebastian Meschenmoser sind berauschend. Warum ich zögerte? Auch dieser Kinderbuchklassiker gehört zu Die Bücher meines Lebens.

Ebenfalls im Oktober begeisterte mich der eindrucksvolle Bildband LOVING: Männer, die sich lieben. Fotografien von 1850-1950 und berührte mein Herz. Über Jahre haben die beiden Autoren Hugh Nini und Neal Treadwell Fotos liebender Männer gesammelt, die zu einer Zeit entstanden sind, als die Gesellschaft weniger liberal eingestellt war.


So endet der Jahresrückblick mit meinen Lesehighlights doch eher hoffnungsfroh: Mit einem guten Buch als Begleiter stelle ich mich auch den Herausforderungen des Neuen Jahres.

Es gibt noch so viele wunderbare Bücher zu entdecken, und auch im Jahre 2021 werden einige weitere dazu kommen…!

…und was waren Eure Lesehighlights 2020?


Antonia Leise von „Lauter & Leise“ hat dankenswerterweise DIE MONTAGSFRAGE: Buch-Blogger Vorstellungsrunde wiederbelebt und stellt an jedem Montag eine Frage, die Interessierte beantworten können und zum Vernetzen, Austauschen und Herumstöbern anregen soll! Ich bin gerne dabei!!!

In meinem MONTAGSFRAGE-Archiv findet Ihr Fragen & Antworten der vergangenen Wochen.

MONTAGSFRAGE #103: Welches Buch läuft leider nicht so erfolgreich, wie du es ihm wünschen würdest?

Neue Woche – neues Glück – neue Montagsfrage: Ich hoffe, Ihr hattet ein gemütliches Wochenende mit einem fleißigen Nikolaus bzw. einer fleißigen Nikoläusin. „Eigentlich“ hatte ich mich bzgl. der heutigen Montagsfrage innerlich schon entspannt zurückgelehnt und erwartete ganz traditionell die Frage, die Antonia uns auch schon in den vergangenen Jahren zu dieser Zeit gestellt hat: Welches Buch gehört dieses Jahr auf jeden Fall auf die Weihnachtswunschliste? Doch diesmal präsentiert sie eine Frage aus dem Fundus, der zur MONTAGSFRAGE #100 zusammengetragen wurde und hat mich damit mehr als kalt erwischt. In der heutigen Zeit ist auch auf nix mehr verlass! (theatralisches Seufzen)

Gerade entdecke ich die Autorin Vicki Baum (1888-1960) für mich: Von Menschen im Hotel war ich sehr begeistert, und entsprechend überraschte mich Baums moderner Tonfall, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch sind einige ihrer Werke noch als Taschenbuch-Ausgabe erhältlich, führen dort aber eher ein Schattendasein. Da ist es erfreulich, dass andere Verlage einen kleinen Vorstoß in Richtung Hardcover wagen: So liegt Vor Rehen wird gewarnt schon griffbereit auf meinem Couch-Tisch und wird mir die Weihnachtsfeiertage verschönen.

Natürlich darf auch eine der Jahreszeit entsprechenden Geschichte nicht fehlen. Diese kleine Geschichte fand schon häufig hier auf meinem Blog Erwähnung und gehört zum festen Repertoire meiner Advents- und Weihnachtslesungen: „Das Geschenk der Weisen“ von O. Henry. Sie hat zwar schon so einige Jahre auf dem Buckel und ist in unterschiedlichen Übersetzungen in vielzähligen Weihnachtsbüchern erschienen. Doch Obacht: Übersetzung ist nicht gleich Übersetzung. Diese Erfahrung musste ich leider allzu häufig – und somit nicht nur bei dieser Erzählung – machen. Ich persönlich kenne in der Zwischenzeit drei Übersetzungen dieser feinen und leisen Geschichte. Manchmal sind die jeweiligen Unterschiede nur gering und könnten als unerheblich eingestuft werden. Aber gerade diese minimalen Feinheiten nehmen Einfluss auf den Tonfall der Geschichte, schaffen Atmosphäre und bringen diese sprachlich zum Funkeln. So trägt die Qualität der Übersetzung eine nicht unerhebliche Rolle, ob die besagte Geschichte mein Herz berührt, und ich sie für eine meiner Lesungen auswähle.

Bei „Das Geschenk der Weisen“ von O. Henry favorisiere ich die Übersetzung von Theo Schumacher, die im NordSüd-Verlag entweder als eigenständiges Bilderbuch mit den stimmungsvollen Illustrationen von Lisbeth Zwerger oder innerhalb der Anthologie Frohe Weihnachten erschienen ist. Beide Ausführungen eignen sich hervorragend zum Verschenken – oder Ihr beschenk Euch selbst…!!! 🎁😍

…und welche literarischen Werke haben Eurer Meinung nach bisher zu wenig Aufmerksamkeit erhalten?


Antonia Leise von „Lauter & Leise“ hat dankenswerterweise DIE MONTAGSFRAGE: Buch-Blogger Vorstellungsrunde wiederbelebt und stellt an jedem Montag eine Frage, die Interessierte beantworten können und zum Vernetzen, Austauschen und Herumstöbern anregen soll! Ich bin gerne dabei!!!

In meinem MONTAGSFRAGE-Archiv findet Ihr Fragen & Antworten der vergangenen Wochen.

[Rezension] Vicki Baum – Menschen im Hotel

Die Drehtür des Berliner Grand Hotels rotiert: Gäste checken ein, checken aus, begegnen sich in der Lobby, im Tearoom oder im Wintergarten, und für einen kurzen Moment kreuzen sich ihre Lebensbahnen. Da haben wir den Generaldirektor Preysing, der sich voller Verzweiflung in Verhandlungen stürzt, um seine Firma zu retten. Im Nebenzimmer logiert der totkranke Buchhalter Otto Kringelein, der, nach einem unbedeutenden Dasein des Sparens und Darbens, noch einmal leben möchte. Der smarte Baron Gaigern ist ihm nicht ganz uneigennützig behilflich, eine gehörige Portion „Leben“ zu erfahren. Immer knapp bei Kasse aber auf großem Fuß lebend, schlägt er sich „hauptberuflich“ als Fassadenkletterer durch. Bei einem dieser Aktionen landet er im Zimmer der alternden und lebensmüden Primaballerina Grusinskaja. Doch anstatt ihr ihre berühmten Perlen zu stellen, findet er in ihr eine verwandte Seele auf der Suche nach Zuneigung und Glück. Ein kleines Stückchen Glück wünscht sich auch die kokette Sekretärin Flämmchen, die auf ihrer Suche danach durchaus gewillt ist, das unmoralische Angebot von Generaldirektor Preysing anzunehmen. Wenige Tage später, manchmal auch nur nach wenigen Stunden trennen sich diese Menschen wieder, doch ihre Begegnungen haben Spuren im Lebenslauf der anderen hinterlassen…!

Vicki Baums Roman „Menschen im Hotel“ erschien im Jahre 1929 mit dem treffenden Untertitel Kolportageroman mit Hintergründen: Jede*r ihrer Held*innen trägt eine Last auf den Schultern und droht, wie durch einen Mühlstein, der um den Hals gebunden ist, von ihr in den Abgrund gezogen zu werden. Jede*r versucht sich von dieser Last zu befreien, oder zumindest ein wenig Erleichterung zu erfahren. Ihre Schicksale liefern die nachvollziehbaren Beweggründe für die jeweiligen Taten, für die jeweiligen Entscheidungen. Das Nobelhotel, dieser Ort des Wohlstands und des Glamours dient als Projektionsfläche der Wünsche und Sehnsüchte: Hier scheint jede*r aus der Gewohnheit entflohen. Werte werden neu definiert.

Dieser über 90 Jahre alte Roman hatte mich schon nach wenigen Seiten gepackt: Ich war überrascht, mit welcher modern anmutenden Frische Vicki Baum ihre Sätze formulierte. Bar jeglicher Sentimentalität aber mit viel Einfühlungsvermögen offenbarte sie die Geschichten ihrer Held*innen und zeigte dabei viel Sympathie für deren Handlungen. So waren auch mir als Leser die Charaktere nie unsympathisch: Vielmehr verspürte ich Mitgefühl und Verständnis. Jeder Charakter war gleichsam interessant. Geschickt verwebte die Autorin die Handlungsstränge von Hotel-Gästen und -Personal miteinander und lieferte ein wechselvolles Sittenbild der damaligen Gesellschaft.

Der Roman wirkte auf mich, als würde ich einen Blick durch ein buntes Kaleidoskop wagen: nur eine kurze Drehung/ nur wenige Seiten und ein neues Bild entsteht. Gerade diese Vielschichtigkeit und das Hoffen auf Unvorhersehbares erzeugten für mich als Leser die Spannung bei der Lektüre. Ich konnte durchaus nachvollziehen, warum dieser Roman bei seiner Veröffentlichung so außerordentlich erfolgreich war und auch weiterhin seine Leserschaft verdient.

Vicki Baums Heldinnen & Helden haben das Hotel längst verlassen. Neue Gäste sind eingetroffen. Es herrscht ein emsiges Kommen und Gehen, und die Drehtür rotiert weiter und weiter und weiter…!


erschienen bei Kiepenheuer & Witsch/ ISBN: 978-3462037982