von Monika Helfer / Erstaufführung der Fassung von Coco Plümer
Stadttheater Bremerhaven / Kleines Haus
BÜHNE & KOSTÜME Ilka Meier
DRAMATURGIE Peter Hilton Fliegel
LICHT Frauke Richter
SOUFFLAGE Melia Holl (FSJ Kultur)
EINSTUDIERUNG ENSEMBLE Hartmut Brüsch
EINSTUDIERUNG KINDER Katharina Diegritz, Edward Mauritius Münch
Literaturverfilmungen gibt es zuhauf – mal mehr, mal weniger gelungen. Doch manchmal schafft es auch ein Roman auf die Sprechbühne, und vor den eigenen Augen hauchen Schauspieler*innen den Figuren Leben ein. Jede Aufführung ist einzigartig, und mit jeder Aufführung entwickeln sich die Figuren weiter. Ob Coco Plümer mit ihrer Bühnenadaption von DIE BAGAGE der Roman-Vorlage von Monika Helfer treu geblieben ist und diese gut umgesetzt hat, kann ich leider nicht beurteilen, da ich den Roman bisher noch nicht gelesen habe. Ich kann aber durchaus beurteilen, ob aus einem Stapel beschriebenem Papier unter Bündelung der Talente aller Beteiligten auf der Bühne eine fesselnde Inszenierung geworden ist.
Die Bühne, ohne Vorhang, schwarz und leer, nichts lenkte das Auge ab. Ein Kind setzte sich in den Lichterkegel des Scheinwerfers, malte mit einem Stück Kreide ein Bild auf den Boden und summte leise die Melodie „Maria durch ein Dornwald ging“. Eine junge Frau erschien mit einer Wanne unter dem Arm und begann die strahlend weiße, frisch gewaschene Wäsche aufzuhängen. Aus dem Hintergrund des Zuschauersaals ertönte die Stimme der Erzählerin…
HINWEIS: DIE OBIGE AUFNAHME STAMMTE NICHT AUS DER BESPROCHENEN INSZENIERUNG.
Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin.
(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)
Regisseurin Ingrid Gündisch hatte sich von Ausstatterin Ilka Meier eine Black-Box auf die Bühne stellen lassen, die in ihrer dunklen Kargheit automatisch den Fokus auf die Figuren lenkte und diese animierte, auf die inneren wie auch äußeren Reize zu reagieren. Gundisch ließ ihre Figuren einerseits zwischen Wahrnehmung und Reaktion agieren, doch ihre Beweggründe blieben oftmals im Verborgenen. Weiße Blusen und Hemde sowie die weißen Laken, die im Laufe der Vorstellung auf die Leinen gehangen wurden und so unterschiedliche Spielräume bildeten, ließen dagegen einen scharfen Kontrast entstehen. Teilweise schmerzte mir das Strahlen des Weißes in den Augen und ließ die Personen vor ihm wie von einer Aura umrahmt erscheinen. Weiße Wäsche ist unserer Heldin so wichtig: „Wir sind zwar arm, aber wir müssen nicht so aussehen.“ Zwischen all dem vielen Weiß und Schwarz wirkte das hellblaue Kleid, das Maria kurzzeitig trug, wie ein Störfaktor. Und genau dies sollte es wohl auch sein: Maria in ihrem blauen Kleid ist ein Störfaktor in der schwarz-weißen Welt der spießigen Bewohner des Bergdorfes. Die Regisseurin führte ihr Ensemble behutsam durch die Handlung, lässt ihm aber auch genügend Raum, um zu atmen und Gefühl(sausbrüch)e zuzulassen. Die Textfassung von Coco Plümer überzeugte durch ihre glaubwürdigen Dialoge, die stets natürlich zur jeweiligen Person passten. So ermöglichte sie den Schauspieler*innen, aus papierene Figuren Menschen aus Fleisch und Blut zu kreieren.
Ein Kind setzte sich in den Lichterkegel des Scheinwerfers: Carla Lou Schreuder stand stellvertretend für alle Kinder der Moosbrugger, um sich schlussendlich in der Figur der Grete zu manifestieren. Dabei wirkte sie in ihrer Zartheit so unschuldig und darum so verletzlich.
Angelika Hofstetter gab die Erzählerin – sozusagen die Stimme der Autorin Monika Helfer – energetisch zwischen Sanftheit und Wut und verstand es großartig, die Vielzahl an Erklärungen abwechslungsreich zu gestalten. Zudem schlüpfte sie spielerisch in die Rolle des Sohnes Lorenz und verdeutlichte als Dorfpfarrer dessen verlogene Bigotterie.
Leon Häder gelang es mit nur wenigen Änderungen der Garderobe, dafür vielmehr durch Haltung und Stimmfärbung die unterschiedlichen Männerrollen darzustellen: Scheinbar mühelos wechselte er vom schleimig-anbiedernden Bürgermeister Fink zum offenen, lebensfrohen Georg, um uns dann in die seelischen Tiefen von Josef Moosbrugger, diesem äußerlich stillen, doch durchaus leidenschaftlichen Mann, blicken zu lassen.
Wie Planeten um die Sonne kreisten diese drei Menschen um Anna Caterina Fadda, die Maria Moosbrugger mir einer beeindruckenden wie auch beängstigenden Intensität verkörperte. Sensibel kreierte sie ein kraftvolles Frauenbild, modern zu ihrer Zeit, kämpferisch und mit unverbrüchlicher Haltung. Dabei warf sie sich so schonungslos in die Rolle, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen. Und selbst im Stadium der größten Emotionalität war ihre Darstellung reich an Nuancen. Chapeau!!!
Es dauerte einen Moment, bis das Publikum am Ende der Vorstellung in frenetischem Applaus ausbrach: Anscheinend brauchten wir alle einige Sekunden des Innehaltens, bevor wir in einem begeisterten Jubel ausbrechen konnten. Im kleinen Haus des Stadttheaters wurden wir Zeuge, wie große Literatur dank Talent und Respekt auf die Bühnenbretter gezaubert wurde, die uns dann gänzlich verzauberte. Der geheimnisvolle Theaterzauber: Hin und wieder gibt es ihn tatsächlich!
Auf dem Heimweg saßen mein Mann und ich schweigsam sinnierend nebeneinander im Auto. Wir waren vom Erlebten so sehr ergriffen, da wäre jedes Wort zu viel gewesen. In Gedanken wanderte ich zurück in meine Kindheit und erinnerte mich an Begebenheiten, da das Verhalten von Mitgliedern meiner Bagage durchaus Einfluss auf mein Werden nahm. Und ich fragte mich…
„Wie lange haften die Taten meiner eigenen Bagage noch an mir?“
und
„Wann bin ich endlich von der Familienschuld befreit, da das kollektive Gedächtnis
die Verfehlungen meiner Vorfahren vergessen hat?“
Noch bis Anfang Januar 2026 verspricht das Stadttheaters Bremerhaven mit DIE BAGAGE einen intensiven Theaterabend.





