[Rezension] VOM GLÜCK, AUFS MEER ZU SCHAUEN. Die schönsten Geschichten und Gedichte/ ausgewählt von Jan Strümpel

Da unterbrach ich meinen Spaziergang zu den ALLTAGSMENSCHEN in Bremerhaven nur allzu gerne, um mir eine Pause auf einer Bank direkt an der Hafenkante zu gönnen. Vor mir befand sich zwar nicht direkt das Meer, doch die Lage der Stadt lässt die Nordsee durchaus bereits erahnen. So schaute ich sinnierend über das Wasser, lauschte dem Plätschern der Wellen und den Rufen der Möwen und schickte meine Gedanken auf Reise.

„Das muss eine Qualität des Meeres sein, dass es in jeder Form verlocken und entzücken kann, auch ohne Palmen, pittoreske Bergdörfer und gewaltige Brandungen. Wenn es denn nur zur Seele spricht.“ lässt Jan Strümpel in seinem Vorwort zu VOM GLÜCK, AUFS MEER ZU SCHAUEN verlauten, und da kann ich ihm nur beipflichten. Dies scheint eindeutig kein modernes Phänomen zu sein: Zu allen Zeiten übte das Meer seinen Reiz auf die Menschen aus und animierte sie zu Lyrik und Prosa, wie diese feine Sammlung beweist. Wie bereits bei der Auswahl zum Thema FRÜHLING seiner Kollegin Mareike von Landsberg, versammelt auch Jan Strümpel in seiner Anthologie eine äußerst abwechslungsreiche Riege an Literat*innen.

Da tummelt sich eingangs Hedwig Lachmann am Strand und ist da in bester Gesellschaft mit Theodor Storm. Clara Müller-Jahnke schwärmt da eher von einer turbulenten Fahrt auf dem Meer „Fühlst du die Bretter schwanken? Schon brandet dumpf das Meer…“, während Joachim Ringelnatz auf einem schwankenden Boot versucht, nicht den Humor zu verlieren. Erich Fried gibt uns lyrische Anweisungen, wie wir uns am Meer zu verhalten haben. Wilhelm Busch wird am Strand auf Borkum zu einigen Versen für eine mir nicht näher bekannten Dame namens Hermine inspiriert. Und sogar Elisabeth von Österreich (Ja, genau, die Sisi!) lässt sich zu einem Gedicht über die See animieren.

Aber auch die Damen und Herren der Prosa waren nicht untätig: Da gibt es kürzere Appetit-Häppchen aus MOBY Dick von Herman Melville und ZWANZIGTAUSEND MEILEN UNTER DEM MEER von Jules Verne, wie auch längere Passagen aus den Werken von Charles Dickens, Mark Twain, George Sand, Hans Christian Andersen und Victor Hugo. Da beginnen die Schiffsreisen in Stade, auf Ceylon und ab Nordstrand, um dann ihr Ziel auf Helgoland, Norderney, Mallorca und Mauritius nach einer mal mehr mal weniger beschwerlichen Überfahrt endlich zu erreichen. Denn die See kann verführerisch sanft und im nächsten Moment tückisch sein, weiß Else Lasker-Schüler zu erzählen. Doch zum Glück weisen die Lichter der Leuchttürme den Schiffen den Weg, wie Alphonse Daudet, der bereits auf einem von ihnen wohnte, berichten kann.

So vielfältig sich das Meer im Verlauf der Jahreszeiten oder bei unterschiedlichen Wetterbedingungen präsentiert, so kurzweilig sind auch die Texte und Gedichte der hier versammelten Literat*innen. Immer schwingt zwischen den Zeilen der Respekt vor dieser manchmal unberechenbaren Naturgewalt mit, die immer und überall auf der Welt die Phantasie der Menschen beflügelte und das Fernweh und den Drang nach Freiheit steigerte.

Auch auf mich übt das Meer einen unerklärlichen Zauber aus, schürt meine Sehnsucht und nährt meine Melancholie. Kann ich auch lange Zeit ohne sein, so zieht es mich irgendwann doch wieder ans Wasser. Denn nur beim Blick über die Wellen verspüre ich diese absolute Ruhe, die dem Gefühl von Friede sehr nahe kommt.


erschienen bei anaconda / ISBN: 978-3730614662

[Rezension] Märchenhafte Weihnachten. Wintermärchen aus aller Welt

Weihnachtszeit ist Märchenzeit!

So war es schon immer, und so wird es hoffentlich auch für immer bleiben. Landauf und landab öffnen die Theater ihre Pforten und präsentieren Märchen und Familienstücke zur Weihnachtszeit. Und auch in den heimischen vier Wänden wird näher zueinander gerückt, um einem Märchen zu lauschen. Dazu eignen sich Bilderbücher ganz besonders, bei denen dem Vorleser „über die Schulter geschaut“ werden kann, um so die Illustrationen bewundern zu können.

Der Wunderhaus-Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, sowohl bekannte wie auch weniger bekannte Märchen im neuen Glanz erstrahlen zu lassen und veröffentlicht hierzu thematische Märchenbücher. Unter dem Titel „Märchenhafte Weihnachten. Wintermärchen aus aller Welt“ fanden folgende Märchen ihren Weg ins Buch…

  1. Volksmärchen „Von den zwölf Monaten“
  2. H. C. Andersen „Der standhafte Zinnsoldat“
  3. Brüder Grimm „Sterntaler“
  4. H. C. Andersen „Der Tannenbaum“
  5. Brüder Grimm „Frau Holle“
  6. Manfred Kyber „Der Schneemann“
  7. Brüder Grimm „Die Wichtelmänner“
  8. H. C. Andersen „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“
  9. Pavel Bazhov „Silberhuf“
  10. Selma Lagerlöf „Die Heilige Nacht“

…mit Illustrationen von Nina Ignatova, Olesia Kosmodemianskaia, Natalia Grebtsova, Svetlana Kondesyuk, Daria Pneva, Agata Dorobek, Elena Schweitzer und Vlada Shamova.

Nun könnte ich durchaus unken: Einerseits ist „aus aller Welt“ etwas hochgegriffen, wenn man bedenkt, dass mit jeweils drei Märchen der wohl bekanntesten Märchenerzähler zwei Länder sehr überrepräsentiert sind. Andererseits hätte mich bei den anderen Märchen durchaus interessiert, aus welchen Ländern sie ihren Ursprung haben. Auch fehlten mir sowohl entsprechende Hinweise zu den Übersetzer*innen als auch eine Zuordnung, welche Künstlerin zu welchem Märchen ihre wundervollen Illustrationen beigesteuert hat. Zugegeben: Dieser „Makel“ traf zuallererst meinen bibliophilen Nerv und dürfte einem jüngeren Klientel, das ja schließlich die Zielgruppe dieses Buches ist, völlig schnuppe sein.

Die Geschichten wurden mit individuellen Illustrationen geschmückt, die die Stimmung des Märchens jeweils sehr schön einfangen. Auch habe ich es sehr begrüßt, dass die Übersetzung nicht krampfhaft bemüht war, einen modernen, zeitgemäßen Ton anzuschlagen. Vielmehr entspinnen sich die Poesie einer Erzählung und die Schönheit einer Sprache aus dem Klang ungewohnter, wenn nicht gar altmodischer Formulierungen.

Mir hat ebenfalls sehr gefallen, dass die Märchen eine weite Spanne an Emotionen und Empfindungen abdecken: von heiter zu geheimnisvoll, über spannende bis melancholisch-traurig. Ja, auch ergreifend traurige Märchen ohne Happy End sind vertreten – müssen in Kinderbüchern, die wahrhaftig sein wollen, auch vertreten sein (Beispiel: „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“). Einigen mag diese Haltung brutal erscheinen, doch ist das Leben von so manchem Kind nicht genau dies? Ich halte mich da an den großen Erich Kästner:

„Schließlich nahm ich ein Kinderbuch vor, das mir der Verfasser geschickt hatte, und las darin. Aber ich legte es bald wieder weg. So sehr ärgerte ich mich darüber! Ich will euch auch sagen, warum. Jener Herr will den Kindern, die sein Buch lesen, doch tatsächlich weismachen, dass sie ununterbrochen lustig sind und vor lauter Glück nicht wissen, was sie anfangen sollen! Der unaufrichtige Herr tut, als ob die Kindheit aus prima Kuchenteig gebacken sei. Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können? […] Es ist nämlich gleichgültig, ob man wegen einer zerbrochenen Puppe weint oder weil man, später einmal, einen Freund verliert. Es kommt im Leben nie darauf an, worüber man traurig ist, sondern nur darauf, wie sehr man trauert. Kindertränen sind, bei Gott, nicht kleiner und wiegen oft genug schwerer als die Tränen der Großen.“ (aus „Das fliegende Klassenzimmer“)

Märchen bzw. Bücher sind da eine ganz und gar wunderbare Möglichkeit, dass sich Kinder auch den ernsteren Themen annähern. Die Aufgabe von uns Erwachsenen ist es, ihnen dies zu ermöglichen, für ihre Fragen, Ängste und Sorgen empfänglich zu sein und ihnen den Halt zu geben, den sie brauchen und verdienen.


erschienen bei Wunderhaus / ISBN: 978-3963720314 / in der Übersetzung u.a. von Karin Ruppelt („Silberhuf“)

[Rezension] Yoshi Yoshitani – Das Buch der Mythen und Märchen. 78 inspirierende Geschichten aus aller Welt

Märchen schreibt die Zeit,
immer wieder wahr,
eben kaum gekannt,
dann doch zugewandt,
unerwartet klar.

…summte ich vor mich hin, als ich erstmals durch die Seiten dieses Buches blätterte. Ein Blick auf die Vita der Künstlerin offenbarte mir, dass ich instinktiv den passenden Song geträllert hatte. So hatte Yoshi Yoshitani u.a. schon für Produktionsfirmen wie Disney und Dreamworks gearbeitet. Dabei sind die Illustrationen zu diesem Buch fern jeglicher Disney-Romantik. Vielmehr hat Yoshitani Geschichten aus aller Welt ausgewählt, deren Handlung sich so manches Mal recht drastisch entwickelt und sich somit nicht als Gute-Nacht-Geschichte für die Kleinen eignet. Dies war von der Künstlerin auch nicht beabsichtigt: Vielmehr wendet sie sich an eine erwachsene(re) Leserschaft, die aus den Märchen und Mythen Inspirationen für das eigene Leben ziehen sollen. Passend zum Buch (und nicht im Buch inbegriffen) gibt es ein Tarot mit allen 78 Illustrationen als Karten-Set. So tauchen bei den Bildern immer wieder die aus dem klassischen Tarot geläufigen Symbole, wie Schwerter, Kelche, Münzen und Stäbe, auf. Besonders bei den Illustrationen zu den mir bekannten Geschichten irritierten mich anfangs diese Symbole etwas, da sie für mich keinen nachvollziehbaren Bezug zur Handlung hatten. Später nach wiederholter Betrachtung der Bilder konnte ich dies gut als ein rein gestalterisches Element akzeptieren.

Für jedes Märchen hält die Künstlerin eine Doppelseite bereit: Während die linke Seite eine farbenfrohe Illustration ziert, wird auf der rechten Seite der Inhalt wiedergegeben. Hierbei handelt es sich allerdings eher um Nacherzählungen aus der Feder der Autorin und weniger um die Wiedergabe des Original-Textes. So sind die Nacherzählungen zwar durchaus gelungen, komprimieren die Geschichten allerdings zwangsläufig auf die nötigsten Handlungselemente. Am Ende des Buches hätte ich mir darum einen Anhang mit Quellenangaben bzw. Literaturhinweise sehr gewünscht, um so auf die Original-Texte zugreifen zu können.

Die Ursprungsländer der Original-Geschichten umspannen den gesamten Erdball. Da sind die uns bekannten Märchen von Hans Christian Andersen und den Brüdern Grimm ebenso vertreten, wie die Märchen aus Frankreich oder England. Persische bzw. orientalische Volksmärchen finden sind neben Mythen aus West- und Nordafrika. Auch Geschichten aus Japan, China und Vietnam dürfen hier nicht fehlen. Die Nordischen Sagen aus Alaska oder Norwegen stehen ebenbürtig neben Erzählungen aus Indien, Ägypten und Griechenland. Und auch der amerikanische Kontinent, Australien und Russland werden mit ihren oft jahrhundertealten Überlieferungen nicht vergessen.


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Im Mittelpunkt der Geschichten steht oft ein Lebensumbruch mit dem die Held*innen umzugehen versuchen. Dabei verzichtet die Autorin wohltuend auf das abgegriffene Klischee der hilflosen Prinzessin, die darauf wartet, dass ein wagemutiger Prinz auf seinem weißen Pferd angetrottet kommt, um sie aus ihrer misslichen Lage zu erretten. Vielmehr strahlen gerade die weiblichen Figuren eine enorme mentale wie körperliche Stärke aus und brauchen sicherlich so einiges zur Lösung ihres Problems aber definitiv keinen depperten Prinzen.

Bei dieser üppigen Auswahl an internationalen Geschichten wird nur allzu deutlich, dass die Menschen – egal wo sie leben – ähnliche Ängste und Sehnsüchte haben. Wir sind im Grunde eben doch nur ein Erden-Volk, was sich auch anhand einer ähnlichen Grundstruktur von Märchen aus unterschiedlichen Ländern widerspiegelt. So findet Die kleine Meerjungfrau (Dänemark, Seite 23) ihre Schwester in Julnar die Meerfrau (Persien, Seite 145). Die Schöne und das Biest (Frankreich, Seite 121) könnten mit Der weiße Bär König Walemon (Norwegen, Seite 131) verwandt sein. Und sowohl Die wunderschöne Wassilissa (Russland, Seite 101) als auch Die gute Fee (Frankreich, Seite 167) zeigen deutliche Ähnlichkeiten zu „unserem“ Aschenputtel.

Dank ihrer Eltern vereinen sich in Yoshi Yoshitani sowohl die japanische wie auch die US-amerikanische Kultur und nehmen so Einfluss auf ihre Werke. So meinte ich (aus meiner europäischen Sichtweise heraus), die besondere Ästhetik japanischer Grafiken in den Illustrationen wiederzuerkennen. Ihre Farbwahl erzeugt eine Lebendigkeit, die so die Aufmerksamkeit des Betrachtenden auf die Details lenkt. Die Illustrationen strahlen zudem eine enorme Dynamik aus, und es wirkt beinah so, als wären die Figuren in einer stetigen Bewegung.

Die kulturellen Besonderheiten eines Landes werden durchaus wiedergegeben aber nie protzig hervorgehoben. Vielmehr wird vermittelt, dass das besagte Märchen zwar in einem bestimmten Land spielt, und somit die Kulisse passend gewählt wurde. Allerdings könnte sich die Geschichte auch in jedem anderen Land zugetragen haben. Stichwort: Erden-Volk!

Dank Yoshi Yoshitani kann ich meine Märchenbuch-Sammlung um ein weiteres interessantes Werk ergänzen, das mit seiner Auswahl an Geschichten ganz wunderbar einen Bogen um den Erdball spannt und so Länder und Völker miteinander verbindet.


erschienen bei Irisiana / ISBN: 978-3424154573 / in der Übersetzung von Sven Beier

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Heinz Janisch – Hans Christian Andersen. Die Reise seines Lebens/ mit Illustrationen von Maja Kastelic

„Buch des Monats“ im März 2020, Nominierung für „Jugendsachbuchpreis 2020 des Vereins für Leseförderung e. V.“ und eine Platzierung auf der Shortlist „Die schönsten Deutschen Bücher 2020“ – zudem war dieses Buch für drei Jahre ein fester Gast auf meiner Wunschliste. Und das ist wahrlich die größte Auszeichnung, da dies absolut nicht selbstverständlich ist. Denn die Wunschliste eines Buchbloggers ist einem stetigen Wandel ausgesetzt: Da sehe ich bei Blogger-Kolleg*innen, auf einer Verlagsseite oder in einschlägigen Foren ein Buch, dass mir interessant erscheint, und – Schwupps! – notiere ich mir den Titel auf meiner Wunschliste. Einige Monate später entdecke ich den Titel wieder auf eben jener Liste, frage ich mich, was mich daran interessiert hat, und – Schwupps! – ist der Titel wieder gestrichen. Doch einige Werke verbleiben auf dieser geheimnisvollen Wunschliste und landen dann bestenfalls im heimischen Bücherregal. So wie dieses Buch…

In einer Kutsche sitzt das Mädchen Elsa. Zusammen mit ihrer Mutter ist sie auf dem Weg nach Kopenhagen. Ihnen gegenüber sitzt ein weiterer Passagier, der Elsas Aufmerksamkeit erregt. Neugierig fragt sie ihn „Bist du alt?“. Ihre Mutter ist entsetzt, doch der Fremde entpuppt sich als der berühmte Schriftsteller Hans Christian Andersen, der nur allzu gerne auf die Fragen des wissbegierigen Kindes reagiert. Und so entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch zwischen den Beiden in dessen Verlauf Andersen Elsa erzählt, wie aus dem Sohn eines armen Schuhmachers der gefeierte Schriftsteller werden konnte. Beinah so phantastisch wie seine Märchen mutet auch diese Geschichte an…!


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Hans Christian Andersen war wahrlich keine einfache Persönlichkeit. Er galt als Außenseiter, der mit seinem unkonventionellen Verhalten bei gesellschaftlichen Anlässen aneckte. Auch sein Erscheinungsbild schien wenig für ihn einzunehmen. So beschrieb Friedrich Hebbel ihn als „lange, schlottrige, lemurenhaft-eingeknickte Gestalt mit einem ausnehmend hässlichen Gesicht“. Auch strapazierte er die Geduld von Gastgebern und ihm bekannten Schriftstellern über Gebühr: Ein anfangs auf 14 Tage angedachter Besuch bei Charles Dickens und dessen Familie verlängerte er unabgesprochen um weitere drei Wochen. Dabei legte er solch ausgefallene Allüren an den Tag, mit denen er gewaltig am Nervenkostüm seiner Gastgeber zerrte. So kann man durchaus die Notiz verstehen, die Dickens nach Andersens Abreise auf dem Spiegel des Gästezimmers hinterließ: „Hans Andersen schlief fünf Wochen in diesem Zimmer. Der Familie kam es vor wie eine Ewigkeit.“

Zeitlebens – selbst auf der Höhe seines Erfolges – schien der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Andersen das Gefühl zu haben, er würde zu wenig Anerkennung erhalten, und so forderte er diese vehement von seinem Gegenüber ein. Mit dem Wissen um die Hintergründe ist es umso erstaunlicher, dass diese komplizierte Dichter-Persönlichkeit so wunderbare Kunstmärchen voller Anmut und Zartheit schuf. Autor Heinz Janisch nimmt in seiner Geschichte die dichte Atmosphäre der Anderschen Märchen auf und zeichnet ein ansprechenderes Bild von Dänemarks berühmtesten Dichter: Aus dem exzentrischen Eigenbrötler wird die freundliche und zugewandte Reisebekanntschaft, die nur allzu gerne mit seiner kleinen Begleiterin plaudert. Dabei verknüpft Janisch gekonnt die Lebensgeschichte des Autors mit dessen Märchen und zeigt so mögliche Parallelen auf bzw. verdeutlicht Andersens Abneigung gegen die Pädagogik der damaligen Zeit. Dabei bedient er sich einer beinah poetischen Sprache, die ihren Zauber insbesondere beim Vorlesen entfaltet (Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe es erprobt!). Wunderbar flüssig perlen Sätze und Dialoge über die Zunge. Janisch schuf einen charmanten Spannungsbogen, bei dem er das Märchenhafte der Geschichte nie aus dem Fokus verliert.

Maja Kastelic unterstützt mit ihren Illustrationen die Erzählung von Heinz Janisch kongenial, indem sie Elemente eines klassischen Bilderbuchs mit denen der Graphic Novel kombiniert, und so eine ganz eigen Dynamik in der Erzählweise kreiert. Dabei variierte sie in der Farbgebung, um so die unterschiedlichen Erzählebenen hervorzuheben. So wählte sie für die Vergangenheit, also für den Teil der Geschichte, der vom Werdegang Andersen handelt, einen düsteren Sepia-Ton. Die Gegenwart leuchtet in den Farben eines sonnigen Sommertags, während die Märchenaspekte in bunten Farben erstrahlen.

Zudem verführt sie uns zum besonders aufmerksamen Betrachten des Buches, da sie in ihren Bildern sowohl einige Held*innen aus Kinderbüchern wie auch deren Schöpfer*innen versteckte – eine ganz und gar charmant-respektvolle Verbeugung vor dem Talent wunderbarer Kinderbuch-Autor*innen, denen wir als Kind vergnügliche Lese-Stunden verdankten, da sie uns die Welt erklärten und sie so erfahrbarer machten.


erschienen bei NordSüd / ISBN: 978-3314104220

[Rezension] Rainer Moritz – Unbekannte Seiten. Kuriose Literaturgeschichte(n)

Anekdoten, diese kleinen Geschichten und Geschichtchen, die oft witzig und kurios aus dem Leben einer Person berichten und diese so oftmals sehr treffend charakterisieren. In ihrer Reduzierung auf das Wesentliche steuert die Handlung zwangsläufig auf eine Pointe hin und sorgt so oftmals für Erheiterung beim Publikum. Aber um dies zu erreichen, muss die vortragende Person sie aber auch zu erzählen wissen, da eine mittelprächtige Anekdote durchaus durch die Kunst des Vortragenden aufgewertet werden kann. Bei der Weitergabe einer Anekdote wird hier ein wenig ausgeschmückt, dort ein wenig weggelassen, und schlussendlich ist sowohl die Urheberschaft als auch der Wahrheitsgehalt nicht mehr nachweisbar.

Rainer Moritz beherrscht einerseits die Kunst der geistreichen Plauderei aus dem Effeff, andererseits kennt er als Mann mit Hang zur Bibliophilie so manches pikantes Histörchen aus dem Literaturbetrieb. Und so greift er für diese Sammlung in den großen Topf der Anekdoten und kredenzt uns eine appetitliche Vielfalt an Geschichten quer durch die Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte. Und so erfahren wir…

Warum…
…Marcel Proust einen Kritiker zum Duell aufforderte, um seine Ehre zu retten?
…Hellmuth Karasek zu einer Lesung aufgrund kulinarischer Versuchungen verspätet erschien?
…Francoise Sagans Maserati für Aufruhr bei den Studentenrevolten sorgte?
…Oscar Wilde mit dem Muster der Tapete in seinem Pariser Hotel-Zimmer haderte?
…Friedrich Dürrenmatt sich am Brand eines Nobel-Hotels schuldig fühlte?
…Agatha Christie ihr eigenes Verschwinden inszenierte, um den untreuen Gatten zu strafen?
…Charles Dickens nach der Abreise von Hans Christian Andersen eine Bemerkung auf den Spiegel des Gästezimmers schrieb?
…Colettes niederschmetternde Kritik an George Simenons Prosa diesen auf den rechten literarischen Weg führte?

Diese und 30 weitere Kuriose Literatur-Geschichte(n) finden sich in diesem unterhaltsamen Büchlein: Einige waren mir durchaus schon bekannt. Doch die Meisten las ich zum ersten Mal, und sie amüsierten mich prächtig. Dies war natürlich auch dem ironischen aber nie verletzenden Ton von Rainer Moritz zu verdanken, der angenehm eloquent dieses Brevier aus Klatsch und Tratsch zusammenstellte, mit der ich meine Zeit äußerst kurzweilig verplemperten durfte.

Beim Lesen dieser amüsanten Berichte hatte ich oftmals das Gefühl, dass der/die Held*in die entsprechende Aufmerksamkeit selbst herausforderte, um so an der eigenen Historienbildung zu feilen. Denn: So viele Zufälle auf einem Haufen erscheinen beinah unvorstellbar. Doch: Wer bin ich, um darüber zu richten. Und schlussendlich: Wer weiß schon, was wirklich geschah? 😉


erschienen bei Oktopus (bei Kampa)/ ISBN: 978-3311300243

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] E.T.A. Hoffmann – Der Nussknacker / Hans Christian Andersen – Der Tannenbaum & Die Schneekönigin/ mit Illustrationen von Sanna Annukka

„Märchen schreibt die Zeit…!“

Weihnachtszeit ist Märchenzeit: Keine andere Zeit des Jahres verbinde ich so sehr mit zauberhaften Geschichten, spannenden Sagen und magischen Begebenheiten wie diese. Zu keiner anderen Zeit finden Märchen ihren Weg so häufig auf die Bretter, die die Welt bedeuten: So hüpfen Urmel, Pippi und Robin Hood ebenso über die bundesdeutschen Bühnen wie auch „Hänsel und Gretel“ in der entzückenden Märchenoper von Engelbert Humperdinck. Und von sicherer Quelle war zu erfahren, dass im TV auch in diesem Jahr wieder drei Haselnüsse die Wünsche von Aschenbrödel erfüllen werden, und das gleich mehrmals über den gesamten Dezember verteilt!

Doch auch wunderbar gestaltete Märchenbücher haben nun bei Klein und Groß Hochkonjunktur, und selbst wenn die Geschichten in anderer Form schon in meinem Bücherregal zu finden sind, so verleiten mich häufig die zauberhaften Illustrationen zu einem weiteren Einkauf in der Buchhandlung meines Vertrauens.

In diesem Fall handelt es sich um drei klassische Märchen, deren Handlungen hinlänglich bekannt sind, wo die literarischen Fähigkeiten ihrer Schöpfer völlig außer Frage stehen und einen märchenhaften Lesegenuss garantieren. Vielmehr ist in diesen Fällen mein Augenmerk auf die Ausstattung der Bücher und die Kunst der Illustratorin gerichtet.

Der Knesebeck-Verlag erfreut den bibliophilen Märchen-Fan mit edlen Einbänden in Halbleinen, auf denen Figurinen u.a. in glamourösem Gold bzw. Silber abgebildet sind und so auf den Stil der Illustrationen schließen lassen. Die Finnin Sanna Annukka studierte an der „University of Brighton“ und entdeckte dort ihre Leidenschaft für den Siebdruck. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie als Illustratorin u.a. für die Zeitschrift „Vogue“ und der britischen Kaufhauskette „Selfridges“ und war ebenso als Designerin der finnischen Textil- und Modemarke „Marimekko“ tätig.

Und genau an diesem Stil fühlte ich mich erinnert – ohne Details aus der Vita der Künstlerin zu kennen – als ich einen ersten Blick in eines dieser Bücher warf: Die Illustrationen bestechen durch ihre sachliche Formgebung mit den geometrischen Elementen. Durch die Reduzierung in Form und Farbe wird der Blick bewusst gelenkt. Erst der zweite Blick offenbart Details, die „im Dunkeln“ bzw. im Hintergrund und somit beinah im Verborgenen wirken. Und doch bricht die Künstlerin immer wieder ihre selbst gewählte Form auf und sorgt für Abwechslung im scheinbar so sachlichen Gefüge. Ihre Kunstwerke gestaltet sie immer wohltuend harmonisch aus der Farb-Palette einer Farbfamilie und sind trotzdem alles andere als „farblos“. Im Gegenteil: „Bunt“ wird hier neu definiert!

Dabei bleibt sie dem märchenhaften Duktus der Vorlagen treu und schafft Bilder in einer beinah ätherische Reinheit: Eine wahre Freude voller Ästhetik und Poesie…!


erschienen bei Knesebeck/ ISBN: 978-3957282224 (Der Nussknacker), ISBN: 978-3868736311 (Der Tannenbaum/leider nicht mehr lieferbar) & ISBN: 978-3868738735 (Die Schneekönigin)

MONTAGSFRAGE #71: Welche Bücher mit Illustrationen im Mittelpunkt des Werkes sollten in keinem Buchregal fehlen?

Für mich – und dies ist eine rein subjektiv geprägte Äußerung – sind Illustrationen mit dem Werk in keinem Genre so eng miteinander verbunden wie bei den Märchenbüchern. (Oder kann sich irgendjemand ein Märchenbuch ohne Illustrationen vorstellen? Nein?! Na, sag ich doch!)

Märchenbücher gibt es „wie Sand am Meer“, sei es als Anthologien unterschiedlichster Ausprägung oder als Bilderbücher mit einer einzigen Märchengeschichte, und so abwechslungsreich das Angebot an Märchenbüchern ist, so vielfältig sind auch die entsprechenden Illustrationen. So findet jede*r das passende Märchenbuch nach dem persönlichen Gusto.

Für mich – und auch dies ist wieder eine rein subjektiv geprägte Äußerung – gibt es ein Märchenbuch, das von all meinen Märchenbüchern seit Jahren an erster Stelle steht: Am 1. November 1987 erschien im Diogenes-Verlag Das große Märchenbuch, das nach wie vor erhältlich ist und sich somit zu einem Dauerbrenner entwickelt hat. Auf 672 Seiten sammelte Herausgeber Christian Strich nicht nur die bekanntesten und beliebtesten Märchen von den Brüdern Grimm und Hans Christian Andersen. Er warf auch einen Blick auf die Schätze fremder Länder mit ihren Volksmärchen und gab auch weniger bekannten Märchenerzählern wie Alexander N. Afanasjew oder Joseph Jacobs Raum. So ist allein die Auswahl dieser Märchen-Anthologie schon etwas Besonderes. Was „Das große Märchenbuch“ allerdings so außergewöhnlich macht, sind die Illustrationen von Tatjana Hauptmann.

Das große Märchenbuch im Diogenes Verlag - Tatjana Hauptmann.png

Ich weiß wirklich nicht, wo/wie ich beginnen soll! Am liebsten möchte ich in einen wahren Begeisterungstaumel incl. Jubelrufe ausbrechen…! Doch ich werde versuchen, mich zu zügeln. Kurz und bündig: Tatjana Hauptmanns Illustrationen sind schlicht und ergreifend wunder-wunderschön!!!

Jedes Märchen erhält von ihr ein ganzseitiges, farbenfrohes Aquarell. Zusätzlich tummeln sich im Text und am Rand des Buches mannigfaltige Zeichnungen, die fantasievoll und detailreich die Handlung bereichern. Ihre Illustrationen sind durchaus für Kinderaugen geeignet, aber auch der erwachsene(re) Betrachter entdeckt skurrile oder pikante Einzelheiten – und dies manchmal erst beim dritten, vierten oder fünften Anschauen.

Ihre Zeichnungen weisen eine gewisse Verspieltheit auf, ohne in eine kindliche Drolligkeit abzugleiten und sind geprägt durch ihren humorvollen Blick auf das jeweilige Märchen. Tatjana Hauptmanns Illustrationen sind schlicht und ergreifend wunder-wunderschön! (Uups, das hatte ich ja schon erwähnt!) Dies ist für mich definitiv ein Werk, das in keinem Buchregal fehlen darf!

…und welchem illustrierten Werk gebt Ihr den Vorzug?


Antonia Leise von „Lauter & Leise“ hat dankenswerterweise DIE MONTAGSFRAGE: Buch-Blogger Vorstellungsrundewiederbelebt und stellt an jedem Montag eine Frage, die Interessierte beantworten können und zum Vernetzen, Austauschen und Herumstöbern anregen soll! Ich bin gerne dabei!!!

In meinem MONTAGSFRAGE-Archiv findet Ihr Fragen & Antworten der vergangenen Wochen.

[Rezension] Das große Märchenbuch/ gesammelt von Christian Strich/ mit Illustrationen von Tatjana Hauptmann

Wie? – noch ein Märchenbuch? Ja! – unbedingt!

„Das große Märchenbuch“ vom schweizer Diogenes-Verlag darf sich mit Recht schon als Klassiker bezeichnen: Am 1. November 1987 erstmals erschienen, begeistert es seitdem die Großen ebenso wie die Kleinen.

Zu verdanken ist dies – neben einer illustren Sammlung der schönsten Märchen verschiedenster Autoren – den traumhaften Zeichnungen und Aquarellen von Tatjana Hauptmann!

Während die Märchenbücher aus dem Taschen-Verlag sehr modern – Ja! – beinah „hipp“ daherkommen und somit eher auf eine erwachsene Leserschaft schielen, erschafft hier nur eine einzige Illustratorin die fantasievolle Märchenwelt auch für die Jüngeren und animiert zum gemeinsamen Lesen und Betrachten.

Diese Künstlerin schafft es in ihrer unnachahmlichen Weise, die Essenz der Geschichten in ihren Werken wiederzugeben und die Atmosphäre des jeweiligen Märchens einzufangen. Dabei lohnt es sich, als Betrachter auch den Blick vom Zentrum des Bildes abzuwenden und auf die vielen, kleinen, liebevollen Details „am Rand“ zu richten,…

…und ich kann auch hier nur meinen Ruf vom 11. Dezember wiederholen:

traumhaft! – verführerisch! – phantasievoll! – unwiderstehlich!

erschienen bei Diogenes/ ISBN: 978-3257006858