[Rezension] Rodolphe (nach Charles Dickens) – SCROOGE. Eine Weihnachtsgeschichte/ mit Illustrationen von Estelle Meyrand

Es gibt Geschichten, die tauchen zu gewissen Zeiten immer wieder und wieder auf. Beinah scheinen sie mich zu verfolgen, wobei ich dies in diesem besonderen Fall nicht als unangenehm empfinde. Insbesondere gerade zu dieser Jahreszeit lasse ich mich nur zu gerne von diesem Klassiker der Weihnachtsliteratur in Stimmung bringen. Charles Dickens Märchen über den alten Geizkragen, der durch die nächtlichen Begegnungen mit den Geistern der Weihnacht geläutert am Weihnachtsmorgen erwacht und sein Leben völlig umkrempelt, begeistert mich – egal in welcher Erscheinungsform – immer wieder erneut.

Nachdem bereits drei illustrierte Fassungen dieser wunderbaren Geschichte Einlass in die Rubrik LEKTÜRE ZUM FEST gefunden haben, fiel in diesem Jahr meine Wahl auf eine Graphic Novel.

Schon beim ersten Durchblättern konnten mich die Illustrationen von Estelle Meyrand für sich einnehmen. Einerseits betonte sie mit ihren gelungenen Figurinen und dem dazugehörigen Setting den märchenhaften Charakter der Geschichte, andererseits vermied sie wohltuend das allzu Niedliche, sondern streute immer wieder dunklere Momente in die Handlung ein. Während Scrooge in seiner deprimierenden Welt aus dumpfen Farben beinah zu versinken droht, leuchten die Farben bei seinen Mitmenschen umso wärmer und fröhlicher.


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Genrebedingt rechnete ich natürlich mit Kürzungen bei der Handlung. Allerdings bedauerte ich es sehr, dass in der Konzeption des Szenarios durch Rodolphe die drei Geister der Weihnacht dem Rotstift zum Opfer fielen, und er Scrooge auf seiner Reise durch die Nacht ausschließlich Marleys Geist zur Seite stellte. Gerade Scrooges banges Warten auf die drei Geister, wo jeder von ihnen ein sehr individuelles Erscheinungsbild hat und so jeweils ein anderes Weihnachten repräsentiert, sorgte in der Originalgeschichte für sehr viel Atmosphäre und Dynamik. Die Dialoge erscheinen mir (in der Übersetzung von Tanja Krämling) sehr gelungen und wirken für die jeweilige Person sehr passend und natürlich.

Doch zwangsläufig fehlte der Graphic Novel die emotionale Tiefe, der ich mich beim Original so gerne hingebe: Da überrollen mich meine Gefühle und es kullert dann das eine oder andere Tränchen, was bei der Lektüre der Graphic Novel ausblieb. Ich bin überzeugt, dass gerade für ein jüngeres Publikum SCROOGE die wunderbare Möglichkeit bietet, sich dem Werk eines des bedeutenden britischen Literaten anzunähern.

Auch ich habe mich durchaus gut unterhalten gefühlt, würde allerdings der wunderschönen Novelle von Charles Dickens immer den Vorzug geben. Zumal mit einer der äußerst gelungenen illustrierten Fassungen mir diese Graphic Novel nicht fehlen würde.


erschienen bei toonfish (Splitter) / ISBN: 978-3967927313 / in der Übersetzung von Tanja Krämling

LEKTÜRE zum FEST 2025…

Da ist sie wieder: meine liebste Zeit im Jahr! Auch nach all den Jahren, die ich nun schon auf dem Buckel habe, ist meine Freude an der Advents- und Weihnachtszeit nicht geschwunden, und ich habe mir immer noch ein kindliches Staunen bewahrt. Auch wenn ich Ende August aufstöhne, wenn ich mit T-Shirt und Shorts bekleidet vor den ersten Lebkuchen und Spekulatius im Supermarkt stehe, halblaut vor mir her schimpfe und Sätze wie „Das wird auch von Jahr zu Jahr früher!“ verlauten lasse. So verspüre ich doch innerlich ein verführerisches Kribbeln, das andeutet „Bald ist es soweit!“

Bald ist es soweit, und dann werde ich eine Vielzahl an Kartons aus dem Abstellraum kramen, sie öffnen, ihren Inhalt befreien, um ihn mit einer unbändigen Freude über die Zimmer unseres Heimes zu verteilen. Auch sind die Termine zu den vielfältigen und stimmungsvollen Weihnachtsmärkten der Region bereits in meinem Kalender notiert.

Doch meine Beschäftigung mit dieser besonderen Zeit begann schon viel früher: Bereits im Sommer habe ich in all den wundervollen Verlags-Vorschauen geblättert, um rechtzeitig meine Anfragen zweck Rezensionsexemplare für meine Lieblingsrubrik LEKTÜRE ZUM FEST starten zu können. Gleichzeitig warf ich aber wiederum einen Blick auf die Back-List der Verlage und bediente mich auch bei ihr.

Eine gute Geschichte wird nicht schlechter, nur weil ihre Veröffentlichung schon einige Zeit zurück liegt. Da wäre es doch sehr bedauerlich, wenn diese Bücher in Vergessenheit geraten würde, nur weil sie nicht mehr an vorderster Front in den Regalen der Buchhandlungen zu finden sind.



Auch in diesem Jahr habe ich mich bemüht, eine vielfältige Auswahl an Lektüre zusammenzustellen: So wird es poetisch, kriminalistisch, bildgewaltig, märchenhaft, klassisch,…!

Wir lassen uns durch die Saison geleiten mit einem literarischen Adventskalender und schmökern in Weihnachtsgeschichten von „schön bis schaurig“. So manches Verbrechen gilt es aufzuklären, bei dem zur Spannung auch das Lachen nicht zu kurz kommt. Wie bereits in den vergangenen Jahren schauen wir auch diesmal bei Ebenezer Scrooge vorbei. Nur anhand der Kraft der Illustrationen lassen wir uns eine entzückende Geschichte erzählen, bevor wir einem charmanten Telefonat zwischen Vater und Tochter lauschen. Dann amüsieren wir uns an einem perfekt unperfekten Weihnachtsfest, und müssen leider feststellen, dass der Wunsch nach Friede nie aus der Mode kommen wird.

Dies alles gibt es zu entdecken,…

  • NOCH 24 MAL SCHLAFEN. Ein literarischer Adventskalender/ ausgewählt von Ron Mieczkowski
  • Molly Thynne – EINGESCHNEIT MIT EINEM MÖRDER
  • Richard Johnson – ES WAR EINMAL EIN SCHNEESTURM
  • Kai Magnus Sting – TOD UNTER LAMETTA. Teil 1+2 (Hörspiel)
  • Kirsten Boie – DER WEIHNACHTSFRIEDEN/ mit Illustrationen von Claire Harrup
  • Beate Maly – ADVENT IM GRANDHOTEL. Eine Weihnachtsgeschichte
  • MEINE LIEBSTEN WEIHNACHTSGESCHICHTEN/ herausgegeben von Dirk Böhling
  • Rodolphe (nach Charles Dickens) – SCROOGE. Eine Weihnachtsgeschichte/ mit Illustrationen von Estelle Meyrand
  • SCHAURIGE WEIHNACHTEN. Klassische Horror- und Geistergeschichten/ ausgewählt von Jochen Veit
  • David Wagner – ALLE JAHRE WIEDER
  • Johanna Lindemann – DIE GESTOHLENE WEIHNACHTSGANS/ mit Illustrationen von Andrea Stegmaier

..und ich hoffe sehr, dass ihr beim Anblick meiner kleinen Auswahl eine unbändige Lust verspürt, selbst in die wunderbare Welt der Weihnachtslektüre einzutauchen. Es würde mich sehr freuen!

Ich wünsche Euch von Herzen eine wundervolle Adventszeit mit vielen inspirierenden Lese-Stunden!

Liebe Grüße
Andreas


P.S.: Wenn Planung und Wirklichkeit aufeinandertreffen, da kann so einiges passieren. Darum: Alle Angaben ohne Gewähr! 😉

LESE-HIGHLIGHTS 2024…

Altes Jahr vergeht.
Wange in die Hand gestützt,
blicke ich ihm nach.

Chô-i

So wie der japanische Dichter Chô-i es zwar knapp aber treffend schon vor hunderten von Jahren beschrieben hatte, erging es mir beim Schreiben dieses Beitrags.

Ich schaue auf das Jahr 2024 mit gemischten Gefühlen: Da gab es so manche Krisen bzw. krankheitsbedingte Rückschläge, die mich zum Nachdenken zwingen… (Nein! Ich werde nicht gezwungen. Vielmehr werde ich aufgefordert.) …die mich zum Nachdenken auffordern. Ich empfinde es wahrlich nicht als Zwang. Ich sehe es vielmehr als Chance! Im Neuen Jahr wird es Veränderungen geben: Wie und in welchem Umfang wird sich noch entscheiden. Um langfristig gesund zu bleiben, sollte sich in meinem Leben allerdings einiges ändern.

Doch natürlich gab es nicht nur Krisen: Gottlob wurde ich mit vielen Glücksmomenten – kleinen wie größeren – beschenkt. Ich durfte viel Qualitätszeit mit meinen Herzensmenschen verbringen, erlebte etliche inspirierende Stunden im Theater und Konzert und las einige wunderbare Bücher.

Diese Aspekte meines Lebens werde ich ganz sicher nicht ändern!

Bei der Auswahl der Bücher bin ich mir gänzlich treu geblieben. Die Zeiten, in denen ich dachte, ich müsste hier mit der Vorstellung intellektuell herausfordernder Literatur meine Follower*innen beeindrucken, sind längst passé. Ich lese, was mir gefällt – unabhängig vom Alter des Werkes bzw. für welches Lesealter es ursprünglich vorgesehen war. Es gibt für mich nur eine einzige Voraussetzung: Ich möchte mich unterhalten fühlen!

Und hier sind sie nun endlich, meine Lese-Highlights des Jahres 2024…


Lese-Highlights 2024 - Buchcover


  • Ende Februar wurde der 125. Geburtstag von Erich Kästner gefeiert. Und auch ich ließ es mir nicht nehmen, diesen großartigen Romancier – neben einer kleinen RETROSPEKTIVE – mit Rezensionen zu DAS MÄRCHEN VOM GLÜCK und DAS MÄRCHEN VON DER VERNUFT zu gratulieren. Beide Bücher wurden phantasievoll von Ulrike Möltgen illustriert.
  • Im März tat ich etwas, was längst überfällig war: Es war mir eine große Freude, Heinrich Spoerls „Loblied auf die Schule“ DIE FEUERZANGENBOWLE zu lesen.
  • Ebenfalls im März begeisterte mit Kathrin Aehnlich mit ihrem Roman DER KÖNIG VON LINDEWITZ. Immer wieder schafft sie es, den Menschen im Osten unsere Landes eine Stimme zu geben.
  • Im April hielt ich dann das wunderbare Lese- und Bilderbuch FESTE DER WELT mit den Texten von Joanna Kończak in den Händen, das von Ewa Poklewska-Koziełło ebenso wunderbar illustriert wurde.
  • Der Mai bescherte mir mit DER TWYFORD-CODE von Janice Hallett einen ganz ungewöhnlichen Roman, der komplett aus Transkriptionen von Audiodateien bestand. Spannend!
  • Absolut Entzückendes erwartete mich im August mit SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN von Siegfried Lenz. Dieses kleine ostpreußische Dorf im Masurenland mit seinen liebenswert-kauzigen Menschen war mir schnell ans Herz gewachsen.
  • Im September feierte auch ich den Weltkindertag: Grund genug mich mit MEIN GROSSER MÄRCHENSCHATZ. Das Original aus den 70ern der Brüder Grimm auf eine kleine Zeitreise in meine eigene Kindheit zu begeben.
  • Der September überraschte mich auch mit dem Erzählband MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN, PLATZIERT SIE AUF DEM GRAB DIE GIESSKANNE MIT DEM AUSGUSS NACH VORN von Saša Stanišić, das mich so sehr begeistern konnte.
  • Im Oktober wurde es schaurig-schön mit DAS PHANTOM DER OPER von Gaston Leroux in der überzeugenden Neu-Übersetzung Rainer Moritz.
  • Der Oktober blieb weiter spannend, da ich mit Sasha Filipenko und seinem Krimi  DER SCHATTEN EINER OFFENEN TÜR einen sehr interessanten Autor entdeckte.
  • Ende November geschah ein kleines Wunder, das mich selbst überraschte: Mit Agatha Christies HERCULE POIROTS WEIHNACHTEN von Isabelle Bottier (Text) und Callixte (Illustrationen) konnte mich endlich eine Graphic Novel überzeugen.
  • Im Dezember wurde es humorvoll-besinnlich mit den entzückenden Geschichten wie DER GESTOHLENE WEIHNACHTSBAUM von Hans Fallada, zu denen Ulrike Möltgen (wie schon bereits bei Erich Kästner) ihre zauberhaften Illustrationen beisteuerte.

…und das war er wieder, mein Lese-Rückblick auf das Jahr 2024, das wir in wenigen Tagen ad acta legen können. Da bleibt mir nur noch eins:

Ich wünsche Euch einen guten Rutsch ins Neue Jahr 2025!

Liebe Grüße
Andreas

[Rezension] Charles Dickens – EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE/ mit Illustrationen von Lisa Aisato

Es ist wohl eine der bekanntesten und beliebtesten Geschichten der Welt: Charles Dickens A CHRISTMAS CAROL. Darum wäre es für mich auch müßig, überhaupt auch nur ein Wort zu diesem Klassiker der Weltliteratur zu verlieren. Ebenso müßig ist es hierbei, der jeweiligen Übersetzung übermäßig Aufmerksamkeit zu schenken, da alle Übersetzer*innen eine großartige Arbeit geleistet haben. Oftmals sind es nur Nuancen, die für mich ausschlaggebend sind, welche Fassung mir als Vor-Leser geschmeidiger über die Lippen kommt. Da die mir vorliegenden Übersetzungen alle auf einem ähnlich hohen Niveau sind, wäre ich allerdings als „purer“ Leser nicht fähig, einen Favoriten zu küren. Da empfinde ich die unterschiedliche Benennung des Titels schon verwirrender: Neben EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE taucht auch EIN WEIHNACHTSMÄRCHEN und EIN WEIHNACHTSLIED als Titel ein und derselben Geschichte auf.

Also erlaube ich mir, mein Augenmerk auf die optische Umsetzung zu legen. Zumal ich bereits zwei Mal das Vergnügen hatte, eine illustrierte Fassung rezensieren zu dürfen. Während ich bei Lisbeth Zwergers Illustrationen die schlichte Zurückhaltung schätze, begeistern mich die Bilder von Patrick James Lynch mit ihrer atmosphärischen Detailgenauigkeit.


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Für die Illustration der vorliegenden Fassung war nun die norwegische Künstlerin Lisa Aisato verantwortlich. Wie ihre beiden Vorgänger*innen konnte auch sie mich dank ihres sehr eigenen Stils vollkommen überzeugen.

Sie schuf wahre Kunstwerke: detailreich, phantasievoll, sphärisch.

Ihre Figuren gefallen durch einen ironisierenden Realismus. Ihre Physiognomie erscheint etwas überhöht, gefällt aber durch Skurrilität und einer liebevollen Kauzigkeit. Es sind Charakterköpfe, die ich im klassischen Sinne nicht als schön bezeichnen würde. Dafür lässt sie die Gesichter „sprechen“: Die Empfindungen sind den Figuren ins Gesicht geschrieben, und Lisa Aisato zeigt kunstvoll, wie sich die Mimik durch die unterschiedlichen Gefühlsregungen verändert. Besonders eindrucksvoll empfand ich die Veränderung von Scrooges Gesicht zu Beginn der Geschichte im Vergleich zum Ende: Ein Lächeln bewirkt wahre Wunder!

Doch auch das Setting, in dem unsere Held*innen agieren, gestaltete sie atmosphärisch dicht mit einem Touch in Richtung Aquarell, der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit fließend erscheinen ließ. Dabei wählt sie interessante Perspektiven und einen abwechslungsreichen Bildaufbau.

Welcher illustrierten Fassung würde ich nun den Vorrang geben? Ich kann es nicht sagen! Eine Entscheidung fiele mir schwer. Jede Künstlerin und jeder Künstler hat eine sehr persönliche Handschrift und eröffnet mir so immer wieder neue und überraschende Blickwinkel auf eine Geschichte, die ich so sehr liebe.

Umso schöner ist es, dass ich mich nicht entscheiden muss!


erschienen bei Woow Books / ISBN: 978-3039670024 / in der Übersetzung von Gabriele Haefs

[Rezension] Hans Fallada – DER GESTOHLENE WEIHNACHTSBAUM/ mit Illustrationen von Ulrike Möltgen

Ich liebe die Bücher aus der Insel-Bücherei! Jedes für sich ist ein kleiner literarischer Schatz, hochwertig in der Ausstattung, verführerisch im Inhalt. Diesmal konnte ich der unnummerierten Sonderausgabe mit Erzählungen von Hans Fallada nicht widerstehen, die in diesem Jahr in einem größeren Format erschienen ist.

Zumal es mir eine wunderbare Möglichkeit bot, mich diesem Autor dezent anzunähern. Hans Fallada zählt zu den Literaten, an dessen Werk ich mich bisher noch nicht herangetraut hatte, dies aber gerne ändern möchte. Schließlich gilt Hans Fallada als einer der bedeutendsten sozialkritischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts Deutschlands. Wenn ich mir sein Leben – zwischen Sucht und Suizid, zwischen Systemkritik, Opportunismus und Repression, zwischen Genie und Wahnsinn – anschaue, dann ist es umso erstaunlicher, welche Fülle an Werke er geschaffen hatte. Doch vielleicht konnte er nur so seine kreative Kraft vollständig entfalten.

Ebenso erstaunlich ist es, dass (zumindest) die in diesem Büchlein vereinten vier weihnachtlichen Geschichten trotzdem eine wunderbare Leichtigkeit ausstrahlen und durch ihre kesse Ironie und einem spitzbübischen Humor überzeugen. Die durchaus vorhandene Kritik an Obrigkeit und Gesellschaft drängt sich nie dominant in den Vordergrund. Vielmehr stecken diese Geschichten voller Witz, Wärme und einer Menge Menschlichkeit.

Was tun, wenn Weihnachten kurz vor der Tür steht und immer noch kein Baum im Haus ist? Oder der Wunschzettel lang ist, aber man „immer so mit dem Pfennig rechnen muss“? Und ob die Tiere draußen auch das Fest feiern können? Der Bestsellerautor Hans Fallada erinnert in seinen Erzählungen an die schönste Zeit des Jahres: „Dies Gefühl aufzuwachen und zu wissen: Heute ist wirklich Weihnachten. Wovon wir seit einem Vierteljahr geredet, auf was wir so lange schon gehofft hatten, nun war es wirklich…“

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Jede Familie entwickelt im Laufe der Zeit eigene, ganz persönliche FAMILIENBRÄUCHE zur Weihnachtszeit: Es beginnt mit der Essensauswahl, nimmt Einfluss auf den Ablauf des Heiligen Abends und endet mit dem Besorgen des Weihnachtsbaumes, und dabei sind die Rollen klar verteilt. So auch hier: Da macht der Vater ein großes Gewese um den Kauf des Weihnachtsbaumes. Das Objekt der Begierde darf nicht zu groß, nicht zu schlank, nicht unregelmäßig gewachsen und (vor allem) nicht zu teuer sein. Jedes Jahr treibt er seine Familie in den Wahnsinn und schürt so die Ängste der Kinder, dass der perfekte Baum nicht rechtzeitig gefunden wird. Doch ebenfalls wie in jedem Jahr lösen sich alle Ängste in Wohlgefallen auf, wenn am Heiligen Abend ein üppig geschmückter Baum mit den Kinderaugen um die Wette strahlt.

In LÜTTENWEIHNACHTEN machen sich die Kinder Friedrich, Alwert und Frieda auf den Weg, um für die Tiere des Hofes einen kleinen, eigenen Weihnachtsbaum zu besorgen. Dabei dürfen sie sich nicht vom Rotvoß, wie sie den rotbärtigen Förster insgeheim nennen, erwischen lassen. Rotvoß ist ein strenger Mann, der hart durchgreift, wenn in seinem Revier Bäume „gewildert“ werden. So machen sich die Kinder an einem besonders nebligen Tag auf den Weg, in der Hoffnung, unerkannt ein Bäumchen für die Tiere stibitzen zu können. Doch gerade als sie eine passende Fichte gefunden und gefällt hatten, laufen sie dem Förster in die Arme. Doch der ist weit davon entfernt, sie auszuschimpfen: Hat er doch selbst genau in jenem Moment ein Lüttenweihnachten für die Wildgänse ausgerichtet. Und so schließen der Mann und die drei Kinder stillschweigend einen Pakt…!

Jung, frisch verheiratet und verliebt: Da fehlen nur noch FÜNFZIG MARK UND EIN FRÖHLICHES WEIHNACHTSFEST zum vollkommenden Glück. Doch bis diese Wünsche sich erfüllen, muss sich unser junges Paar ordentlich strecken. Die Zeiten sind schlecht, das Geld sitzt bei niemanden mehr so locker, und alles ist teurer geworden. Da werden die Taler von einem Posten der Haushaltskasse zum nächsten Posten der Haushaltskasse verschoben. Und ein Loch wird aufgerissen, um ein anderes zu stopfen, stets mit der Hoffnung, dass es sich irgendwie irgendwann schon richten wird. Da sorgt die Weihnachtsgratifikation, die am 24. Dezember dann doch noch überraschend ins Haus flattert, dass sich die kleine Mansardenwohnung zu einem Stückchen vom Paradies verwandelt.

Doch mein persönlicher Favorit ist DER GESTOHLENE WEIHNACHTSBAUM: Seitdem der Förster Kniebusch den Herrn Rogge beim „Besorgen“ eines Weihnachtsbaumes im Forst erwischt hat, und der eine saftige Strafe zahlen musste, sind die Beiden nicht mehr gut aufeinander zu sprechen. Nur allzu gerne würde Kniebusch den Rogge wieder auf frischer Tat ertappen. Und woher sonst soll Familie Rogge – bei klammer Haushaltskasse – einen Baum zum Weihnachtfest herbekommen. Herr Rogge macht sich schon seit Wochen so seine Gedanken. Ebensolche Gedanken machen sich auch seine drei Kinder, die allerdings zur Tat schreiten und im Wald nach einem passenden Bäumchen Ausschau halten. Zufällig stoßen sie dabei auf den Hallodri Kakeldütt, der just in diesem Moment eine Tanne gefällt hat. Zufällig taucht Herr Rogge auf und Kakedütt ab. Zufällig stößt Kniebusch dazu und erwischt seinen Erzfeind scheinbar „in Flagranti“. Doch bei all diesen Zufälligkeiten nimmt die Geschichte plötzlich eine ganz und gar überraschende Wendung…!


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Von einem Büchlein aus der Insel-Bücherei erwarte ich, dass die optische Umsetzung eine nicht unwesentliche Rolle spielt: Wie schon bei Erich Kästners DAS MÄRCHEN VOM GLÜCK und DAS MÄRCHEN VON DER VERNUNFT schuf Ulrike Möltgen auch hier wieder ganz wunderbare Kollagen zwischen Realismus und Romantik, lässt die Szenerie sich wie bei der Aufführung eines Weihnachtsmärchens entblättern und umrahmt dieses Buch mit einem stimmungsvollen Einband.

Es war mir eine Freude, diesen außergewöhnlichen Literaten etwas näher kennenzulernen. Falladas KLEINER MANN – WAS NUN? liegt schon viel zu lange auf meinem SuB. Was meint ihr? Soll ich es endlich wagen?


erschienen bei Insel-Bücherei / ISBN: 978-3458644651
textidentisch mit Insel-Bücherei 2532 / ISBN: 978-3458205326

[Rezension] Oscar Wilde – DAS GESPENST VON CANTERVILLE (Hörspiel)

Es sollte Oscar Wildes erste veröffentlichte Geschichte werden: Auch 137 Jahre später wird DAS GESPENST VON CANTERVILLE nach wie vor geliebt und gelesen. Zudem animierte sie die Kreativität vieler Künstler*innen, die aus diesem bezaubernden Grusel-Spaß eigene Adaptionen schufen. Natürlich dürfen in diesem illustren Reigen der Versionen die wunderbaren Hörspiele nicht fehlen: Hier entstehen nur dank der Aneinanderreihung vieler Töne die bunten Bilder im imaginären Kopfkino der Zuhörer*innen.

Der amerikanische Gesandte Hiram B. Otis reibt sich begeistert die Hände: Er hat soeben vom amtierenden Lord Canterville das Familienanwesen nebst Hausgeist käuflich erworben. Doch die Warnung des Lords vor eben diesem Gespenst, das seit Hunderten von Jahren im Schloss sein Unwesen treibt und schon so manchen Bewohner in den Wahnsinn getrieben hat, schlägt er leichtfertig in den Wind. Schließlich kommt er aus der neuen Welt und ist sowohl ein modern denkender Mensch als auch waschechter Republikaner. Für übernatürliche Phänomene fehlt ihm schlicht das Verständnis. So zieht Mr. Otis zusammen mit seiner Gattin Lucretia, dem ältesten Sohn Washington, seiner Tochter Virginia und den Zwillingen „The Star and Stripes“ in ihr neues Heim. Der Geist gibt sein Bestes, die neuen Hausbesitzer gebührend zu empfangen, und lässt seine Ketten gar schauerlich nächtens rasseln. Ein Umstand der Mr. Otis veranlasst, ihm eine Flasche Schmieröl auszuhändigen mit der freundlichen aber bestimmten Aufforderung, er möge seine Ketten ölen. Das Gespenst von Canterville ist erschüttert über diese bodenlose Respektlosigkeit und droht mit drastischeren Maßnahmen. Dummerweise hat er nicht mit dem vehementen Widerstand der Familie gerechnet. Nur Virginia hält sich diskret aus dem sich immer weiter zuspitzenden Scharmützel heraus…!


1 CD/ DAS GESPENST VON CANTERVILLE von Oscar Wilde (1993)/ Hörspielbearbeitung & Regie: Lilian Westphal & Gabriele Sachtleben/ Musik: Benedikt Hoenes/ Ton & Technik: Hans Scheck & Susanne Herzig/ mit Peter Fricke, Marion van de Kamp, Robinson Reichel, Dorothee Hartinger, Jakob Haas, Julian Sonner, Horst Sachtleben, Philipp Moog, Irmgard Först, Henning Schlüter, Rufus Beck u.a.


Schritte hallen, Schreie ertönen, Ketten klirren: Doch ein Gefühl des Gruselns – so richtig mit Gänsehaut, angespannten Nerven und sonstigem Zipp und Zapp – wollte sich bei mir nicht einstellen. Und das war auch gut so, denn dafür ist Wildes Geschichte einfach viel zu lustig. So saß ich auch eher lachend vor dem CD-Player und erfreute mich an der gelungenen Hörspiel-Adaption, die trotz obligatorischer Kürzungen den Spirit (in diesem Zusammenhang mochte ich nicht von „Geist“ sprechen) von Oscar Wildes Originalgeschichte ganz wunderbar einfängt.

Zu verdanken ist dies natürlich sowohl der behutsamen Bearbeitung durch Lilian Westphal und Gabriele Sachtleben, die auch für die Regie verantwortlich zeichneten, wie auch der Kunst der Tontechnik durch Hans Scheck und Susanne Herzig. Leider ist Benedikt Hoenes mit seiner Musik nicht kontinuierlich auf diesem hohen Niveau: Da schuf er atmosphärisch stimmige Kompositionen, die sowohl die Szenerie unterstützt wie auch für die Zeit, in der die Geschichte spielt, sehr passend sind. Dann mixte er immer wieder Jingles dazwischen, die an einer TV-Kindersendung erinnern und den Spannungsbogen eher unterbrechen als aufrecht erhalten.

Größtes Pfund dieser Hörspiel-Produktion ist allerdings das talentierte Ensemble, das von dem bekannten TV-Mimen Peter Fricke angeführt wird, der als Mr. Otis einerseits äußerst pragmatisch, andererseits ganz wunderbar nonchalant daherkommt. Seite an Seite steht ihm Marion van de Kamp als resolute Mrs. Otis in nichts nach. Umschwirrt werden sie von talentierten Jung-Sprecher*innen: Robinson Reichel verleiht dem ältesten Sohn Washington eine altkluge Reife, Jakob Haas und Julian Sonner als die Zwillinge begeistern durch eine quirlige Natürlichkeit, und Dorothee Hartinger als Virginia bezaubert durch ihren mädchenhaften Charme.

Horst Sachtleben kann als amtierender Lord Canterville mit aristokratischen Attitüden aufwarten, während sein bemitleidenswerter Vorfahr, eben jenes Titelgebende Gespenst, durch Henning Schlüter mit markanter Stimme überzeugend zwischen „beängstigend“ und „bemitleidend“ hin und her schwankt.

Über 30 Jahre hat diese Ausgrabung aus dem Hörspiel-Archiv des Bayerischen Rundfunks nun schon auf dem Buckel und klingt nach wie vor so herrlich frisch, dass sicherlich auch die nächsten 30 Jahre ihm nichts anhaben werden. Gutes ist und bleibt eben zeitlos!


erschienen bei DAV / ISBN: 978-3742426376

[Rezension] Siegfried Lenz – SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN

Allein der Titel klingt wie ein Versprechen…!

Suleyken: dieses kleine ostpreußische Dorf im Masurenland, das mit seinen knapp über 300 Einwohnern und ohne Anschluss an eine Bahnverbindung kaum einer Erwähnung wert wäre. Hätte es da nicht diesen Literaten gegeben, der den dort lebenden Menschen mit seinen Geschichten ein literarisches Denkmal setzte.

Siegfried Lenz lässt als Ich-Erzähler die Leserschaft sehr nah an sich und seine Figuren heran. Da werden wir direkt von ihm angesprochen und aufgefordert, uns einen eigenen Eindruck von den manchmal merkwürdig anmutenden Geschehnissen in Suleyken zu machen. So lernen wir Hamilkar Schaß, den Großvater des Erzählers, kennen, der als hochgebildet gilt, da er eine ausgeprägte Liebe zur Literatur pflegt. Diese Liebe ist so mächtig, dass weder ein dramatischer feindlicher Überfall noch die Einberufung zu den Kulkaker Füsiliere seine Lese-Sucht stoppen kann. Dank dieser Sucht bleibt unser wackerer Hamilkar Schaß selbst bei den zähen Verhandlungen um die Poggenwiese völlig entspannt und lässt sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen. Der Erfolg gibt ihm Recht.

Doch auch die anderen Leut’ in diesem kleinen Dorf bezaubern durch eine listige Bauernschläue und einem recht ursprünglichen Gefühl für Ehre. Bei ihrer sehr eigensinnigen Auslegung von Recht und Ordnung, die durchaus auch sehr handgreiflich ausgetragen werden kann, sind sie niemals bösartig, hinterhältig oder gemein. So würde Alec Puch nie von Diebstahl sprechen, wenn er für sich und seine Söhne Köstlichkeiten für das Osterfest „organisiert“ (s.a. DER OSTERTISCH). Ich glaube, dass das Adjektiv „plietsch“ es am ehesten beschreibt.

Der Obrigkeit stehen die Bewohner*innen von Suleyken durchaus mit Respekt, doch nicht übermäßig ehrerbietig gegenüber. Verordnungen sind dafür da, – Naja! – um für Ordnung zu sorgen. Doch oftmals entspricht diese Ordnung nicht den Vorstellungen der Dorfbewohner*innen. Da beherbergt Jadwiga Plock, die – obwohl seit Jahren Witwe – es sich nicht nehmen lässt, regemäßig strammen Kindern das Leben zu schenken, eine mehr-köpfige Gesundheits-Kommission äußerst geduldig und gastfreundlich in ihrem Heim. Diese Kommission ist extra zusammengekommen, um die Plocksche Kinderschar zu impfen. Dumm nur, dass diese sich direkt nach Ankunft im nahen Wald versteckt hat und erst wieder auftaucht, als die Kommission nach Wochen des Ausharrens unverrichteter Dinge wieder abzieht.

Vielmehr tragen die Suleykener*innen ein gütiges Herz in ihrer Brust, das oftmals auch auf der Zunge zu finden ist. Doch manches Mal schlägt dieses Herz so voller Macht bis zum Hals, dass das Sprechen kaum möglich scheint. Wie sonst wäre der ungewöhnliche Heiratsantrag zu erklären, den der große, schweigsame Holzfäller Joseph Waldemar Gritzan seiner angebeteten Maid Katharina Knack macht (s.a. EINE LIEBESGESCHICHTE). So lässt der Autor vor unserem inneren Auge prägnante Porträts von einfachen Menschen entstehen, die stets sehr viel Wärme ausstrahlen und nie die Wertschätzung vermissen lassen.

Doch schon im Jahre 1955, als Siegfried Lenz diese zwanzig gar kunstvollen „Masurischen Geschichten“ zu Papier brachte, gab es das von ihm beschriebene Masurenland nicht mehr. Selbst direkt um die Ecke in der Stadt Lyck geboren, wurde Suleyken für ihn zum Sehnsuchtsort seiner Kindheit, zur Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Seine Figuren sind urwüchsig, skurril und gütig. Sie stolpern von der einen in die nächste unglaubliche Geschichte, die Lenz liebevoll mit schelmischen Witz, feiner Sensitivität und einem unverwechselbaren Charme erzählt.

Ach, Syleyken, du bist mir so sehr ans Herz gewachsen!


erschienen bei Hoffmann und Campe / ISBN: 978-3455405309
ebenfalls erschienen bei Fischer/ ISBN: 978-3596203123 und 978-3596520879

[Rezension] Heinrich Spoerl – DIE FEUERZANGENBOWLE

„Ein Loblied auf die Schule – aber es ist möglich, dass die Schule es nicht merkt.“
Heinrich Spoerl

Es gibt Filme, die scheinen nie zu altern. Natürlich sieht man ihnen die Jahre an: Regie, Kameraführung sowie Erzählstil und -tempo waren damals anders. Auch die Art des Schauspiels unterschied sich durchaus gegenüber moderneren Filmen. Und trotzdem bleibt diese unbeschwerte Frisch erhalten, konserviert auf Zelluloid und – im besten Fall – für die nachfolgenden Generationen sanft remastert und digitalisiert. Als vor 80 Jahren Heinz Rühmann erstmals die Primaner-Mütze zum Gruße lupfte und keck in die Kamera lächelte, hätte wahrscheinlich niemand damit gerechnet, dass dieser Film irgendwann zu den Klassikern des deutschen Kinos zählen würde.

Dabei standen die Sterne für diesen Film anfangs wenig günstig: Der Reichserziehungsminister versuchte die Freigabe des Films zu verhindern, da er in ihm die Autorität der Schule und der Lehrer gefährdet sah. Zumal es aufgrund des 2. Weltkrieges einen massiven Lehrermangel gab. Zudem verzögerte Heinz Rühmann absichtlich immer wieder die Dreharbeiten zum Film, um so die Einberufung der jungen Darsteller zum Kriegsdienst möglichst lange hinauszuschieben.

Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Film trotz aller widrigen Umstände eine launige Leichtigkeit ausstrahlt. Auch die Hörspielfassung aus dem Jahre 1970 mit Hans Clarin als „Pfeiffer mit drei Eff“ konnte sich diese freche Unbeschwertheit bewahren. Als ich im letzten Jahr meine Rezension zum Hörspiel verfasst, keimte in mir der Wunsch, endlich auch die literarische Vorlage kennenzulernen.

Bei einer launigen Stammtischrunde, die durch Genuss besagter Feuerzangenbowle noch angeheizt wurde, schwelgen die anwesenden Herren in Erinnerungen an ihre Schulzeit. Ja, das waren noch Zeiten, als sie jung und mit Flausen im Kopf Streiche gegen die Pauker ausheckten und sich zum ersten Mal in die Schülerinnen des benachbarten Mädchen-Gymnasiums verliebten. Einzig Dr. Johannes Pfeiffer kann keine Anekdoten beitragen, da er privat unterrichtet wurde. Seine Freunde sind entsetzt: Die beste Zeit im Leben eines jungen Mannes blieb ihm verwehrt. Dieser Umstand muss schleunigst geändert werden. Kurzerhand werden entsprechende Unterlagen fingiert, Pfeiffer passend ausgestattet und auf das Gymnasium einer Kleinstadt verfrachtet. Seine Verlobte Marion ist ganz und gar nicht entzückt. Dafür ist Pfeiffer umso entzückter von der reizenden Eva, der Tochter des Direktors seiner Penne…!

Er hatte ja so recht, der Herr Spoerl: Es ist wirklich ein Loblied auf die Schule. Da skizziert er liebevoll seine Figuren, pointiert die Handlungen der Schüler und ironisiert mit Herz die Eigenarten der Lehrer. Der Autor ergreift keine Partei: Alle sind bei ihm gleichwertig. Es wird nicht über- oder sogar gegeneinander gelacht, man lacht gemeinsam!

Damit ist DIE FEUERZANGENBOWLE der literarische Gegenentwurf zu Heinrich Manns PROFESSOR UNRAT aus dem Jahre 1905. Dort wird die Schule zu einem Kriegsschauplatz für willkürliche Bestrafungen, wo Schüler und Lehrer wie verfeindete Parteien aufeinanderprallen. Hier wirken die Schelmenstücke von Hans Pfeiffer und seinen Kameraden wie harmlose Lausbubenstreiche, die nie über die imaginäre Grenze des Anstandes hinausgehen und so vom Respekt, den die Schüler gegenüber ihren Lehrern (aber ebenso auch umgekehrt) empfinden, zeugt.

Spoerls Sprache ist schnörkellos, unprätentiös, beinah unpathetisch. Klar, schlank und ohne viel Firlefanz gönnt er der Geschichte den nötigen Raum, um zu atmen, um sich zu entfalten. Übermäßige Beschreibungen sucht man hier vergebens: Was sollte er auch detailreich beschreiben, das der damaligen Leserschaft nicht schon mehr als zur Genüge aus eigenem Erleben bekannt war. Lieber skizzierte er mit sicherem Strich die prägnanten Charaktere seiner Figuren. Dabei beherrschte er die Kunst, die schmale Grenze zur Karikatur nicht zu überschreiten. Nur so stellte er sicher, dass seine Figuren so wunderbar menschlich blieben.

Ja, Herr Spoerl, es ist wahrhaftig ein Loblied auf die Schule:
…charmant, herzerwärmend und sooo lustig!


erschienen bei Droste / ISBN: 978-3770021383

[Rezension] Thomas Mann – Weihnachten bei den Buddenbrooks

Es gibt sie. Zumindest: Bei mir gibt es sie, diese besonderen Bücher. Diese besonderen literarischen Werke, vor denen ich so viel Respekt habe, dass ich mich bisher nicht traute, sie zu lesen. Und „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ von Thomas Mann gehört für mich dazu. Warum ich davor so viel Respekt habe? Ich weiß nicht. Ich kann es gar nicht so genau benennen. Es ist ein Gefühl!

Irgendwie umgibt diesem Roman ein elitärer Hauch von Hochkultur, von hoher Hochkultur, von erhabener Hochkultur – schließlich wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur geadelt. Was wäre, wenn er mir nicht gefällt? Ausgerechnet „Buddenbrooks“, dieses Bastion der deutschen Literatur, könnte mir nicht gefallen. Ich wäre schockiert!

Schließlich ist „Buddenbrooks“ unser Bollwerk gegen all den Schund, den der heimische Buchmarkt in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Da gab es Sarrazin, Pirinçci und der „neue deutsche Frauenromane“ – aber: Wir haben ja zum Glück auch „Buddenbrooks“, und der wiegt die enorme Papierverschwendung für alle absolut entbehrlichen „Sarrainçcis“ (!) wieder auf.

So kann und darf diese Rezension von „Weihnachten bei den Buddenbrooks“ als meine sukzessive Annäherung an das Gesamtwerk gesehen und verstanden werden. Und genauso wie dieser Auszug aus dem Zusammenhang der komplexen Geschichte herausfällt, so werde ich als Leser aus meiner Welt heraus in das Lübeck des 19. Jahrhunderts katapultiert. Es war mir, als hätte sich ein Fenster geöffnet, dass es mir erlaube, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dabei waren mir weder die agierenden Personen bekannt, noch hatte ich eine Ahnung bzgl. der Zusammenhänge. Es schien, als öffnete sich ein Vorhang nur für einen gewissen Zeitraum, und mir würde ein kurzer Einblick in ein anderes Leben, in eine andere Epoche gewährt werden.

Da regiert die alte Frau Konsulin mit strenger Hand und gerechtem Sinn über Familie, Haushalt und Personal und zelebriert Weihnachten traditionell als opulentes Fest. Sie hat – wie in jedem Jahr – die Honoratioren der Stadt wie die nahen und ferneren Familienangehörigen geladen, und weder das Personal noch die Hausarmen wurden von ihr vergessen. Der Festsaal ist prunkvoll geschmückt, erstrahlt im Glanz des großen Christbaums und ist bereit für die Bescherung. In der Säulenhalle haben sich schon die Marien-Chorknaben versammelt, um andächtig „Tochter Zion, freue dich!“ zu intonieren. Hanno, der Enkel der Frau Konsulin ist schon ganz aufgeregt und kann es kaum bis zur Bescherung abwarten. Seit er die Oper „Fidelio“ im hiesigen Opernhaus sehen durfte, träumt er von einem eigenen, kleinen Puppentheater, und sein Wunsch soll sich erfüllen. Während des üppigen Mahls wird geplaudert, politisiert und Kontakte geknüpft. Alle bemühen sich zum Feste und vor den strengen Augen der Frau Konsulin, sich von der allerbesten Seite zu zeigen. Nur ihr Sohn Christian schlägt mal wieder über die Strenge und löst bei der Frau Konsulin ein empörtes Zucken der Augenbrauen aus. Doch Hanno ist dies gleichgültig: Er darf endlich an der Großen Tafel mit den Erwachsenen speisen. Später im Bett gleitet er hinüber in den Schlaf und träumt von seiner ersten Aufführung im eigenen Theater.

Beinah war mir so, als würde mich der Erzähler an die Hand nehmen und durch die Wirrungen dieses literarischen Weihnachtstages führen. Da machte es mir auch nichts aus, dass mir Personen nicht bekannt waren und mir bei einigen Bemerkungen und Gesprächen die Zusammenhänge fehlten. Vielmehr kam ich mir vor wie ein Geist, der unerkannt mal hierhin und mal dorthin huschte, hier ein Gespräch belauschte, dort neugierig bei den Vorbereitungen zuschaute. In dieser hochherrschaftlichen Welt der Lübecker Kaufleute voller Rituale und Etikette wird selbstverständlich auch das Weihnachtsfest mit Akribie vorbereitet. Es gilt den guten Ruf zu erhalten und den Einfluss in der Gesellschaft zu festigen. Einige Familienmitglieder suchen sich ihre Nischen, um diesem starren Korsett aus Erwartungen und Konventionen – wenigstens für eine kurze Zeit – zu entfliehen.

Doch gerade die Traditionen rund ums Weihnachtsfest, die mit Freude zelebriert werden, wirkten auf mich anheimelnd und stilvoll. Da gab es keine grellbunt-blinkende Lichterkette am Baum, da wurde der Punsch nicht aus Pappbechern geschlürft, und da wurden die Geschenke nicht am Amazonas bestellt. „Stil“ scheint in unserer heutigen Welt mehr und mehr auszusterben. Mit „der- oder diejenige hat Stil“ ist nicht nur das Tragen flotter Klamotten gemeint. Das Wort „Stil“ vereint in sich so viel mehr, u.a. Tugenden wie Respekt, Rücksichtnahme und Toleranz, die im zwischenmenschlichen Miteinander so wichtig und so wertvoll sind.

Wer von Euch nun – wie die Familie Buddenbrook – stilvoll speisen möchte, bekommt mit diesem bezaubernden Büchlein die Gelegenheit dazu an die Hand: Im Anhang gibt es alle Rezepte des Weihnachtsmenüs.

Mein Fazit: Ich würde mich sehr freuen, könnte ich der Familie Buddenbrook abermals einen Besuch abstatten! 🙃


erschienen bei Fischer / ISBN: 978-3596523245

[Rezension] Charles Dickens – Eine Weihnachtsgeschichte/ mit Illustrationen von Patrick James Lynch

Da war er wieder, der alte Miesepeter Ebenezer Scrooge, der nun schon auf dem Tag genau seit 180 Jahren immer wieder aus der Versenkung auftaucht. Auch bei mir war er schon häufiger zu Gast…!

Am 19. Dezember 1843 erschien erstmals diese Geschichte unter dem Original-Titel „A Christmas Carol“ mit dem Zusatz „in prose“ und „being a Ghost-Story of Christmas“ mit den Illustrationen von John Leech und sollte seinen Siegeszug rund um den Globus antreten.

Doch wer kennt sie nicht, die Geschichte vom griesgrämigen Geizkragen Ebenezer Scrooge, der am Weihnachtsabend Besuch vom Geist seines verstorbenen Geschäftspartners Jacob Marley erhält, um ihn zu warnen: Die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht würden ihn heimsuchen, um ihm verschüttete Erinnerungen in den Sinn zu rufen und vergessene Empfindungen ins Herz zu pflanzen und ihm einen Blick in die Zukunft zu gewähren, um zu offenbaren, welche Auswirkungen sein bisheriges Verhalten haben könnte. So wartet Scrooge mit bangem Herzen auf die Ankunft der Geister, die ihn nacheinander – wie vorhergesagt – auf absonderlich-abenteuerliche Reisen durch Raum und Zeit mitnehmen, von denen er als geläuterter Mann zurückkehrt.

Erstausgabe von A CHRISTMAS CAROL von Charles Dickens mit Illustrationen von John Leech

Erstausgabe von A CHRISTMAS CAROL von Charles Dickens
mit Illustrationen von John Leech

Schon bei meiner ersten literarischen Begegnung mit Scrooge vor zwei Jahren, da unter dem Titel Ein Weihnachtsmärchen beim NordSüd-Verlag erschienen, öffnete sich mein Herz für diese anrührende Geschichte, und dies sollte sich nun beim erneuten Lesen wiederholen.

Wie in vielen seiner Werke prangert der große Menschenfreund auch in „Eine Weihnachtsgeschichte“ mit seinen sozialkritischen Tönen die damaligen Missstände im England des 19. Jahrhunderts an. Seine Held*innen stehen stellvertretend für ganze Bevölkerungsschichten, die so eine Stimme erhalten. Sie merken auf und rücken damit ihre Probleme in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Abermals traf mich Dickens Appell für mehr Menschlichkeit und ein friedvolles Miteinander mitten ins Herz. Satz für Satz las ich, und sie berührten meine Seele unverzüglich. Wieder verströmte diese wunderbare Geschichte ein Übermaß an Wärme und Charme, und wieder rührte sie mich während der Lektüre so sehr, dass ich Tränen nicht verhindern konnte – nicht verhindern wollte.


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Auch in diesem Fall wird die Geschichte gepaart mit ausdrucksstarken Illustrationen: Niemand geringerer wie der irische Künstlers Patrick James Lynch, der mich im letzten Jahr schon mit seinen Bildern zu O. Henrys Das Geschenk der Weisen begeistern konnte, schuf auch hierfür wundervolle Illustrationen.

Lynchs Kunstwerke sind von einer enormen atmosphärischen Dichte. Er versteht es einerseits den märchenhaften Aspekt kongenial zu treffen, andererseits erspart er den Betrachtenden auch nicht einen gemilderten Realismus in seiner Darstellung. Sehr detailreich lässt er das London der Vergangenheit ebenso wiederaufleben, wie er Scrooges Reisen mit den Geistern der Weihnacht einen beinah sphärischen Touch verleiht. Dabei hat er bei seiner Darstellung der Personen wieder sehr genau dem Inhalt der Geschichte gelauscht: Da stimmt jeder Blick, eine Geste, die Körperhaltung, einfach alles. Großartig!

Doch bedauerlicherweise wurde mein Enthusiasmus ein wenig gedämpft: Der Grund dafür lag nicht beim Künstler sondern vielmehr beim Verlag. Wenn ich die Bilder im Buch mit denen auf der Homepage des Künstlers vergleiche, lässt sich unschwer erkennen, dass leider viele der feinen Nuancen in den Bildern von P.J. Lynch aufgrund der schlechten Druckqualität verloren gegangen sind. Dieser Umstand ist nicht nur bedauerlich, sondern schlichtweg ärgerlich und dürfte einem so renommierten Verlag wie Cecilie Dressler nicht passieren. Da bleibt nur zu hoffen, dass sich der Verlag diesem Klassiker irgendwann bei einer Wiederauflage etwas wohlwollender annähert.

Momentan befindet sich eine aktuelle, natürlich ebenfalls illustrierte Fassung von Dickens „Eine Weihnachtsgeschichte“ auf einem Siegeszug durch die Literatur-Blogs. Das bisher Gesehene erschien mir recht vielversprechend: Ich glaube, ich werde es für LEKTÜRE ZUM FEST 2024 vormerken…! 😉


erschienen bei Dressler / ISBN: 978-3791528045 / in der Übersetzung von Curt Noch