Während ich mich mit Gesang zwischen den Stühlen beschäftigte, schaute ich auch auf das Gesamtwerk von Erich Kästner und machte gedanklich einen Haken hinter jedem von mir schon gelesenen Buch. Plötzlich stockte ich abrupt, als mein Blick auf den Titel des Kinderbuches „Das fliegende Klassenzimmer“ fiel. Erstaunt blinzelte ich mit den Augen und konnte es selbst kaum fassen: Ich hatte diese Geschichte doch tatsächlich noch nie gelesen. Natürlich kenne ich den Inhalt, denn schließlich zählt der Film von 1954 zu meinen Lieblingen. Doch gelesen…! Ich nahm mir fest vor, dies in naher Zukunft nachzuholen.
An dem Sonntag vor 10 Tagen war es dann soweit: Der Freitag zuvor war ein sehr ungewöhnlicher Tag – herausfordernd, emotional, beinah surreal – und entließ mich mit vielen unterschiedlichen Gedanken ins Wochenende. Trotz intensivem Austausch mit meinem Gatten, ließen mich diese Gedanken nicht los, und ich lief in den folgenden Tagen mit vielfältigen Gefühlen durch die Wohnung. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, meiner Seele eine kleine Streicheleinheit zu gönnen. So griff ich zu „Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner und war für Stunden nicht mehr ansprechbar. Bei der Lektüre überrollte mich eine warme Woge der Menschlichkeit, wie es nur Kästner vermag, und Tränen rannen über meine Wangen.
Unsere Geschichte spielt in einem oberbayrischen Internat kurz vor den Weihnachtsferien. In mehreren Episoden lernen wir unsere fünf jungen Helden kennen, die sehr unterschiedlich die Vorweihnachtszeit erleben. Johnny ist ganz mit der Inszenierung seines selbstgeschriebenen Stücks „Das fliegende Klassenzimmer“ beschäftigt, bei dem natürlich alles seine Freunde mitwirken. Der starke Matthias geht keiner Keilerei aus dem Weg und hat vor nichts Angst, außer er könnte zu wenig zu essen bekommen. Sein Kumpel Uli schämt sich dafür umso mehr darüber, dass er so furchtsam ist. Um nicht als Hasenfuß zu gelten, stellt er sich einer gefährlichen Mutprobe. Klassenprimus Martin leidet still, als er erfahren muss, dass er zu Weihnachten nicht nach Hause fahren kann: Aufgrund der Arbeitslosigkeit des Vaters ist kein Geld für die Fahrkarte übrig. Und der intelligente Sebastian versucht aufkommende Empfindungen hinter Rationalität zu verbergen, die aber immer wieder mit der Realität kollidiert. Sie alle haben – neben dem regulären Schullalltag – ihre kleinen Sorgen und großen Kümmernisse zu bewältigen. Die väterliche Figur nimmt in dieser Geschichte der von allen verehrte Hauslehrer Dr. Johann „Justus“ Bökh ein, der warmherzig die Belange „seiner“ Jungs sowohl mit Humor als auch mit dem nötigen Ernst begegnet. Ihm wird eine besondere Weihnachtsüberraschung zuteil, als die Jungs ihn zu dem s.g. „Nichtraucher“ führen, der in einem ausrangierten Eisenbahnwagon in der Nähe der Schule lebt. Besagter „Nichtraucher“ entpuppt sich als sein alter Freund Robert Uthofft, der nach einem harten Schicksalsschlag den Kontakt zu „Justus“ abgebrochen hatte. Doch eine Geschichte, die um und an Weihnachten spielt, wäre keine richtige Weihnachtsgeschichte, wenn am Ende nicht alles gut würde…!
Könnt Ihr Euch vorstellen, wie schwierig es ist, die Inhaltsangabe für eine Geschichte zusammenzuschustern, in der so viel passiert? Wo anfangen? Was ist relevant? Was kann ausgelassen werden? Kann überhaupt etwas ausgelassen werden? Greifen die vielen kleinen Episoden nicht nahtlos ineinander und verknüpfen sich erst so zu einem Ganzen? Ergibt nicht erst das Zusammenfügen der einzelnen Puzzle-Teile am Ende ein harmonisches Bild? Mein stümperhaftes Ergebnis (siehe oben) kann somit nur bruchstückhaft die Handlung wiedergeben.
Eingebettet ist die Geschichte in einer Rahmenhandlung, in der der Schriftsteller u.a. von der Schwierigkeit berichtet, im Sommer eine Winter-Geschichte zu schreiben. Gleichzeitig lässt er ebenso seine persönliche Haltung zur Kinderliteratur einfließen…
„Schließlich nahm ich ein Kinderbuch vor, das mir der Verfasser geschickt hatte, und las darin. Aber ich legte es bald wieder weg. So sehr ärgerte ich mich darüber! Ich will euch auch sagen, warum. Jener Herr will den Kindern, die sein Buch lesen, doch tatsächlich weismachen, dass sie ununterbrochen lustig sind und vor lauter Glück nicht wissen, was sie anfangen sollen! Der unaufrichtige Herr tut, als ob die Kindheit aus prima Kuchenteig gebacken sei. Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können? […] Es ist nämlich gleichgültig, ob man wegen einer zerbrochenen Puppe weint oder weil man, später einmal, einen Freund verliert. Es kommt im Leben nie darauf an, worüber man traurig ist, sondern nur darauf, wie sehr man trauert. Kindertränen sind, bei Gott, nicht kleiner und wiegen oft genug schwerer als die Tränen der Großen.“ (Original-Zitat aus dem Roman)
Mit diesen Sätzen beschreibt Erich Kästner sehr schön das, was seine Kinderbücher ausmacht: Er macht seinen jungen Leser*innen nichts vor. Zwar dramatisiert er nicht aber vermeidet auch die Verharmlosung. Seine jugendlichen Held*innen dürfen (!) unangenehme Situationen erfahren. Bei ihm dürfen sie leiden und trauern aber auch froh und glücklich sein. Er wertet bzw. entwertet die Gefühle seiner jungen Protagonisten nicht. Das Leben – insbesondere das Leben eines Kindes – ist nicht immer Himmelhochjauchzend mit Heiteitei und Ringelrein. Vielmehr deckt er die scheinheilige Doppelmoral von Autor*innen, Verleger*innen und erwachsenen Leser*innen auf, die sich über Schilderungen in Kinderbüchern, die ihnen zu radikal-realistisch erscheinen, echauffieren, dabei aber völlig ausblenden, dass die Wirklichkeit, auf die so manche Kinder leider prallen müssen, deutlich radikaler ist.
Und trotz aller gesellschaftskritischen und satirischen Aspekte in seinen Werken bleibt Kästner durch und durch der Menschenfreund, der nichts unversucht lässt, um die Tugenden im menschlichen Miteinander hochzuhalten: Freundschaft und Liebe, Toleranz und Loyalität, Mitgefühl und Fürsorge.
Und dies gelingt ihm – sowohl in seinen Kinderbüchern wie auch in den Werken für Erwachsene – auf ganz unnachahmlicher Weise: Ohne den erhobenen Zeigefinger der Moral, vielmehr ganz sanft, beinah in homöopathischen Dosen pflanzt er seine Botschaft in mich hinein und justiert meine sozialen Antennen neu.
Ich spüre, da ist jemand, der versteht. Ich atme befreit auf und weiß, es ist nun gut.
Wenn ich Kästner lese, wird meine Seele getröstet!