[Rezension] Tomasz Jedrowski – IM WASSER SIND WIR SCHWERELOS

Anfang Februar des Jahres 2021 erreichte mich eine Nachricht von der Buchhändlerin meines Vertrauens: „Tolles Buch, unbedingt lesen, lass dir ein Rezi-Exemplar schicken, wenn du keins mehr bekommst, leihe ich Dir meins.“ Die Rede war von IM WASSER SIND WIR SCHWERELOS von Tomasz Jedrowski. Ich bestellte ein Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt wurde, und begann voller Vorfreude und Neugier zu lesen…!

Ludwik ist verliebt. Es ist der Sommer nach dem Examen, ein Sommer, in dem alles anders wird. Denn Ludwik ist verliebt in Janusz, eine Unmöglichkeit in Polen im Jahr 1980. Zu zweit verbringen sie magische Tage an einem verborgenen See im Wald. Hier können sie sich einander offenbaren, hier erleben sie die große Liebe. Doch irgendwann ist der Sommer zu Ende, sie müssen zurück in die Stadt. Die Welt befindet sich im Umbruch, Ludwik träumt von der Flucht in den Westen, Janusz wählt eine Karriere innerhalb des Systems. Ludwik muss sich entscheiden: für ein Leben voller Heimlichkeiten – oder den Mut, er selbst zu sein.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Über die ersten Seiten schien ich damals nur so zu fliegen. Dann bahnte sich bereits vor Ostern ein kleines persönliches Drama an, das sich über die weiteren zwei Wochen nach Ostern ausdehnen sollte. Mein Lesefluss wurde abrupt unterbrochen und tat sich in den Wochen danach extrem schwer, wieder in einen entspannten Flow zu geraten. Ich begann wieder mit der Lektüre des Romans. Doch nach nur wenigen Seiten schlug ich den Buchdeckel wieder zu. Irgendwie war aufgrund der Anspannung der vorangegangenen Wochen meine Leselust in Mitleidenschaft gezogen, und dieser Roman war leider nicht dazu geeignet, mich aus dieser Lese-Lethargie zu befreien. So legte ich ihn vorerst – durchaus mit Bedauern – zur Seite und hoffte auf eine weitere gemeinsame Chance zu einem späteren Zeitpunkt.

Im Laufe der Jahre bei Durchsicht meines SuBs hielt ich diesen Roman immer wieder in den Händen. Oft haderte ich mit mir und fragte mich, ob es nicht besser wäre, wenn ich ihn ungelesen gehenlasse – vor allem nachdem auch mein zweiter Versuch der Annäherung ähnlich scheiterte wie der erste Versuch. Doch irgendetwas hielt mich davon ab: Die Zeit war (noch) nicht reif, ihm die Chance zu geben, dank einem der nahen öffentlichen Bücherschränke ein neues Zuhause zu finden. Und so blieb er vorerst bei mir,…

…bis die Zeit für uns beide reif zu sein schien: Schmerzvoll, melancholisch und bittersüß erzählt Tomasz Jedrowski eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse im Polen der 80er Jahre. Dabei ist es eigentlich unerheblich um welches Geschlecht es sich handelt. Hier gibt es zwei Menschen, die trotz ihrer großen Liebe zueinander nicht zueinander kommen können. Die Gründe können vielfältig sein und entziehen sich jeglicher Beurteilung Außenstehender. Was bleibt, ist eine große Tragik, ein großer Verlust und eine Lücke, die nicht gefüllt werden kann. Sie kann durchaus verdeckt werden, wird aber immer spürbar bleiben. Den inneren Barrieren unserer Helden stellt der Autor ein gesellschaftliches System gegenüber, das sie zusätzlich von außen hemmt, einengt und so zu ihren individuellen Handlungen „zwingt“.

Tomasz Jedrowski entlockt seinen Worten eine geballte emotionale Wucht – mal zart, mal heftig, immer echt. Ein Humor, der vielleicht lindert oder entschärfend wirkt, war für mich kaum wahrnehmbar. Er wurde von mir aber auch weder vermisst noch gewollt, da die Figuren so authentisch, so lebendig sind, und jedweder Humor die fragile Bitterkeit der Emotionen unangebracht verwässert hätte.

Gleichzeitig erinnerte mich diese Geschichte an meine eigene Suche nach Identität in den 80ern. Wie unsere Romanhelden fragte auch ich mich, wer ich bin, und (vor allem) was bin ich? Beim Lesen schien es mir, als würde ich Ludwiks Schmerz, der ein Sehnen nach etwas Unaussprechlichem erzeugen kann, körperlich spüren. Doch auch Janusz Ängste nach Ablehnung und Ausgrenzung konnte ich nur allzu gut nachempfinden. Tröpfchenweise sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass ich wohl deshalb intuitiv mit diesem Roman gefremdelt hatte, da er so nah an meine eigenen Geschichte, an meinen eigenen Empfindungen, an meinem eigenen Erlebten ist.

Tränen rannen mir beim Lesen über die Wangen. Die Brust wurde mir eng, um sich dann wieder mit Luft zu füllen und zu weiten. Die Wohltat eines frischen Atemzugs signalisierte mir: Es geht weiter! Es geht immer weiter! Irgendwie!


erschienen bei Hoffmann und Campe/ ISBN: 978-3455011173/ in der Übersetzung von Brigitte Jakobeit
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Winifred Watson – MISS PETTIGREWS GROSSER TAG

Sie war eine talentierte Schriftstellerin und sollte doch nur sechs Romane veröffentlichen, aus deren Mitte MISS PETTIGREWS GROSSER TAG wie ein funkelnder Diamant hervorsticht. Ihren ersten Roman schrieb sie aus einer inneren Not heraus, da sie fand, dass das, was ihr als Literatur zur Verfügung stand, nicht gut sei. Das könne sie besser, befand sie, und legte los. Glücklicherweise übte sie zu dem Zeitpunkt eine Tätigkeit aus, die sie eher unterforderte und viel Zeit bot. Sie selbst beschrieb es einmal so…

The person I worked for never gave me any work until the afternoon.
He told me to bring some knitting in. So I wrote the whole book in the office.“

Nach zwei eher ernsten Romanen, die beide im ländlichen Milieu spielten, war Winifred Watson nach Leichtigkeit. Doch von ihrer Idee zu MISS PETTIGREWS GROSSER TAG, wo die Leserschaft einer ältlichen Jungfer einen Tag lang auf ihrem Weg durch die Stadt folgen sollte, war der Verlag wenig überzeugt und noch weniger begeistert. Viel zu gut verkauften sich ihre bisherigen Bücher, und so forderte der Verlag von ihr weitere dramatische Geschichten vom Lande. Doch Watson brannte für ihre Idee, glaubte an deren Erfolg und handelte mit dem Verlag einen Deal aus: Dieser sollte MISS PETTIGREWS GROSSER TAG veröffentlichen, und sie würde ihn mit weiteren der so beliebten Dramen versorgen.

Wie Watson vorausgesagt hatte, wurde MISS PETTIGREWS GROSSER TAG direkt nach Erscheinen im Jahre 1938 ein großer Erfolg – zuerst im englischsprachigen Raum, dann in der jeweiligen Übersetzung auch in anderen Ländern.

London in den 1930er Jahren. Das Leben hat es nicht gut gemeint mit Miss Pettigrew: Als Gouvernante im mittleren Alter, ohne Mann und fast mittellos, hofft sie, dass ihre neue Anstellung ihr zumindest ein bescheidenes Auskommen bescheren wird. Aber statt von ihrer Agentur zu einer Familie mit einer Schar ungezogener Kinder geschickt zu werden, landet sie durch ein Missverständnis bei der Schauspielerin und Nachtclubsängerin Delysia LaFosse. Und ehe sie es sich versieht, ist Miss Pettigrew Teil der mondänen, aber chaotischen Welt von Miss LaFosse, in der es drei Männer gleichzeitig in Schach zu halten gilt. Nach anfänglicher Scheu macht sich die Gouvernante schließlich tatkräftig daran, Miss LaFosses Liebesleben in Ordnung zu bringen. Dabei taucht sie notgedrungen auch selbst in deren aufregende Welt aus Glamour, Flirts und galanten Gentlemen ein. So kommt es, dass sich auch Miss Pettigrews eigenes Leben innerhalb nur einen Tages für immer verändert…

(Inhaltsangabe dem Umschlag des Romans entnommen!)

Leichtigkeit: Dies war das erste, was mir bei meiner Lektüre in den Sinn kam. Ich seufzte und dachte bei mir „So ein schöner leichter Roman!“.

Watson taktete die Geschichte in sechszehn Kapitel bzw. Zeiträume innerhalb eines Tages. Da wurde auf die Sekunde genau Buch geführt, wann sich eine Situation veränderte und ein weiterer Zeitabschnitt begann. Dies führte dazu, dass ich scheinbar mühelos durch die Handlung flog, neugierig darauf, was unsere wunderbaren Heldinnen (Ja, die Damen stehen hier definitiv im Zentrum des Geschehens!) sonst noch Aufregendes erleben werde. Die Autorin schenkte uns in einem glamourösen Setting interessante wie verführerische Protagonist*innen, die einerseits Klischees bedienen und diese gleichzeitig widerlegen. Der gesamte Roman ist gespickt mit spritzig-witzigen Dialogen, die mich extrem erheitert haben. Wobei mich besonders die Dialoge im siebten Kapitel oder vielmehr des Zeitraums von 15:44 – 17:02 Uhr so sehr begeisterten, dass ich mir besagte Passage mehrmals selbst laut vorlas.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass dies – trotz allem Amüsement – auch die Geschichte einer Emanzipation ist, in der sich zwei gänzlich unterschiedliche Frauentypen solidarisieren und es wagen, aus dem gesellschaftlichen Korsett auszubrechen und sich verweigern, den ihnen von außen vorgegebenen Platz im sozialen Gefüge weiterhin auszufüllen. Auch täuscht der Humor nicht über die Missstände in der damaligen Gesellschaft hinweg: Abhängigkeit Bediensteter vom Dienstherrn, die Stellung der Frau innerhalb einer männlich dominierten Hierarchie und ihre manchmal fragwürdigen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Es ist präsent, doch nie erdrückend!

„So ein schöner leichter Roman!“ …und witzig, keck, frivol, romantisch und zauberhaft. Da verwundert es schon, dass er nicht bereits viel früher seinen Weg auf die große Leinwand fand.


erschienen bei Manhattan (Goldmann) / ISBN: 978-3442546619 / in der Übersetzung von Martina Tichy

URLAUBSLEKTÜRE 2025

🌞

Sommerzeit ist Urlaubszeit,…

…und das bedeutet, es kann wieder unbeschwert in den Tag hineingelebt werden. Da stört uns kein penetranter Blick auf die Uhr, da wir zum Glück keine dringenden Termine wahrnehmen müssen, die unseren Tag in kleine Häppchen zerteilen. Die Tage stehen uns zur freien Verfügung, und dies können/dürfen/sollten wir nutzen, um unbeschwert in eine Geschichte einzutauchen – gänzlich ohne Angst, irgendetwas „Wichtigeres“ zu verpassen.

Die Auswahl der Urlaubslektüre darf da gerne vielfältig sein: Die einen lieben einen zünftigen Krimi, die anderen greifen zu einem Klassiker, wieder andere schmökern in einem fesselnden Roman.

Auch in diesem Jahr habe ich mich bemüht, aus den von mir gelesenen Büchern der vergangenen 12 Monate eine kleine, urlaubstaugliche Auswahl zu treffen.


Beginnen möchte ich den Reigen mit einer äußerst populären Spürnase: Zu Miss Marple gibt es zwölf neue Geschichten, die nicht aus der Feder von Agatha Christie stammen. Vielmehr haben sich namhafte Autorinnen der Figur angenommen und mit Talent und Respekt weitere tolle Kriminalfälle kreiert. Alan Bradley ließ seine Fans ganze 5 Jahre zappeln, bis endlich Flavia de Luce wieder die literarische Bühne betrat, und somit ihre spannende Geschichte weitererzählt wurde. Kate Atkinson legte einen aufregenden Roman zwischen Gesellschaftsstudie, Sittengemälde und Kriminalroman vor, der zudem in den „Roaring Twenties“ spielt.


Dieser Autor war für mich eine wahre Entdeckung: Sasha Filipenko gelingt das Kunststück, die Melancholie und Tristesse in seinem Roman durch ein feines Netz aus Humor aufzuhellen. Kathrin Aehnlich warf wieder einen liebevollen Blick auf die Menschen in den so genannten neuen Bundesländern und beschreibt die Charaktere in ihrer Geschichte voller Wärme. Saša Stanišić war Entdeckung wie Offenbarung für mich: Seine Erzählungen sind warmherzig, humorvoll und melancholisch – einfach wundervoll.


Sind wir alle nicht hin und wieder ein wenig neugierig und möchten erfahren, wie es hinter den Kulissen so zugeht? Mit spitzbübischer Freude schenkt uns Rainer Moritz einen humorvollen Blick in die (Un-)Tiefen der Buchbranche. Heinrich Spoerls Klassiker um den scheinbaren Pennäler „Pfeiffer mit drei Eff“ hat in all den Jahrzehnten nichts von seinem Charme verloren und amüsiert auf ganzer Linie. Von Winifred Watsons federleichtem Unterhaltungsroman gibt es hier noch keine Rezension, da ich ihn erst vor kurzem ausgelesen habe. Doch ich wollte euch diese wunderbar beschwingte Geschichte nicht vorenthalten.


Allen Büchern ist gemein, dass sie mich ausnehmend gut unterhalten haben, und so hoffe ich sehr, dass sie auch euren Geschmack treffen und euch wohlige Lese-Stunden schenken.

Die Fachleute in der Buchhandlung eures Vertrauens stehen euch gerne mit Rat und Tat zur Seite und sind sowohl bei der Suche als auch bei der Beschaffung dieser oder einer anderen Urlaubslektüre mit Freude behilflich! 💖

Ich wünsche euch einen wunderbaren Urlaub
mit viel Spaß beim entspannten Schmökern!!!

🌞

LESE-HIGHLIGHTS 2024…

Altes Jahr vergeht.
Wange in die Hand gestützt,
blicke ich ihm nach.

Chô-i

So wie der japanische Dichter Chô-i es zwar knapp aber treffend schon vor hunderten von Jahren beschrieben hatte, erging es mir beim Schreiben dieses Beitrags.

Ich schaue auf das Jahr 2024 mit gemischten Gefühlen: Da gab es so manche Krisen bzw. krankheitsbedingte Rückschläge, die mich zum Nachdenken zwingen… (Nein! Ich werde nicht gezwungen. Vielmehr werde ich aufgefordert.) …die mich zum Nachdenken auffordern. Ich empfinde es wahrlich nicht als Zwang. Ich sehe es vielmehr als Chance! Im Neuen Jahr wird es Veränderungen geben: Wie und in welchem Umfang wird sich noch entscheiden. Um langfristig gesund zu bleiben, sollte sich in meinem Leben allerdings einiges ändern.

Doch natürlich gab es nicht nur Krisen: Gottlob wurde ich mit vielen Glücksmomenten – kleinen wie größeren – beschenkt. Ich durfte viel Qualitätszeit mit meinen Herzensmenschen verbringen, erlebte etliche inspirierende Stunden im Theater und Konzert und las einige wunderbare Bücher.

Diese Aspekte meines Lebens werde ich ganz sicher nicht ändern!

Bei der Auswahl der Bücher bin ich mir gänzlich treu geblieben. Die Zeiten, in denen ich dachte, ich müsste hier mit der Vorstellung intellektuell herausfordernder Literatur meine Follower*innen beeindrucken, sind längst passé. Ich lese, was mir gefällt – unabhängig vom Alter des Werkes bzw. für welches Lesealter es ursprünglich vorgesehen war. Es gibt für mich nur eine einzige Voraussetzung: Ich möchte mich unterhalten fühlen!

Und hier sind sie nun endlich, meine Lese-Highlights des Jahres 2024…


Lese-Highlights 2024 - Buchcover


  • Ende Februar wurde der 125. Geburtstag von Erich Kästner gefeiert. Und auch ich ließ es mir nicht nehmen, diesen großartigen Romancier – neben einer kleinen RETROSPEKTIVE – mit Rezensionen zu DAS MÄRCHEN VOM GLÜCK und DAS MÄRCHEN VON DER VERNUFT zu gratulieren. Beide Bücher wurden phantasievoll von Ulrike Möltgen illustriert.
  • Im März tat ich etwas, was längst überfällig war: Es war mir eine große Freude, Heinrich Spoerls „Loblied auf die Schule“ DIE FEUERZANGENBOWLE zu lesen.
  • Ebenfalls im März begeisterte mit Kathrin Aehnlich mit ihrem Roman DER KÖNIG VON LINDEWITZ. Immer wieder schafft sie es, den Menschen im Osten unsere Landes eine Stimme zu geben.
  • Im April hielt ich dann das wunderbare Lese- und Bilderbuch FESTE DER WELT mit den Texten von Joanna Kończak in den Händen, das von Ewa Poklewska-Koziełło ebenso wunderbar illustriert wurde.
  • Der Mai bescherte mir mit DER TWYFORD-CODE von Janice Hallett einen ganz ungewöhnlichen Roman, der komplett aus Transkriptionen von Audiodateien bestand. Spannend!
  • Absolut Entzückendes erwartete mich im August mit SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN von Siegfried Lenz. Dieses kleine ostpreußische Dorf im Masurenland mit seinen liebenswert-kauzigen Menschen war mir schnell ans Herz gewachsen.
  • Im September feierte auch ich den Weltkindertag: Grund genug mich mit MEIN GROSSER MÄRCHENSCHATZ. Das Original aus den 70ern der Brüder Grimm auf eine kleine Zeitreise in meine eigene Kindheit zu begeben.
  • Der September überraschte mich auch mit dem Erzählband MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN, PLATZIERT SIE AUF DEM GRAB DIE GIESSKANNE MIT DEM AUSGUSS NACH VORN von Saša Stanišić, das mich so sehr begeistern konnte.
  • Im Oktober wurde es schaurig-schön mit DAS PHANTOM DER OPER von Gaston Leroux in der überzeugenden Neu-Übersetzung Rainer Moritz.
  • Der Oktober blieb weiter spannend, da ich mit Sasha Filipenko und seinem Krimi  DER SCHATTEN EINER OFFENEN TÜR einen sehr interessanten Autor entdeckte.
  • Ende November geschah ein kleines Wunder, das mich selbst überraschte: Mit Agatha Christies HERCULE POIROTS WEIHNACHTEN von Isabelle Bottier (Text) und Callixte (Illustrationen) konnte mich endlich eine Graphic Novel überzeugen.
  • Im Dezember wurde es humorvoll-besinnlich mit den entzückenden Geschichten wie DER GESTOHLENE WEIHNACHTSBAUM von Hans Fallada, zu denen Ulrike Möltgen (wie schon bereits bei Erich Kästner) ihre zauberhaften Illustrationen beisteuerte.

…und das war er wieder, mein Lese-Rückblick auf das Jahr 2024, das wir in wenigen Tagen ad acta legen können. Da bleibt mir nur noch eins:

Ich wünsche Euch einen guten Rutsch ins Neue Jahr 2025!

Liebe Grüße
Andreas

[Rezension] Celia Fremlin – DER LANGE SCHATTEN

Sie wollte nie eine Lady werden, einen Haushalt führen oder das schmückende Beiwerk an der Seite eines Gatten sein. Somit studierte Celia Fremlin (Jahrgang: 1914) in Oxford klassische Philologie und Philosophie und musste nach dem bestandenen Examen doch typische Frauenjobs, wie Verkäuferin oder Kellnerin, annehmen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Schreiben tat sie nur so nebenbei, zumal ein Weltkrieg und eine Ehe dazwischen kamen. Erst im Alter von 44 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der ihr auf Anhieb den renommierten Edgar Allan Poe Award bescherte.

Der vorliegende Roman DER LANGE SCHATTEN erschien erstmals im Jahre 1975 und ist bei weitem kein klassischer Kriminalroman und schon gar nicht ein Weihnachtskrimi. Er spielt zwar zum Jahreswechsel, doch das Weihnachtsfest hat hierbei eine untergeordnete Rolle. Der Winter dient eher als Kulisse zur Schaffung einer entsprechend geheimnisvollen Atmosphäre.

Vom schrillen Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen, stolpert Imogen durch das dunkle, leere Haus, um den Anruf entgegenzunehmen. Zuerst versteht sie den Mann am anderen Ende der Leitung nicht. Er will sie nicht ernsthaft beschuldigen, ihren Ehemann Ivor getötet zu haben, der vor knapp zwei Monaten bei einem Autounfall ums Leben kam! Imogen möchte doch nichts anderes als in Ruhe über ihren Schmerz hinwegkommen. Aber genau diese Ruhe will man ihr nicht gönnen. Kurz vor Weihnachten reisen nacheinander Imogens erwachsener Stiefsohn samt Freundin, die Stieftochter mit Ehemann und zwei Kindern sowie Ivors Exfrau an. Und bald darauf geschehen merkwürdige Dinge: Wer hat die halb ausgetrunkene Whiskeyflasche neben Ivors Lieblingssessel abgestellt? Hat jemand in seinen Papieren gewühlt? Und warum hört dieser Fremde nicht auf, anzurufen und darauf zu bestehen, dass er Imogens Schuld am Tod ihres Mannes beweisen kann?

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Es ist dem Roman durchaus anzumerken, dass seine Autorin schon eine gewisse Lebenserfahrung mitbrachte. Da sind die inneren Monologe der Heldin wohldurchdacht, ihre Empfindungen verständlich, ihre Gedanken nachvollziehbar. Aus ihr spricht eine gereifte Persönlichkeit, die höchst individuell mit den Tod ihres Ehemanns umgeht. Sie trauert durchaus um ihn, vermeidet aber eine Glorifizierung seiner Person, wie es ihr Umfeld tut, und dies auch von ihr erwartet. Jede*r trauert auf eine eigene, sehr persönliche Art, und doch wird anscheinend von der Witwe eines angesehenen Mannes eine bestimmte Form der Trauer vorausgesetzt.

Die Autorin kreierte ihre Heldin somit sehr dreidimensional. Umso klischeehafter fielen die Nebenrollen aus und wirkten beinah wie Karikaturen auf mich. Ein Umstand, der dazu führte, dass ich von deren beschriebenen Allüren zuerst genervt und dann gelangweilt war. Vielleicht sollten besagte Nebenrollen für die „überraschende Komik“ sorgen, wie es uns der Verlag auf dem Umschlag dieses Buches verspricht. Leider konnte ich persönlich diese Komik nicht wahrnehmen.

Dafür baute Fremlin die Spannung sehr subtil, beinah unaufgeregt auf, indem sie der Geschichte Zeit gab, sich zu entwickeln, etliche Nebenschauplätze schuf und die Handlung gerne in unterschiedliche Richtungen lenkte. Dies erfolgte so raffiniert, dass immer wieder eine andere Person meine Aufmerksamkeit erregte und so in meinen Fokus gerückt wurde: Da hatte ich – von der Exfrau über die Nachbarin bis zu den erwachsenen Kindern und sogar die Witwe selbst – nahezu alle handelnden Personen im Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Kurzzeitig kam mir sogar der Gedanke, dass der Ehemann seinen Tod nur vorgetäuscht hätte. Die Auflösung kroch dagegen recht unspektakulär um die Ecke, war durchaus absolut schlüssig, hinterließ bei mir aber ein Gefühl der Enttäuschung: „Wie? Das war’s jetzt?“.

Doch ich hatte mich auch ein wenig über mich selbst geärgert und gedacht „Da hätte ich auch selbst drauf kommen können!“. Ich bin nicht auf die Lösung gekommen, was ja eher für das schriftstellerische Talent der Autorin spricht. Zumal auch ihre Ausgangsidee absolut genial wie beängstigend ist. Stellt euch bitte mal folgende Situation vor: Da steht plötzlich eine völlig fremde Person vor dir und flüstert…

„Ich weiß, was du getan hast!“

…und behauptet zudem, dies auch noch beweisen zu können. Gruselig!


erschienen bei Dumont / ISBN: 978-3832168483 / in der Übersetzung von Sabine Roth
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Sasha Filipenko – DER SCHATTEN EINER OFFENEN TÜR

Ich musste zu meiner Überraschung feststellen, dass ich meine Hemmschwelle gegenüber der russischen Literatur immer noch nicht gänzlich überwunden habe. Dabei war ich auf einem so guten Wege: Schon bei DAS ADELSGUT begeisterte mich wie der Autor Iwan Turgenjew die Worte mit Bedacht wählte. Auch die wunderbaren Jahreszeiten-Anthologien mit Erzählungen von Anton Čechov (in der äußerst gelungenen Übersetzung von Peter Urban), die ebenfalls im Diogenes-Verlag erschienen sind, konnten mich für sich einnehmen.

Doch anscheinend sitz der Stachel immer noch recht tief in meinem Fleisch: Ich war ungefähr 20 Jahre alt, als ich mich an ANNA KARENINA von Leo Tolstoi wagte und mich bald kläglich überfordert fühlte. Alles an diesem Roman war mir zu groß, zu mächtig, zu emotional, zu schwülstig und hatte so ganz und gar nichts mit mir und meinem kleinen, unbedeutenden Alltag zu tun. Die Russen mit ihrer Literatur und ich – wir passten wohl nicht zusammen, und diese Haltung sollte sich über Jahre nicht ändern.

Doch nun hatte ich mich doch schon langsam aber stetig angenähert, und trotzdem überlegte ich mit Bedacht, ob ich diesen kriminalistischen Roman (Die Russen und Kriminalromane: Kann das gut gehen?) lesen sollte. Dann trat ich mir selbst – natürlich rein metaphorisch – in den Hintern und bat den Verlag um ein Rezensionsexemplar.

Die gottverlassene Provinzstadt Ostrog wird von einer Suizidserie von Jugendlichen im Waisenhaus erschüttert. Kommissar Alexander Koslow aus Moskau soll die Ermittlungen in die Hand nehmen, doch die örtliche Polizei hat ihre eigenen Theorien. Als Petja, ein Sonderling mit einem Herz für die Natur, verhaftet wird, glaubt Koslow nicht an dessen Schuld. Aber warum geriet Petja damals derart außer sich, als der Bürgermeister von Ostrog den Heimkindern einen Griechenland-Urlaub spendieren wollte?

 (Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Apropos „Hintern“: Ich bekam eben jenen nicht mehr aus dem Lesesessel heraus, nachdem ich mit der Lektüre begonnen hatte. Seite für Seite zog Sasha Filipenko mich immer tiefer in die Handlung hinein. Sein Ermittler Kommissar Alexander Koslow ist ein Sonderling, dem das Leben zwar die eine oder andere schmerzhafte Narben auf der Seele hinterließ, der sich aber bisher nicht hat brechen lassen und weiterhin seine Hoffnung im Herzen trägt. Es ist durchaus eine ambivalente Figur, die sich gerade aufgrund ihre Vielschichtigkeit meiner Sympathie sicher sein konnte.

Filipenko beschreibt die Ödnis einer Kleinstadt im russischen Nirgendwo so genau, dass diese deprimierende Atmosphäre beinah spürbar schien. Gleichgültigkeit prägt den Umgang der Menschen untereinander. Eine Gleichgültigkeit, die auch die ungewollten Kinder des Waisenhauses zu spüren bekommen – Kinder, die niemals eine Kindheit haben durften. Das Leben dieser Kinder ist ein einziger Überlebenskampf, ein Umstand, der sich für sie auch nicht ändern wird, sollten sie das Erwachsenenalter erreichen.

Unser zweiter Held Petja Pawlow ist eines dieser dem Waisenhaus entwachsenen Wesen. Unermüdlich versucht er in dem unwirtlichen Umfeld dieser tristen Kleinstadt seinen Platz zu finden. Er ist ein Phantast, ein Kindskopf, einer, bei dem das Glas stets halbvoll und nie halbleer ist. Er ist jemand, der, selbst nachdem er der brutalen Polizeiwillkür ausgesetzt war, seine positive Haltung zu den Menschen und zum Leben nicht verliert. Petja ist eine tragische Figur und gerade darum so liebenswert.

Zwischen diesen beiden (Anti-)Helden siedelt der Autor die weiteren Figuren der Handlung an, bei denen er überzeugend eine plakative Schwarz-Weiß-Zeichnung vermeidet. Auch die Handlung selbst entwickelt sich nicht stringent in eine einzige Richtung: Filipenko bricht sie auf, legt ihre losen Fäden mal hierhin und mal dorthin, um dann schlussendlich eine Lösung zu präsentieren, die im ersten Moment enttäuschend, doch vom psychologischem Standpunkt nachvollziehbar erscheint. Selbst eine sensationelle, aufsehenerregende Lösung des Falls wird diesem öden Kaff Ostrog nicht gegönnt.

Bei all dieser deprimierenden Trostlosigkeit und der wahrnehmbaren Melancholie, die mich als Leser durchaus hätte niederdrücken können, gelinkt Sasha Filipenko ein wunderbares Kunststück: Er umhüllt Figuren wie Handlung mit einem feinen Netz aus Humor, lässt sie dadurch leicht erscheinen und mildert so die Schwere hin zum Erträglichen.

Wenn ich nun behaupte, es wäre mir eine Freude gewesen, diesen Roman zu lesen, dann meine ich dies im wahrsten Sinn des Wortes: Ja, es war tatsächlich eine Freude!


erschienen bei Diogenes / ISBN: 978-3257071597 / in der Übersetzung von Ruth Altenhofer
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Gaston Leroux – DAS PHANTOM DER OPER/ mit Illustrationen von Michèle Ganser

Lieben wir nicht alle Schauergeschichten: Dieses wohlige Gruseln während die Anspannung stetig steigt. Das Entgegenfiebern bis zum erlösenden Ende. Das Nachspüren der Atmosphäre, wenn uns hinterher unser Gang durch die dunkle und verdächtig stille Wohnung ins Schlafzimmer führt, und wir es uns kaum verkneifen können, einen prüfenden Blick in den Schrank und unter das Bett zu werfen…!

…dabei lässt sich DAS PHANTOM DER OPER gar nicht so leicht einer Kategorie zuordnen: Ist es nun tatsächlich eine Schauergeschichte oder vielmehr ein Kriminalroman oder doch eher ein Tatsachenbericht? Und das, wo wir Deutschen doch diese genetische Disposition haben und alles und jeden – schön geordnet – in eine Schublade stecken möchten.

Doch unabhängig vom Etikett, mit dem wir diesen Roman vielleicht nur allzu gerne schmücken würden, handelt es sich hier auch nach all den Jahren immer noch um eine spannende wie berührende Geschichte, die schon die Kreativität vieler Künstler*innen angeregt hat und nach wie vor die Leser*innen weltweit bestens unterhält.

Seit geraumer Zeit setzt ein dubioses Wesen die Direktion der Pariser Oper unter Druck und Künstler und Bühnenarbeiter in Angst und Schrecken. Er hat ganz klare Vorstellungen, wie „seine“ Oper zu führen sei, und nimmt Einfluss an der künstlerischen Arbeit des Hauses. Sollten seine Anweisungen nicht befolgt werden, geschieht Schreckliches. Zu aller Überraschung protegiert er die junge, unerfahrene Sängerin Christine Daaé, die sich dank seinem Unterricht auf der Bühne als brillante Sängerin profiliert. Doch auch Raoul, Vicomte de Chagny, ein Jugendfreund von Christine, ist von ihr entzückt. Doch die Liebe der beiden jungen Menschen bleibt dem Phantom nicht verborgen, und er setzt skrupellos alles daran, um Christine für ewig an sich zu binden…!

Abermals legt der Reclam-Verlag eine sehr hochwertige Neu-Auflage eines literarischen Klassikers vor: Da wurde auf viele Feinheiten geachtet, sei es bei der verwendeten Papierqualität, dem Druck und der Prägung bis zur sehr geschmackvollen Farbgebung in den Farben Schwarz, Weiß und Rot.

Leider haben mich ausgerechnet die Illustrationen von Michèle Ganser ein wenig enttäuscht, die als Randverzierungen in den laufenden Text eingefügt wurden. Dies wirkt beinah wie klassische Vignetten, doch anstatt Ranken gibt es Bilder von Requisiten und Dekorationsteilen zu bewundern. Diese sind durchaus sehr ansprechend und detailliert gestaltet und nehmen jeweils Bezug zur Handlung. Aber sie sind eher schmückendes Beiwerk und können für mich die ganzseitigen Illustrationen nicht ersetzen. Die einzige Illustration, die über zwei Seiten geht, ist eine Innenansicht des Zuschauersaals der Oper, die recht unspektakulär ausfällt. Unspektakulär deshalb, da eben jene Illustration bereits als Vorsatzblatt diente, bei dem nur ein paar Zuschauer*innen hinzugefügt wurden. Da konnte mich der Reclam-Verlag in der Vergangenheit mit seinen illustrierten Fassungen schon deutlich mehr überzeugt, wie z. Bsp. mit DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY von Oscar Wilde.

Doch der größte Pluspunkt und somit die absolute Kaufempfehlung ist für mich die neue Übersetzung von Rainer Moritz. Ich habe mir (mal wieder) die Mühe gemacht und einige Passagen parallel gelesen, um so die Unterschiede der neuen zur alten Übersetzung von Johannes Piron besser nachvollziehen zu können. Pirons Übersetzung stammte aus den 60er Jahren, weißt den sprachlichen Duktus jener Zeit auf und wirkt aus heutiger Sicht ein wenig schwülstig. Auch glaubte ich bei einigen Beschreibungen einen eher negativen Unterton im Vergleich zur aktuellen Übersetzung wahrzunehmen: Da wird aus „ein Hirngespinst der Dämchen vom Corps de ballet“ (alt) zu „die unscheinbare Erfindung erregter Gehirne unter Ballettmädchen“ (neu). Zudem klingen einige Formulierungen (von „Garderobenfrauen“ zu „Garderobieren“) deutlich eleganter in meinen Ohren. Gerade beim Vorlesen klang die alte Übersetzung oftmals holpriger und kam weniger geschmeidig über meine Lippen: „Ja, es hat leibhaftig existiert, wenn es auch wie ein echtes Phantom auftrat, das heißt als Schemen.“ (alt) im Vergleich zu „Ja, es hat leibhaftig existiert, obwohl es sich in allen den Anschein eines wahren Phantoms gab, also einer Schattengestalt.“ (neu)

Alles in allem scheint die Übersetzung von Rainer Moritz fließender, klarer, beinah nüchterner zu sein und kommt damit dem Stil des Originals recht nah. Gaston Leroux, der ja nicht nur als Schriftsteller tätig war sondern auch als Journalisten arbeitete, hatte diesen Roman als eine Art Tatsachenbericht verfasst, beinah so als würde er die bei Recherchen erhaltenen Informationen zusammenfassen. Dies kam der Erstveröffentlichung als Episoden-Roman in der Zeitung Le Gaulois sehr entgegen. Zumal nicht ganz nachvollziehbar war, was der Phantasie des Autors entsprungen ist, und was auf Tatsachen beruhte. Leroux war so pfiffig, dass er sich von realen Hintergründen inspirieren ließ und die entsprechenden Fakten geschickt in seine Geschichte einbaute.

Erstmals gibt es ein unbekanntes Kapitel zu entdecken, das von Leroux, nachdem die Geschichte erstmals in der Zeitung erschien, gestrichen wurde. Er empfand dieses Kapitel als nicht relevant genug für den Fortgang der Handlung. Tatsächlich ist es nun nicht so, dass mir als Leser ohne dieses Kapitel signifikante Sachverhalte fehlen würden. Trotzdem war es eine Freude, jenes Kapitel zu lesen, da der Autor sowohl Handlung wie Personen in seinem herrlich skurrilem Humor beschreibt und somit sehr zu meiner Erheiterung beitrug.

Abermals überzeugt der Reclam-Verlag mit der geschmackvollen Umsetzung einer beliebten Geschichte – nur als „illustrierte Fassung“ würde ich sie nun nicht unbedingt anpreisen.


erschienen bei Reclam / ISBN: 978-3150114926 / in der Übersetzung von Rainer Moritz
Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

URLAUBSLEKTÜRE 2024

🌞

Sommer, Sonne, Sandstrand…!

In wenigen Tagen beginnen hier in Niedersachsen die Sommerferien und somit begeben sich viele meiner Mitmenschen auf eine urlaubsbedingte Völkerwanderung. Doch bevor es so richtig losgehen kann, stürzen sich einige freiwillig in den Vor-Urlaubs-Stress beim Abarbeiten div. To do-Listen: Da werden Klamotten zurecht gelegt, scheinbar unentbehrliche Utensilien zusammengestellt sowie Papiere und Unterlagen griffbereit platziert. Absprachen mit Nachbarn, Verwandtschaft oder Freunden werden getroffen, damit auch Tiere und/oder Zimmerpflanzen versorgt sind und der Briefkasten regelmäßig geleert wird. Ach, und hat jemand die Zeitung abbestellt? Die To do-Liste weist zu diesem Posten einen beruhigenden Haken auf, was ein erleichterndes Ausatmen zur Folge hat.

Allerdings zweifle ich ernsthaft daran, dass auf wirklich jeder To do-Liste einer der wichtigsten Posten verzeichnet ist:

🔲 sich mit ausreichend Urlaubslektüre in der Buchhandlung des Vertrauens eindecken

Doch was wäre ein Urlaub ohne eine unterhaltsame Urlaubslektüre? Es wäre wie BA ohne AB, wie Hila ohne Voku, wie Doof ohne Dick – genau, es wäre doof.

Ein Urlaub ohne Urlaubslektüre wäre einfach nur doof!

Darum habe ich es mir nicht nehmen lassen, aus den von mir gelesenen Büchern der vergangenen 12 Monate eine kleine, urlaubstaugliche Auswahl zu treffen. Da nehmen die Krimis unübersehbar den deutlich größten Raum ein. Aber ihr müsst zugeben: Krimi und Urlaub passen einfach sensationell gut zusammen!

Urlaubslektüre 2024-1

MORD AUF DER KREUZFAHRT von Nicholas Blake
🌈 EIN SPIEL ZUVIEL von P.D. James
WIE EIN HAUCH IM WIND von Josephine Tey

Urlaubslektüre 2024-2

🌈 NEUN LEBEN von Peter Swanson
LACROIX UND DIE TOTEN VOM PONT-NEUF von Alex Lépic
🌈 DER TWYFORD-CODE von Janice Hallett

Urlaubslektüre 2024-3

LEB WOHL, MISTER CHIPS von James Hilton
🌈 WER BRAUCHT SCHON WUNDER von Anne Müller
SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN von Siegfried Lenz

Und so gibt es neben den eher klassischen bzw. klassisch-angehauchten Kriminalromanen auch drei neuere Werke aus dem Genre der Spannungsliteratur zu entdecken. Trotzdem kann ich euch zu den Krimis auch noch zwei wunderbare Romane bieten, die mir beide – jeder auf seiner ganz besonderen Weise – sehr gefallen haben. Zu meinem letzten Vorschlag gibt es doch tatsächlich noch keine Rezension hier auf meinem Blog: Die Erzählungen in SO ZÄRTLICH WAR SULEYKEN von Siegfried Lenz lese ich gerade selbst, bin aber so begeistert von den entzückenden und warmherzigen Geschichten, dass ich sie euch nicht vorenthalten wollte.

Sowohl bei der Suche als auch bei der Beschaffung dieser oder einer anderen Urlaubslektüre ist Euch mit Freude die Buchhandlung Eures Vertrauens behilflich! 💖

Ich wünsche Euch einen wunderbaren Urlaub
mit viel Spaß beim entspannten Schmökern!!!

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[Rezension] Janice Hallett – DER TWYFORD-CODE

Da gibt es Brief-Romane, wo wir Leser*innen die Handlung aus der Korrespondenz meistens zweier Personen herauslesen können (wie beispielsweise: DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER von Johann Wolfgang von Goethe/ GUT GEGEN NORDWIND von Daniel Glattauer). Auch sind Romane bekannt, in denen nur ein*e Einzelne*r einen inneren Monolog führt und so die Handlung aus der Sicht eben dieser einzigen Person wiedergeben wird (ULYSSES von James Joyce/ MEDEA von Christa Wolf). Und vor einiger Zeit überraschte Robert Galbraith aka Joanne K. Rowling uns damit, dass er/sie in DAS TIEFSCHWARZE HERZ seitenweise Chat-Verläufe und Auszüge aus Twitter-Accounts eingewoben hatte. Doch ein Roman, der komplett aus Transkriptionen von Audiodateien besteht, ist mir bisher nicht in die Finger geraten.

Als Teenager findet Steven Smith, genannt Smithy, zufällig ein Kinderbuch, geschrieben von Edith Twyford. Seine Lehrerin Miss Trout ist davon überzeugt, dass darin ein geheimer Code verborgen ist. Auf einem anschließenden Klassenausflug verschwindet Miss Trout spurlos. Vierzig Jahre später beschließt Smithy, gerade aus dem Gefängnis entlassen, dem Geheimnis von damals nachzugehen. Wurde Miss Trout ermordet? Hatte sie mit dem Code recht? Und wird er heute noch verwendet? Als Smithy auf der Suche nach Antworten die Menschen und Orte seiner Kindheit aufsucht, wird bald klar, dass Edith Twyford nicht nur eine Autorin vergessener Kindergeschichten war. Der Twyford-Code hat große Macht, und Smithy ist nicht der Einzige, der versucht, ihn zu lösen.

(Inhaltsangabe der Homepage der Presseagentur entnommen!)

Da vermittelt die offizielle Inhaltsangabe des Verlages zwar durchaus einen groben Eindruck der Handlung, doch Rückschlüsse auf die Besonderheit dieses Romans lässt sie nicht zu: Dieser Roman besteht komplett – und wenn ich sage „komplett“, dann meine ich es auch so – aus Abschriften von einer Fülle an Audiodateien. Zum besseren Verständnis bedarf es zudem eine Erklärung, wie und warum diese Audiodateien entstanden sind.

Das Leben hat es mit unserem Helden Steven „Smithy“ Smith nicht gut gemeint: desolates Elternhaus, keine Bezugspersonen, Schwierigkeiten in der Schule, Verwicklungen in illegale Geschäfte. Doch nach seinem letzten Gefängnisaufenthalt soll nun alles anders werden: Ehrlich will er nun leben, zumal ihm das Schicksal gänzlich überraschend einen Sohn in Gestalt des Mathematikprofessors Max Mansfield geschickt hat. Max ist das Ergebnis aus einer früheren Beziehung, und seine Mutter hatte ihm bisher die Identität des Vaters wohlweislich verschwiegen. Und so treffen plötzlich zwei völlig konträre Welten aufeinander: Der angesehene und hochintelligente Professor steht einem Vater mit krimineller Vergangenheit, der kaum lesen und schreiben kann, gegenüber. Die Annäherung gestaltet sich entsprechend schleppend, bis sie von Max gänzlich abgebrochen wird. Und so nutzt Smithy die Aufnahmefunktion eines alten Handys von Max für eine Art Audio-Tagebuch, indem er angeblich seiner Bewährungshelferin Maxine (!) seine Lebensgeschichte erzählt, die sich irgendwie mit dem titelgebenden Code verwoben hat. Doch plötzlich ist Smithy wie vom Erdboden verschwunden. Nur das alte Handy wird gefunden: Die ausgedruckten Transkriptionen der Audiodateien finden ihren Weg zu Max…!

Und genau das ist es, was uns als Roman nun hier vorliegt. Autorin Janice Hallett hat die Handlung sehr raffiniert aufgebaut und mit so vielen Details gespickt, dass meine volle Konzentration gefordert war. Ein Folgen der Geschichte war, solange nur Smithy sprach und somit die Identität des Verfassers eindeutig bestimmt werden konnte, einfach. Allerdings nimmt Smithy auch Gespräche mit anderen Personen auf: Bei diesen Dialogen werden die Sprecher*innen in der Reihenfolge des Auftritts durchnummeriert. Rückschlüsse zur jeweiligen Identität können so nur anhand der Aussagen getätigt werden. Zudem werden Slang-Ausdrücke, Akzente oder auch anstößige Äußerungen verfälscht bzw. zensiert wiedergegeben, was den Lesefluss durchaus hätte erschweren können – aber in keiner Weise tat. Umso überraschter war ich über den stringenten Spannungsbogen, den Hallett gekonnt konstruierte, um sich so die Aufmerksamkeit der Leserschaft zu sichern. Ihre Erzählweise wirkte auf mich äußerst dynamisch und sehr unmittelbar. Beinah schien es so, als würde ich zum Zeitpunkt der Aufnahme neben Smithy stehen.

Für die Kinderbüchern einer Edith Twyford standen eindeutig die Werke von Enid Blyton Pate: Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass sich in den gänzlich harmlosen Geschichten einer Enid Blyton ein geheimnisvoller Code verbergen könnte. Doch dieser Kunstgriff war klug gewählt, da Blytons Kinderbücher international sehr bekannt sind und somit viele der Leser*innen – so wie auch ich – diese in ihrer Kindheit regelrecht verschlungen haben. Somit war mir der Charakter der Geschichten durchaus geläufig: Allen voran natürlich die „Fünf Freunde“-Reihe, aber auch die „Geheimnis um…“- bzw. „Rätsel um…“-Reihe sowie die Abenteuer-Serie, die nun gerade eine Wiederbelebung erfährt. Da schon die Originalgeschichten vor geheimnisvollen Phänomenen nur so strotzen, schienen sie für Hallett geradezu prädestiniert zu sein, dass sie die Vorlage für die scheinbaren Verschwörungstheorien innerhalb der fiktiven Twyford-Bücher bildeten.

Vielleicht stellt ihr euch nun die durchaus berechtigte Frage, um welches Genre es sich bei DER TWYFORD-CODE handelt. Wir Deutschen lieben ja das Denken in Schubladen: Da können wir einfach nicht aus unserer Haut. Und so stellte sich auch mir diese Frage, was ich hier nun genau vorliegen hatte. Vater-Sohn-Konflikt? Coming of Age-Story? Kriminalroman? Vergangenheitsbewältigung? Spionage-Thriller? Eine eindeutige Zuordnung war mir leider nicht möglich. Es schien mir schlussendlich auch nicht wichtig genug.

Fakt ist, dass Autorin Janice Hallett mir eine raffiniert gestrickte Geschichte präsentierte, die mich am Ende mit einer unvorhersehbaren Wendung überraschen konnte.

P.S.: Wenn ihr nun erfahren möchtet, was es mit dem Fisch auf dem Cover auf sich hat, bleibt euch leider keine andere Möglichkeit, als den Roman selbst zu lesen. Viel Spaß!


erschienen bei Atrium / ISBN: 978-3855351787 / in der Übersetzung von Stefanie Kremer
Ich danke der presseagentur Politycki & Partner herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!

[Rezension] Kathrin Aehnlich – DER KÖNIG VON LINDEWITZ

Mit ihrem Roman WIE FRAU KRAUSE DIE DDR ERFAND konnte Kathrin Aehnlich mich nicht nur überzeugen sondern auch begeistern. Schon in ihrem Erstlingswerk warf sie einen humor- wie liebevollen Blick auf die Menschen in den so genannten neuen Bundesländern. Dabei sind die „neuen“ Bundesländer nach 35 langen Jahren der Wiedervereinigung bei weiten nicht mehr neu. Sie sind gealtert. Auch die dort lebenden Menschen sind älter geworden. Ihr Leben hat sich durchaus verändert, aber trotz allem haben die gemeinsame Vergangenheit und die persönlichen Schicksale immer noch einen großen Einfluss auf ihr Denken und Handeln…

Bruno Henker weiß mehr als andere. Er kennt die Lebensläufe und Familiengeschichten, auch die Geheimnisse der Lindewitzer. Er weiß, warum der eine trinkt, wer wen verraten hat, wer Zugang zu den begehrten Westwaren hatte, und warum das herbeigesehnte neue leben viele nicht glücklicher macht. Warum Claudia, die sich nach der weiten Welt gesehnt hat, als Touristenführerin in Lindewitz hängen blieb. Warum sich im Leben der 1923 geborenen Zwillinge Anne und Marie die Geschichte des ganzen Jahrhunderts spiegelt. Warum Tante Mausi, die mit 93 Jahren in einem Pflegeheim lebt, sich von ihrem Großneffen täglich eine Flasche Rotwein bringen lässt. Warum Claudius immer noch mit seiner fast hundertjährigen Mutter zusammenwohnt. Warum Benedikt es zum Entsetzen der Familie vorzog, nach einem mit Bravour absolvierten Jurastudium einen Späti in Tante Huldas ehemaligem Gemischtwarenladen zu eröffnen. Bruno weiß auch, wie sich das Viertel durch die „Vorkommnisse“ vor einem Jahr verändert hat. Diesen Überfall der Rechten auf das Viertel, die Nacht, in der sie die Scheiben eingeschmissen und brennende Fackeln auf die Dächer geworfen haben. Und warum darüber geschwiegen wird. Aber hat Schweigen je geholfen?

(Inhaltsangabe dem Klappentext des Buches entnommen!)

Lindewitz steht stellvertretend für einen Stadtteil in irgendeiner größeren Stadt im Osten der Republik. Alles scheint hier seinen gewohnten Gang zu gehen: Die Bewohner*innen haben sich in ihrem Mikro-Kosmos eingerichtet. Man kennt sich, kennt auch die Geschichten der Familien und weiß, wer mit wem warum und wie… – Naja, geht ja niemanden etwas an. Ist ja schließlich so ’ne Familienangelegenheit,…

…und dann wird geschwiegen, geschwiegen und weggeschaut. Und plötzlich sind da Kräfte am Werk, die niemand haben wollte. Plötzlich tauchen Gestalten auf, die mit Ihrer Haltung und ihren Handlungen das gemütliche Leben in Lindewitz auf den Kopf stellen. Plötzlich? Nein, diese subversiven Elemente agieren schon viel, viel länger. Denn etwas nicht sehen (wollen), bedeutet nicht, dass es nicht da ist!

Kathrin Aehnlich siedelt ihre Geschichte im Osten unseres Landes an, um so vor dem Hintergrund der DDR-Vergangenheit eine plausible Begründung sowohl für das Handeln wie auch für das Ausharren der Menschen zu bieten. Ja, es sind eben „nur“ Menschen und keine Heiligen oder Helden. Es sind Menschen: fehlerhaft, unvollkommen und doch einzigartig. Schnörkellos erzählt die Autorin uns ihre Geschichten: Sie alle haben ihre ganz individuellen „Alt-Lasten“, mit denen sie versuchen umzugehen. Viele dieser „Alt-Lasten“ wurden tief in der Seele verscharrt, in der Hoffnung, dass sie nie wieder zutage treten mögen. Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes, etwas schier Unmögliches, und Wunden werden aufgerissen, die dann bluten und schmerzen.

Voller Wärme skizziert die Autorin ihre Charaktere und entblättert Seite für Seite die jeweiligen Schicksale – sowohl im hier und jetzt, wie auch in der Vergangenheit. Und je mehr ich von diesen Menschen und ihren Lebensläufen erfahre, umso mehr reift in mir folgende Erkenntnis: Nein, Heilige sind sie ganz bestimmt nicht. Aber Helden sind sie auf jedem Fall!

Kathrin Aenlichs Geschichte ist – trotz einem ernsten Grundton – absolut ermutigend und lebensbejahend, voller Humor und einer großen Portion Respekt für die einfachen Menschen.

Und: Ja, in diese Geschichte liegt Lindewitz im Osten. Aber gibt es ein Lindewitz nicht überall…?


erschienen bei Kunstmann / ISBN: 978-3956145834

Ich danke dem Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar!