[Lustspiel] Carlo Goldoni – DER DIENER ZWEIER HERREN / Stadttheater Bremerhaven

Komödie nach Carlo Goldoni / in einer Fassung von Kay Neumann

Premiere: 21. September 2024 / besuchte Vorstellung: 13. Oktober 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Kay Neumann
BÜHNE & KOSTÜME Monika Frenz
MUSIK Jan-Hendrik Ehlers
DRAMATURGIE Peter Hilton Fliegel
LICHT Katharina Konopka


„Logik? Die ist für gut zwei Stunden außer Kraft gesetzt.
Wird ohnehin überbewertet.“

lässt Tobia Fischer in ihrem Bericht zur Premiere in der Nordsee-Zeitung verlauten. Und: Recht hat sie! Es ist manchmal ein Vergnügen, auf die Logik zu pfeifen. Dann genieße ich es, mich in meinem Sitz im Zuschauersaal einfach nur zurücklehnen zu dürfen, wunderbar unterhalten zu werden und alles um mich herum – von den Katastrophen in der Welt bis zu meinen kleinen Alltagsärgernissen – auszublenden.

Über 270 Jahre hat die Komödie von Carlo Goldoni nun schon auf dem Buckel. Damals in Mailand uraufgeführt gilt sie als Höhepunkt der Commedia dell’arte. Doch kann man die damaligen Rollenklischees der Geschlechter heutzutage noch auf einer Bühne zeigen, und zündet der Humor von 1746 auch noch im Jahre 2024? Antwort: „Ja!“ und „Ja!“, wenn jemand wie Regisseur Kay Neumann fähig ist, eine eigene Fassung zu kreieren ohne dabei das Original gänzlich zu verstümmeln. Kay Neumann schuf eine Bremerhavener Fassung und traf damit sowohl voll ins Schwarze wie auch mitten in mein Humor-Zentrum. Da werden die Namen der Charaktere einge(nord)deutscht, die Handlung wird einfach von Venedig nach Bremerhaven transferiert und mit viel Lokalkolorit und Anspielungen auf hiesige Gegebenheiten garniert. Er scheucht das talentierte Schauspiel-Ensemble des Stadttheaters Bremerhaven in einem immensen Tempo über die Bühne und krönt dies – als Running Gag – mit drei Musikern, die, kaum sind sie auf der Bühne erschienen, auch schon wieder von ihr verjagt werden. Zudem spickt er seine Inszenierung mit witzigen Regie-Einfällen zwischen Slapstick und Groteske.

Wobei: So genau will Neumann sich bzgl. der Zeit, in der die Handlung spielt, nicht festlegen lassen. Bühne und Kostüme von Monika Frenz würden zu den 80ern ebenso wie ins Heute passen. Auf jeden Fall spielt die Komödie zu einer Zeit, in der es noch kein TikTok, Smartphone und ähnlichen entlarvenden Schnickschnack gab, da sonst folgende Irrungen und Wirrungen schier unmöglich gewesen wären…

Kaufmann Hosemann hat gerade die Verlobung seiner Tochter Clara mit dem Anwaltssohn Silvester Friesdorf bekannt gegeben, da kündigt sich sein tot geglaubter Geschäftspartner an: Frederick Rasperg, dem Clara versprochen war. Hosemann wittert ein Geschäft, ist Rasperg doch wesentlich reicher als Doktor Friesdorf. In Fredericks Kleidern steckt jedoch dessen Schwester Beatrix, die dringend Geld braucht, um ihren flüchtigen Geliebten zu unterstützen, nachdem dieser ihren Bruder bei einem Streit erstochen hat. Ihr Diener Plietschmann ist dabei keine Hilfe, flirtet er doch lieber mit Hosemanns Bedienter Charlotte, streunt hungrig in der Stadt herum, statt vor Hosemanns Haus zu warten wie befohlen, und verdingt sich noch bei einem zweiten Herrn (der Beatrix’ Geliebter Felix ist), um endlich an etwas zu essen zu kommen. Als jetzt noch für beide Herren Briefe von der Post abzuholen sind, obwohl Plietschmann nicht lesen kann, die Koffer von zwei Herren im selben Gasthaus untergebracht werden müssen, ohne dass die es gegenseitig merken, und als Gipfel der Verwirrung Beatrix mit Hosemann in einem Zimmer und Felix im anderen gleichzeitig ein Menu serviert bekommen sollen, ohne dass Wirt Schunke das Spiel durchschaut – als all das kulminiert, kommt selbst das ausgekochte Schlitzohr Plietschmann ins Schwitzen. Dass Silvester durch die Straßen zieht und den vermeintlichen Rivalen Frederick Rasperg umlegen will; Clara weiß, dass Beatrix kein Mann ist, aber das nicht verraten darf; dass Charlotte und Plietschmann sich ihre Liebe gestehen und im nächsten Moment in einen üblen Streit geraten; dass Plietschmann, um nicht aufzufliegen, sowohl Felix als auch Beatrix erzählt, dass der jeweils andere tot sei – auch in diesem Durcheinander behält DER DIENER ZWEIER HERREN alle Bälle in der Luft, doch so langsam wird die Luft dünn. Wie es sich für eine Verwechslungskomödie gehört, löst sich am Ende alles in Wohlgefallen auf und alle Liebenden finden zueinander. Wie im richtigen Leben – „das war ironisch!“

(Inhaltsangabe dem Programmheft zu dieser Produktion entnommen.)

Bei offenem Vorhang hat das Publikum bereits vor Vorstellungsbeginn die Möglichkeit, einen Blick auf das Bühnenbild von Monika Frenz zu werfen: Hohe Betonwände mit stilvollen Holzelementen suggerieren Modernität – beinah so, als wäre eine der alten Bremerhavener Fischhallen zum stylischen Loft umgebaut worden. Die unterschiedlichen Schauplätze entstehen durch das Öffnen der Holzelemente und dem Versenken der Betonwände und bieten so dem Regisseur die Möglichkeit, sein Ensemble einer Screwball-Komödie gleich durch die eine Öffnung verschwinden und durch eine andere Öffnung wieder erscheinen zu lassen. Da wirkt die Außenfassade der Gaststätte von Wirt Schunke, die eine frappierende Ähnlichkeit mit dem real existierenden Hafenrestaurant „Treffpunkt Kaiserhafen“, der selbsternannten „letzten Kneipe vor New York“, aufweist, schon beinah wie eine Reminiszenz an die gute alte Zeit (Wann immer diese auch war?!).


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Wenn eine Komödie reibungslos funktionieren soll, bedarf es eines gut eingespielten Ensembles, bei dem niemand sich in den Vordergrund drängt, sondern sich gegenseitig die Pointen zugespielt und gegönnt werden. Frank Auerbach gibt einen schleimigen, speichelleckenden Hosemann, der stets auf seinen Vorteil bedacht ist und sogar seine Tochter meistbietend verhökert. Als sein Gegenüber zeichnet Kay Krause den Doktor Friesdorf als aalglatten Strategen, der gleichzeitig Vater von Silvester und Anwalt von Hosemann in Personalunion ist. Interessenskonflikt: Friesdorf doch nicht, da seine Interessen nur bei ihm selbst liegen.

Hosemanns Tochter Clara wird von Anna Caterina Fadda als moderne junge Frau porträtiert, die erfrischend unprätentiös ihr Leben äußerst patent selbst in die Hand nimmt und ihren Liebsten aufrichtig liebt. Ihr „love interest“ Silvester wird von Alexander Smirzitz als nerdiger Schlacks verkörpert, der so herrlich jammern kann und sich mit seinem vermeintlichen Nebenbuhler Frederick alias Beatrix einen urkomischen Zweikampf liefert, der mit Taekwondo beginnt und in einem Schuhplattler endet. Julia Lindhorst-Apfelthaler in der Doppelrolle Frederick/Beatrix versucht verzweifelt ihre Maskerade aufrecht zu erhalten und verzettelt sich dabei immer mehr in die von ihr provozierten Widersprüche. Apropos „love interest“: Beatrix zu Unrecht verdächtigter Lover Felix kommt in der wohlgeformten Gestalt von Marc Vinzing als selbstverliebter Ken-Verschnitt mit gebleachtem Zahnpasta-Lächeln daher.

Aom Flury kredenzt als Wirt Schunke seinen Gästen so manches, was bereits jenseits der Grenze des Genießbaren scheint, dass ich ihm und seiner Kaschemme von Herzen einen Besuch des Gesundheitsamtes wünsche. Marsha B Zimmermann führt als Charlotte, der Bediensteten im Hause Hosemann, ein strenges Regime, sorgt resolut für Ordnung, zeigt Haltung und bietet so jedem, der sich ihr entgegen stellt, die Stirn: Obrigkeit hin oder her.

Auch wenn es bei einer guten Komödie auf die Ensemble-Leistung ankommt, braucht es doch oft einen Charakter, der die Fäden in der Hand behält und den anderen Figuren Impulse sendet, um sie so zum Agieren zu befähigen. Hier ist es selbstverständlich unser Titelheld: Als Plietschmann, DER DIENER ZWEIER HERREN, hat Henning Z Bäcker alle Hände voll zu tun, seine*n Arbeitgeber*in (scheinbar) zufriedenzustellen, doch dabei die jeweilige Situation möglichst zum eigenen Vorteil zu nutzen. Da wird schwadroniert und geprotzt, mit der holden Weiblichkeit in Form Hosemanns Bediensteter Charlotte geschäkert, mit den (Waden-)Muskeln gespielt und die Wahrheit voller Überzeugung so sehr gedehnt und verzehrt, dass auch wir im Publikum ihm nur Glauben schenken konnten. Bei der fulminanten Menü-Szene hechtet er von dem einem zum nächsten Séparée, immer bedacht von den servierten Köstlichkeiten ausreichend für sich selbst abzuzweigen: Tupperware, wer braucht schon Tupperware, wenn das (letzte) Hemd am Leibe eine Brusttasche besitzt.

Last but not least: Jan-Hendrik Ehlers und seine beiden Musikus-Kollegen Marco Priedöhl und Stephan Werner konnten mir wahrlich leidtun. Kaum waren sie auf der Bühne erschienen, um fröhlich aufzuspielen, da wurden sie von Charlotte auch schon wieder vom Parkett gescheucht, gefegt, gelockt oder sonst wie komplimentiert. Nach dem frenetischen Schlussapplaus standen die auf der Bühne arg verschmähten Musiker im Foyer, um ihrer Kunst zu frönen. Lachend rief ich Jan-Henrik Ehlers zu „Na, da kommt ihr ja doch noch zum Zuge,…!“ „…und endlich dürfen wir bis zum Ende spielen!“ gab er grinsend zurück. Und noch beim Parkhaus waren die schmissigen Melodien, die durch die geöffneten Türen des Theaters nach draußen strömten, zu hören.

Wer ein geeignetes Mittel gegen die Herbst-Depression sucht, der wird im Stadttheater Bremerhaven fündig. Nebenwirkungen: Zerrungen der Gesichtsmuskulatur, Zwerchfell-Verspannung und ganz viel gute Laune! 🤣


Kleine Appetithappen von DER DIENER ZWEIER HERREN gefällig?

Mit Plietschmann alleine im Fahrstuhl…?! Ich bin mir nicht sicher, ob es eine ungetrübte Freude wäre. Was meint ihr,…

…oder vielleicht doch eher einen kleinen Probeneinblick mit Henning Z Bäcker?


Noch bis zum Februar 2025 darf am Stadttheaters Bremerhaven beobachtet werden, wie DER DIENER ZWEIER HERREN seine Gunst verteilt.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2024/2025 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Ouvertüre zu RUSLAN UND LUDMILLA von Michail Glinka sowie Arien, Songs und Musiken von Alan Jay Lerner & Frederick Loewe, Sergei Prokofjew, Wolfgang Amadeus Mozart und Giacomo Puccini

mit Ausschnitten aus DER DIENER ZWEIER HERREN von Carlo Goldoni/ Kay Neumann, TARTÜFF ODER DER GEISTIGE von John von Düffel, WOLF von Saša Stanišić, DIE WELT ZWISCHEN DEN NACHRICHTEN von Judith Kuckart & Ensemble sowie dem Ballett ROMEO UND JULIA von Alfonso Palencia

Premiere: 31. August 2024 / besuchte Vorstellung: 31. August 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
CHOR Edward Mauritius Münch
SZENISCHE EINRICHTUNG Annika Ellen Flindt
MODERATION Lars Tietje, Marc Niemann, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Alfonso Palencia, Markus Tatzig

Musiktheater: Ulrich Burdack, Marcin Hutec, Andrew Irwin, Victoria Kunze, Boshana Milkov, Agnes Selma Weiland (als Gast), Thomas Paul (als Gast)
Ballett: Melissa Festa, Arturo Lamolda Mir
Schauspiel: Frank Auerbach, Henning Z Bäcker, Anna Caterina Fadda, Leon Häder, Angelika Hofstetter, Kay Krause, Julia Lindhorst-Apfelthaler, Alexander Smirzitz, Marc Vinzing, Marsha B Zimmermann, Aom Flury (als Gast)
JUB: Janek Biedermann, Ulrich Fassnacht, Meike Hoßbach, Coco Plümer
Opernchor am Stadttheater Bremerhaven
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


Die Tür der Tiefgarage öffnete sich und schlagartig war die Musik vom nahen Weinfest auf dem Theodor-Heuss-Platz zu hören. Auf dem Theatervorplatz standen einsam die Bühne sowie einige Pavillons und wartete auf ihren Einsatz beim morgigen Theaterfest. Aus den Fenstern des Theater erstrahlte warmes Licht und lockte mich ins Innere. Die neue Spielzeit konnte (durfte endlich) beginnen.

Eröffnet wurde die Gala mit der Ouvertüre zu RUSLAN UND LUDMILLA von Michail Glinka, die das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann energiegeladen vortrug und so die Gala voller Schwung eröffnete. Marc Niemann versprach ein Wiederhören mit diesem musikalischen Werk beim NEUJAHRSKONZERT, das zudem mit einer wunderbaren Besonderheit aufwarten wird. Doch auch unter dem Dirigat von Hartmut Brüsch und Davide Perniceni, die den Taktstock bei den Programmpunkten zu den ihnen anvertrauten Produktionen übernahmen, zeigten die Musiker*innen des Philharmonischen Orchesters ihr Können.

„Never change a winnig team!“: Warum sollte etwas verändert werden, was sich nur allzu gut bewährt hat? Und somit führte abermals Intendant Lars Tietje hauptverantwortlich durch das Programm und bat bei passender Gelegenheit – sozusagen als „Sidekick“ – die jeweilige Sparten-Leitung in den Personen von Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia auf die Bühne.

Im Schauspiel beginnt die Spielzeit mit DER DIENER ZWEIER HERREN, einem Komödien-Klassiker von Carlo Goldoni, der durch Kay Neumann einen Bremerhaven-typischen Touch erhielt. Frank Auerbach, Henning Z Bäcker, Anna Caterina Fadda, Kay Krause, Alexander Smirzitz, Marsha B Zimmermann und Aom Flury zeigten in der dargebotenen Szene, wie viel Esprit in diesem Stück steckt.

Statt einer klassischen Operette gibt es in diesem Jahr ein Musical, das allerdings sehr in der europäischen Musik-Tradition verankert ist und seit der deutschen Erstaufführung zu den beliebtesten Werken seiner Gattung zählt: MY FAIR LADY. Mit sonorem Bass wünschte sich Ulrich Burdack charmant „Bringt mich pünktlich zum Altar“. Andrew Irwin bot bei „Weil ich weiß, in der Straße wohnst du“ mit fein-akzentuierter Stimme und schelmischen Spiel eine der besten Interpretationen dieses Songs, denen ich bisher – sowohl live wie auch auf CD – lauschen durfte. Gäbe es eine bessere Wahl für die Partie der Eliza Doolittle: Bei „Ich hätt’ getanzt heut’ Nacht“ brillierte Victoria Kunze mit ihrem wunderschönen Sopran wieder bis in die höchsten Töne. Flankiert wurden die Sänger*innen durch den bestens disponierten Opernchor, bei dem der neue Chordirektor Edward Mauritius Münch für die Einstudierung verantwortlich zeichnete.

Einer der Höhepunkt der jährlichen Gala ist stets die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. Gerne rätsele ich im Vorfeld mit, wer es werden könnte. In diesem Jahr tat ich es nicht, und so wurde ich von der Entscheidung ebenso überrascht wie die Preisträgerin selbst: Eine sprach- wie fassungslose Julia Lindhorst-Apfelthaler stand – schon mit den Requisiten für die nachfolgende Szene in der Hand – auf der Bühne und wurde für ihre herausragenden darstellerischen Leistungen geehrte. Absolut verdient: HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

Apropos Requisiten: Diese kamen direkt im Anschluss der Preisverleihung zum Einsatz bei einer Szene aus TARTÜFF ODER DER GEISTIGE, eine Wiederaufnahme aus der vergangenen Saison. Gemeinsam mit Marc Vinzing bot Julia Lindhorst-Apfelthaler einen pointierten wie witzigen verbalen Schlagabtausch.

In dieser Saison schenkt uns Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia mit ROMEO UND JULIA wieder ein Handlungsballett. Konnte bis vor wenigen Wochen die wohl bekannteste Liebesgeschichte der Welt noch auf der Sommerbühne als Schauspiel erlebt werden, wird sie nun mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Tanzes erzählt. Melissa Festa und Arturo Lamolda Mir tanzten in der berühmten Balkon-Szene voller Leidenschaft, Ästhetik und Sinnlichkeit zur Musik von Sergei Prokofjew.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Das JUB (Junges Theater Bremerhaven) ist immer für eine Überraschung gut: Diesmal haben sie vom mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis geadelten Kinderbuch WOLF von Saša Stanišić eine eigene Fassung für die Bühne erarbeitet. In der gezeigten Szene mimten Janek Biedermann, Ulrich Fassnacht, Meike Hoßbach und Coco Plümer eine Gruppe Jugendlicher, deren Geduld während einer Waldwanderung zunehmend auf eine harte Probe gestellt wird.

Ich konnte mir ein „Das wird aber auch Zeit!“ nicht verkneifen, als ich erfuhr, dass Marcin Hutek in LE NOZZE DI FIGARO von Wolfgang Amadeus Mozart die Partie des Grafen Almaviva übernehmen wird. Hutek ist schon seit einigen Jahren Mitglied des Musiktheater-Ensembles, doch durfte bisher sein Talent „nur“ (!) in kleineren Rollen zeigen. Ich bin der Meinung, dass da eine große Partie längst überfällig war. Dass er fähig ist, diese mit seinem warmen Bariton zu gestalten, zeigte er mit dem Rezitativ „Hai già vinta la causa!“ und der anschließenden Arie „Vedrò, mentr’io sospiro“. Boshana Milkov überzeugte abermals mit ihrem tragfähigen, schön fließenden Mezzo in der Arie des Cherubino „Non so più“. Und auch bei diesem Medley würzte der Opernchor mit „Giovani liete fiori spargete“ die Szenerie mit seinem Gesang.

Die kommende Spielzeit hält etwas Besonderes bereit: Erstmals gibt es mit DIE WELT ZWISCHEN DEN NACHRICHTEN eine Kooperation des Stadttheaters Bremerhaven mit der bremer shakespeare company, wo das Stück abwechselnd auf dem Spielplan stehen wird. Eine „Night Radio Show“ bildet den Rahmen für Shakespeares Sonette und somit für die Geschichten der Menschen, die beim Moderator anrufen und aus ihrem Leben erzählen. Leon Häder und Angelika Hofstätter machten mit ihrem Auftritt neugierig auf diese ungewöhnliche Inszenierung.

Im Musiktheater wird die Saison mit TURANDOT von Giacomo Puccini eröffnet: In der Partie der Titelfigur machte Agnes Selma Weiland mit hochdramatischen Sopran mit der Arie „In questa reggia“ nachdrücklich auf sich aufmerksam. Mit der Tenor-Arie des Opern-Repertoires „Nessun dorma“ empfahl sich Thomas Paul sehr effektvoll für die Rolle des Calàf. Bei der emotionalen Arie „Diecimile anni al nostro Imperatore“ stand Agnes Selma Weiland der Opernchor an Dramatik in nichts nach.

Mit einem frenetischen Applaus, Standing Ovation, Bravo-Rufe und Begeisterungs-Pfiffe wurden nicht nur die Künstlerinnen und Künstler verabschiedet – vielmehr galt der Dank ebenso den vielen Menschen vor, hinter, neben und über der Bühne. Denn nur in der Gemeinschaft eines Teams ist es möglich, den Theaterzauber immer wieder erneut aufleben zu lassen. 💖


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2024/2025 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Musical] John Du Prez & Eric Idle – SPAMELOT / Stadttheater Bremerhaven

Musik von John Du Prez & Eric Idle / Buch und Liedtexte von Eric Idle / Ein neues Musical, entstanden durch liebevolles Fleddern des Monty Python Films Die Ritter der Kokosnuss nach dem Originalbuch von Graham Chapman, John Cleese, Terry Gilliam, Eric Idle, Terry Jones, Michael Palin / Deutsch von Daniel Große Boymann

Premiere: 22. Oktober 2023 / besuchte Vorstellung: 26. November 2023 & 13. April 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Achim Lenz
MUSIKALISCHE LEITUNG Tonio Shiga
BÜHNE & KOSTÜME Bernhard Niechotz
CHOREOGRAFIE Yara Hassan
CHOR Mario Orlando El Fakih Hernández
DRAMATURGIE Peter Hilton Fliegel
REGIEASSISTENZ Justine Wiechmann, Jens Bache
GESANGSCOACHING Gabriele Brüsch
VIDEOANIMATION Steffen Focken
INSPIZIENZ Regina Wittmar
SOUFFLAGE Birgit Ermers
THEATERPÄDAGOGIK Florian von Zameck-Glyscinski
LEITUNG DER STATISTERIE Sabrina Eggerichs


Es war kurz vor Beginn der Vorstellung: Meine Begleitung beugte sich zu mir rüber und flüsterte mir leise ins Ohr „Andreas, ich habe immer noch nicht so ganz verstanden, worum es hier eigentlich geht…!“ Ich schaute ihn schmunzelt an und meinte „Oberste Devise: Nichts ernst nehmen, und keinen tieferen Sinn suchen!“ Dann umriss ich kurz die „Handlung“ (!) dieses Musicals…

Britannien an einem Dienstag im Mittelalter: Als ob König Artus nicht schon genügend andere Sorgen mit miesem Wetter, frechen Franzosen und ständig neuen Seuchen hätte, bekommt er jetzt auch noch von ganz Oben den Auftrag, den Heiligen Gral zu finden. Die von ihm mühsam rekrutierten Ritter seiner Tafelrunde namens Sir Lancelot, Sir Galahad, Sir Robin und Sir Bedevere sind von diesem Projekt nicht sonderlich angetan, einzig Artus treuer Knappe Patsy hält unumstößlich zu ihm. Hilfe erhalten die tapferen Recken durch die zauberhafte Fee aus dem See, die mal mehr mal weniger unvermittelt auftaucht, um dann wieder von der Bildfläche zu verschwindet. Die kleine Ritterschar stolpert in eine Reihe skurriler Abenteuer, bei denen sie mit allerlei Tricks wie einem „Trojanischen“ Hasen oder der heiligen Handgranate versuchen, ihre Gegner zu überrumpeln. Auf dem Weg zum erhofften Ziel begegnen sie dem schwarzen Ritter, einem grausamen und blutrünstigen Kaninchen sowie dem verzweifelten Prinzen Herbert – dem sich Ritter Lancelot gerne annimmt, und in dessen Befreiungsaktion er sich als leidenschaftlicher Tänzer entpuppt. Gott treibt sie bei ihrer Gralssuche immer weiter und weiter in so manche aberwitzige Situationen. So singen und tanzen sich die Ritter der Tafelrunde von der einen zur nächsten schwungvollen Musicalszene bis zum krönenden Happy End, in dem sich König Artus und die Fee aus dem See endlich voller Liebe und Leidenschaft in die Arme fallen dürfen.

Es gibt Komödianten, die haben einen so großen Eindruck hinterlassen, dass sie mit ihrer Kunst im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben. Da wird eine Textpassage zu einem geflügelten Zitat, und eine Bemerkung, die in einem speziellen Tonfall geäußert wurde, löst Heiterkeit aus. Die britische Komikergruppe Monty Python wurde durch ihren unvergleichlich schrägen Witz, der Fernsehserie „Monty Python’s Flying Circus“ und ihre Filme „Das Leben des Brian“ und „Der Sinn des Lebens“ weltberühmt. Im Jahre 2004 nahmen sich u.a. Mitglieder der Originaltruppe den Film „Die Ritter der Kokosnuss“ zur Brust und schmiedeten daraus eine freche Musical-Parodie mit skurrilen Typen, einer eingängigen Musik und einer Menge tiefschwarzem Humor.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Nun wird auch in Bremerhaven nach dem heiligen Gral gesucht: Regisseur Achim Lenz scheint sich bei der Umsetzung des Stoffes genau an meiner oben genannten Devise gehalten zu haben. Er präsentiert einen respektlosen und überdrehten Spaß mit einer Vielzahl an witzigen Details. Dabei setzt er auf Tempo und lässt die Szenen flott vor den Augen der Zuschauer*innen abspielen. Zeit zum Luftholen bleibt weder für das Publikum noch für das Ensemble: Während das Publikum noch über den einen Gag lacht, wird es schon dem nächsten Kalauer erbarmungslos ausgesetzt. Dafür werfen sich sowohl die Schauspieler*innen wie auch die Mitglieder des Opernchores (gefühlt) im Sekundentakt in ein neues Kostüm, um nur einen Wimpernschlag später in einer neuen Rolle wieder auf der Bühne zu erscheinen. Lenz gelingt es sogar, den sonst etwas langatmigen zweiten Akt auf Tempo zu bringen. Zudem setzt er wohldosiert auf Lokalkolorit und erfreut damit Einheimische wie ortkundige Besucher: Da „leiht“ sich Gott die Stimme vom bekannten Radio Bremen-Moderator Dirk Böhling, der (natürlich) launig plattdeutsch spricht. Die Fee aus dem See scheint zeitweise örtlich gering orientiert, da sie uns, dem Publikum in Cuxhaven, Bremen oder dann doch Bremerhaven (Sie weiß es eben nicht so genau!) herzlich für den Applaus dankt. Oder Sir Lancelot bewundert im Gemach von Prinz Herbert die schicken Gardinen am Fenster, die dieser als Schnäppchen im nahgelegenen Outlet-Shopping-Center erstanden hat.

Da in diesem Jahr das „große“ Musical bei der Schauspiel-Sparte zu finden ist, waren somit alle Hauptrollen wohlweislich aus dem Schauspiel-Ensemble besetzt. Da gab es zwar hin und wieder geringe Einbußen beim Gesang, dafür saß aber jede Pointe auf dem Punkt! Kay Krause mimte mit kindlicher Naivität den edlen König Artus als selbstverliebten und sich selbstüberschätzenden Gockel. Ihm zur Seite stand in der Rolle des treuen Knappen Patsy (als Einspringer für die erkrankte Kollegin) Henning Kallweit, der diese Rolle mit Bodenhaftung versah und dafür sorgte, dass sein Chef vor lauter Höhenflüge keine Schnappatmung bekam.

Henning Becker mutierte vom tumben Landjunker zum charismatischen Ritter Galahad und zeigte beängstigende kinski-eske Attitüden. Frank Auerbach erntete als lüsterne Mrs Galahad schon die ersten Lacher und gab einen rauen, doch herzensguten Sir Bedevere. Marc Vinzing tobte sich als Sir Robin – umringt von Chor und Ballett – in der großen Broadway-Show-Nummer aus. Richard Feist entdeckte als eitler Sir Lancelot (für ihn anfangs entzückend verwirrend) seine homoerotischen Gefühle, als er statt einer jungfräulichen Maid einem strammen Jungen zur Hilfe eilt. Justus Henke zeigt mit seinem jugendlichen Charme die naiv-romantische Seite von Prinz Herbert.

In dieser illustren Männerrunde voller Testosteron und Virilität fehlte allerdings dringend das besondere Etwas, das Tüpfelchen auf dem I, die Kirsche auf der Torte, das letzte Fünkchen zum Glück: Julia Lindhorst-Apfelthaler beherrschte als Fee aus dem See die großen Gesten ebenso wie die zarten Gefühle. Sie brillierte in den Songs mit starker Stimme und zeigte den Kerlen, dass es in diesem Musical nur die eine, einzige und wahre Diva geben konnte.

Umschwärmt wird diese Truppe an „Schmierenkomödianten“ von einem schier ausgelassenen Opernchor: Da treten sie in „bester“ (!) Opernchor-Manier stocksteif auf die Bühne, um völlig emotionslos, dafür äußerst stimmstark ihre Choräle zu trällern. Dann schlüpften sie voller Elan und mit überschäumender Freude am Klamauk in die div. Nebenrollen. Bravo!

Das nächste begeisternde „Bravo!“ entfleuchte mir, als das Ballett erstmals die Bühne betrat. Im Vorfeld fand in Bremerhaven ein Casting statt: Gesucht wurden talentierte und tanzbegeisterte Mädchen und junge Frauen, die als Cheerleaderinnen und Wassernymphen die Szenerie bereichern sollten. Choreografin Yara Hassan wählte dafür sinnlich gerundete Damen aus, die in ihrer pfiffigen Choreografie nachdrücklich den Beweis antraten, dass Ästhetik, Erotik und Esprit nicht nur abgemagerten Hupfdohlen vorbehalten sind. Zudem sorgte Hassan dafür, dass der Opernchor flott die Beine schwingend über die Bühne tobte, und selbst die holden Ritter konnte sie zu einem Tänzchen animieren.

Ausstatter Bernhard Niechotz stellte ein Bilderbuch-Britannien auf die Bühne: Stimmungsvolle Hintergrundprojektionen sorgten für einen märchenhaften Touch und amüsierten mit animierten Details. Die Kulissen waren bewusst sehr plakativ zweidimensional gestaltet, und auch die so genannten „Special Effects“ wirkten gewollt dilettantisch, verfehlten aber nicht ihre Wirkung beim Publikum. Kreativ austoben durfte sich Niechotz auch bei den vielen Kostümen, die stilistisch die enorme Bandbreite vom einfachen Knappen bis zur großen Diva abdeckten.

„Alles, was bei 3 nicht auf dem Baum ist, wird hier gnadenlos verhohnepiepelt!“ So bricht dieses Musical gewollt mit jeglicher Theatertradition und reißt sogar die imaginäre 4. Wand ein. Da richteten die Bühnenfiguren das Wort direkt ans Publikum, diskutieren lauthals mit dem Dirigenten, suchten und fanden am Schluss den heiligen Gral unter dem Sitz eines Zuschauers in der 1. Reihe, der dann auf die Bühne komplementiert wurde, um die Huldigungen aller Ritter der Tafelrunde zu empfangen (Puh, Glück gehabt: Wir saßen in der 2. Reihe!).

Apropos Dirigent: Bei diesem Musical muss die musikalische Leitung nicht „nur“ dirigieren. Oh nein, hier ist er Mit-Akteur, Stichwortgeber und Gag-Lieferant. Zudem heizte Tonio Shiga den Musiker*innen des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven ordentlich ein und sorgte dafür, dass die Melodien mit Schmackes aus dem Graben kamen.

Die Musik von John Du Prez und Eric Idle ist durchaus gefällig, bietet aber wenig Wiedererkennung. Doch vielleicht ist dies auch bewusst so gewählt, um die Wirkung eines bestimmten Songs nicht zu schmälern. Beim abschließenden „Always Look on the Bright Side of Life“ hielt es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen: Sehr laut und schön schräg trällerte wir diesen Ohrwurm mit!

Täusche ich mich, oder hat das Stadttheater Bremerhaven einen neuen Publikumsmagneten im Programm?


Lust auf die wirklich echten und ungeschönten Hintergrund-Informationen (im wahrsten Sinne des Wortes)? Dann möchte ich Euch gerne den Bericht Organisiertes Chaos – Ein Blick aus der Seitenbühne auf „Spamalot“ von Björn Gerken auf LOGBUCH BREMERHAVEN ans Herz legen.


Sich ohne Sinn um den Verstand lachen, gerne unter der selbst gesetzten Grenze des persönlichen Niveaus? Mit SPAMELOT am Stadttheater Bremerhaven ist dies absolut kein Problem…!!!

[Lustspiel] Heinrich von Kleist – DER ZERBROCHNE KRUG / Stadttheater Bremerhaven

Lustspiel von Heinrich von Kleist

Premiere: 9. September 2023 / besuchte Vorstellung: 17. September 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Thomas Oliver Niehaus
BÜHNE & KOSTÜME Kathrin Kemp
MUSIK Patrick Schimanski
DRAMATURGIE Elisabeth Kerschbaumer
REGIEASSISTENZ Jens Bache
INSPIZIENZ Mahina Gallinger
SOUFFLAGE Birgit Ermers
THEATERPÄDAGOGIK Schirin Badafaras
AUSSTATTUNGSHOSPITANZ Hannah Berki, Jana Rabofsky


Es war Saison-Auftakt am Stadttheater Bremerhaven mit dem Komödien-Klassiker DER ZERBROCHNE KRUG und gleichzeitig die erste Abo-Vorstellung für mich: Ich betrat also den Zuschauersaal, setzte mich auf meine gewohnten Plätze in der 2. Reihe und blickte auf fünf Kunsttannen, die üppig am Bühnenrand positioniert waren. Spontan lachte ich auf, da ich an das kleinliche Gemecker einiger Zuschauer*innen dachte, denen in der vergangenen Spielzeit in der sensationellen Inszenierung von DER FREISCHÜTZ der Wald fehlte. „Das habt ihr nun davon“, dachte ich voller Schadenfreude „Da habt ihr euren Wald!“. Doch dann blickte ich abermals auf die Bühne und langsam bahnte sich ein Gedanke seinen Weg in mein Gehirn. Meine schnöde Schadenfreude wich einer ernüchternden Erkenntnis, dass nicht nur die Meckerer im Wald stehen, auch mir würde eine freie Sicht auf die Bühne verwehrt bleiben.

Gerichtsschreiber Licht überrascht Richter Adam morgens beim Verbinden frischer Wunden. Adam erklärt, beim Aufstehen gestrauchelt und gegen den Ofen gefallen zu sein. Da lässt sich Gerichtsrat Walter melden. Er ist aus Utrecht entsandt, um Gerichtskassen und Akten zu prüfen. Adam gerät in Panik, zumal seine richterliche Perücke verschwunden und kein Ersatz zur Hand ist. Obendrein ist auch noch Gerichtstag, und Klägerin, Beklagter und Zeugen warten schon vor der Tür. Der Richter ahnt, weshalb sie gekommen sind, und dass er als Richter nun gezwungen sein wird, über eine Tat zu richten, die er selbst begangen hat. Entsprechend tut er alles, was in seiner Macht steht, um die Aufklärung des Falls, bei dem außer einem Krug auch ein Verlöbnis entzweiging, zu verhindern. Schlangengleich dreht und windet er sich, um den Verdacht auf andere zu lenken. Doch Gerichtsrat Walter und Schreiber Licht lassen sich davon nicht blenden, da beide, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, an der Aufklärung des Falls interessiert sind. Schwitzend vor Angst wird Richter Adam in die Enge getrieben. Schritt für Schritt enthüllt sich während der Verhandlung folgender Tatbestand: Der Unbekannte, der am Vorabend des Gerichtstags hastig durch das Schlafkammerfenster von Eve Rull entwich und dabei den Krug, der ihrer Mutter Marthe lieb und teuer ist, vom Sims stieß, war er, Richter Adam selbst. Es war nicht der Beklagte, Eves Verlobter Ruprecht, der mit seinem Vater Veit Tümpel erschienen ist. Dessen vermeintlicher Nebenbuhler Lebrecht kann es ebenfalls nicht gewesen sein, da dieser sich zu dem Zeitpunkt nicht im Dorf aufhielt. Alle Indizien sprechen gegen Richter Adam: Die beiden Kopfwunden, die Adam davontrug, als Ruprecht dem unerkannt Flüchtenden zweimal die Türklinke über den Kopf hieb; Adams Klumpfuß, der die Spur vom Tatort quer durchs Dorf zu seiner Wohnung erklärt; und die fehlende Richterperücke, die die Zeugin Frau Brigitte am Weinspalier hängend unter Eves Kammerfenster entdeckt hatte. Nun rät Walter dem Richter, abzutreten, da die Würde des Gerichts auf dem Spiel stehe. Aber dieser will nicht hören und fällt sein Urteil: Ruprecht soll wegen Ungebühr der Hals ins Eisen gelegt werden. Ruprecht bäumt sich so stark gegen diese Ungerechtigkeit auf, dass Richter Adam ängstlich aus seinem Haus flüchtet. Nun wo der Schändliche nicht mehr gegenwärtig, ist Eve bereit, die volle Wahrheit zu sagen: Adam hat Eve vorgelogen, ihrem Verlobten drohe der Militärdienst in Ostindien, und nur er, der Dorfrichter könne dies verhindern, wenn Eve eine Gegenleistung erbringt. Zum Äußersten ist es, auch dank Ruprechts Eingreifen, vermutlich nicht gekommen, obwohl Eve noch zum Zeitpunkt ihrer Beschuldigung Adams befürchtet, der Erpresser besitze Macht, ihr den Verlobten zu entreißen. Deshalb hat sie lange über das geschwiegen, was wirklich in ihrer Schlafkammer geschehen ist.

30 weiße Gartenstühle aus „Plaste“ nebst div. Tische und einiger Hocker aus eben diesem Material verteilten sich scheinbar wahllos gestapelt und zusammengestellt auf der Bühne. Zusammen mit einem großen Lamellenvorhang, der den Bühnenraum unterteilt, versprühte diese Ausstattung ein steriles Schlachthof-Ambiente. Zwangsläufig stellte sich mir bei diesem Anblick die Frage, wer hier von den Charakteren wohl zur Schlachtbank geführt wird. Richter Adam als Ober-Schlachter versucht gleich mehrere Unschuldige zu opfern, nur um von sich abzulenken, und wird am Ende dann doch selbst filetiert. Auch die weißen Kostüme können als Sinnbild für die Reinheit der beteiligten Personen gesehen werden. Selbst Richter Adam erscheint anfangs ganz in weiß gekleidet, wobei sein schlampiges Outfit bestehend aus Unterhemd und langer Unterhose schon auf seinen wahren Charakter schließen lässt. So agiert er in dieser Unschuldsherde als Wolf im Schafspelz, der dieses nach seiner Enthüllung abstreift und plötzlich in schwarz gewandet erscheint. Auch sonst bemüht Ausstatterin Kathrin Kemp gerne die Symbolik. So schwebt ein großer, fauler Apfel einem Mond gleich über dem Geschehen, und auch Eve darf gerne mal in einen Apfel beißen, sozusagen – Nomen est Omen – als personifizierte Verführung durch das ewig Weibliche. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den Kühlschrank, der in einem früheren Leben anscheinend eine Jukebox war. Beim Öffnen der Tür erklangen flotte Party-Rhythmen: ein netter Gag – mehr aber auch nicht.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Für’s Auge bot dieser „Krug“ somit eher weniger (Da half auch nicht der „Wald“, der sich übrigens nach der Eröffnungsszene in den Orchestergraben absenkte.). Er hat solchen „Schnickschnack“ aber auch nicht nötig, da der Text mit seinen Dialogen brillant ist, und die Personen fein gezeichnet sind.

Glücklicherweise konnte Regisseur Thomas Oliver Niehaus über ein famoses Schauspielensemble am Stadttheater Bremerhaven verfügen. Wenn Frank Auerbach als Dorfrichter Adam protzt und duckmäusert, droht und säuselt, kriecht und schleimt, dann ist dies voller Komik. Er zeigt in seinen Versuchen des Vertuschens eine solche Verzweiflung, dass ich durchaus Mitgefühl für ihn empfand, und er so – trotz seiner ganzen Verderbtheit – ein absoluter Sympathie-Träger war. Eingekesselt wird Adam gleich von zwei Seiten durch moralische Instanzen: Henning Bäcker gibt den Gerichtsschreiber Licht als Mann mit Ambitionen und Prinzipien. Wohltuend unterlässt er ein übertriebenes Anbiedern und verhindert so, dass die Figur Sympathien einbüßt. Ambitionen und Prinzipien finden sind auch in der Person des Gerichtsrads Walter, wenn auch seine Beweggründe von denen des Gerichtsschreibers abweichen: Richard Feist verkörpert ihn als aufstrebende Führungskraft mit Geltungsbedarf und Hang zur Ordnung, dem der gute Ruf der Justiz über alles geht.

Wind von vorn gab es für Adam durch die Marthe Rull von Marsha Zimmermann, die schon rein optisch die Rolle vom allzu mütterlichen Gebaren befreite. Vielmehr porträtierte sie Marthe als eine gestandene und selbstbewusste Frau, die mit einer angeborenen Autorität die versammelten Männer in ihre Schranken weist. Isabel Zeumer wußte auch in der kleinen Rolle der Frau Brigitte zu gefallen, was ebenso auf Kay Krause als Veit Tümpel zutraf. Beide Rollen können als feine Farbschattierungen innerhalb eines Kunstwerkes betrachtet werden.

Herausragend sind auch die beiden jungen Neuzugänge im Schauspielensemble: Justus Henke spielt den Ruprecht Tümpel mit einer beinah tölpelhaften Naivität. Doch hinter der scheinbaren Schlichtheit versteckt sich ein aufrechter Geist mit einem Ur-Instinkt für Ehre und Gerechtigkeit. Hoch emotional agiert Anna Caterina Fadda als Eve. Ihre Verzweiflung drückt sie weniger durch Worte als vielmehr durch (Körper-)Haltung, Mimik und Blicke voller Emotionen aus und lässt ihr Leid in so mancher still vergossenen Träne gipfeln.

Für ein Lustspiel durchaus unüblich, wendete Kleist in den Dialogen die Vers-Form an und erhöhte dadurch seinen Anspruch an eine Komödie. Um dieser Vers-Form gerecht zu werden, stellte er die natürliche Wortfolge um. Dieser Umstand könnte allein schon beim Lesen für Schwierigkeiten sorgen. Wie tückisch wäre da erst das gesprochene Wort? Doch in Bremerhaven stehen Könner*innen auf der Bühne, die die Verse fein akzentuierten, wohldurchdacht Pausen setzten und so die Schönheit der Kleist’schen Sprache zum Erblühen brachten.

Kaum zu glauben, dass dieser Komödien-Klassiker aufgrund einer Wette entstand, die Kleist während eines Aufenthalts in der Schweiz mit seinen Freunden Ludwig Wieland und Heinrich Zschokke am Laufen hatte. Heinrich Zschokke berichtete über diesen Dichterwettstreit:

„In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich „La cruche cassée“. In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe einer Satire, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden,…

…Kleists zerbrochner Krug hat den Preis davon getragen.“


Hier findet Ihr die Termine zu weiteren Aufführungen von Kleists DER ZERBROCHNE KRUG am Stadttheaters Bremerhaven.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2022/2023 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen sowie Arien und Musiken von Bedrich Smetana, Gioachino Rossini, Wolfgang Amadeus Mozart, Antonio Vivaldi, Carl Maria von Weber, Giacomo Puccini, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky und Carl Millöcker

mit Ausschnitten aus „Viel Lärm um Nichts“ von William Shakespeare, „Outfit of the day“ von Inda Buschmann & JUB-Ensemble und den Balletten „Black Angels“ und „Dornröschen“ von Alfonso Palencia

Premiere: 3. September 2022 / besuchte Vorstellung: 3. September 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig, Alfonso Palencia
Szenische Einrichtung: Annika Ellen Osenberg

Musiktheater: Ulrich Burdack, Signe Heiberg, Andrew Irwin, Konstantinos Klironomos,
Victoria Kunze, Boshana Milkov
Ballett: Renan Carvalho, Melissa Festa, Stefano Neri, Ting-Yu Tsai,
Schauspiel: Henning Bäcker, Marsha Zimmermann
JUB: Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer, Severine Schabon
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


2½ Monate musste ich schmerzlich darben! 2½ Monate musste ich auf Theater verzichten! Okay, okay, es ist „Leiden auf hohem Niveau!“: Schließlich hatten wir im letzten Jahr eine ganz andere Durststrecke zu bewältigen. Doch was ich mit diesen Worten zum Ausdruck bringen möchte, ist schlicht und ergreifend meine Freude, wieder ins Theater gehen zu dürfen.

Ja, ich darf, und es ist wahrlich nicht selbstverständlich!

Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann eröffnete die Gala mit der Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen und verwies so gekonnt auf das Motto natürlich der diesjährigen Konzert-Saison.

Nach einer äußerst gelungenen Einstands-Saison kann Intendant Lars Tietje nun deutlich entspannter dieser Spielzeit entgegen blicken. In seiner Begrüßung brachte er seiner Freude zum Ausdruck, den Zuschauersaal – nach 2 Jahren der reduzierten Platzauslastung – wieder so üppig mit Publikum gefüllt zu sehen. Dabei gestaltete er launig seine Moderationen und ließ bei div. Programmpunkten auch Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia als jeweilige Sparten-Leitung zu Wort kommen.

Henning Bäcker und Marsha Zimmermann boten mit einem Ausschnitt aus William Shakespeares Viel Lärm um Nichts ein komödiantisches Schmankerl: Hier zanken sich die Geschlechter unterhaltsam mit so viel Wortwitz und Intelligenz, dass diese Szene meine Vorfreude auf die komplette Inszenierung schürte.

Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer und Severine Schabon vom JUB (Junges Theater Bremerhaven) präsentierten frech und amüsant eine Szene aus dem Stück Outfit of the day, das das Ensemble gemeinsam mit der Regisseurin Inda Buschmann entwickelt hatte, und zeigten damit nachdrücklich, dass in Bremerhaven modernes Kinder- und Jugend-Theater gemacht wird.

Ballettdirektor Alfonso Palencia gab gleich in zwei Programmpunkten einen Eindruck seines Choreografie-Stils: Bei „Black Angels“ vertanzten Renan Carvalho und Melissa Festa gekonnt athletisch die Musik aus Vivaldis „The Four Seasons“. Doch besonders der Ausschnitt aus dem Ballett Dornröschen mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky zeigte noch deutlicher die Handschrift des Chefchoreografen: Ting-Yu Tsai und Stefano Neri boten eine sinnlich-anmutige und doch auch dynamische Performance. Dieser verführerische Ausschnitte machte Lust auf ein Mehr.

Auch diesmal teilte sich Marc Niemann die musikalischen Programmpunkte mit seinen Kollegen Davide Perniceni und Hartmut Brüsch, die das Orchester und die Solisten ebenso überzeugend durch die Arien leiteten. Wie in jedem Jahr trauere ich einigen Künstler*innen nach, die Bremerhaven leider verlassen haben. Doch gleichzeitig bin ich äußerst neugierig auf die neuen Sänger*innen und kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Dabei ist das Bremerhavener Publikum durchaus zugeneigt, Vorschusslorbeeren in Form eines überschäumenden Applauses verteilen wir nicht. So wurden die „Neuen“ bei ihrem ersten Erscheinen auf der Bühne mit einem durchaus wohlwollenden aber nicht euphorischen Applaus bedacht. Boshana Milkov überzeugte mit ihrem vollen, warmen Mezzo in der Arie „Cruda sorte“ aus Rossinis „L’Italiana in Algeri“ und erhielt ihren verdienten Applaus. Tenor Konstantinos Klironomos betrat beinah respektvoll die Bühne: Nach der grandios gesungenen Arie „Recondita Armonia“ aus „Tosca“ von Giacomo Puccini, die mit einem euphorischen Applaus belohnt wurde, war ihm die Erleichterung sichtlich anzumerken.

Eröffnungsgala Stadttheater Bremerhaven 2022-23 - Foto Otto Oberstech

Doch auch das Wiedersehen bzw. –hören mit den „alten“ Häsinnen/Hasen aus dem Musiktheater bereitete mir wieder eine große Freude: Bass Ulrich Burdack bewies mit der Arie „Jeder, der verliebt“ aus der Oper „Die verkaufte Braut“ von Bedrich Smetana erneut, dass in einem stattlichen Körper eine flexible und trotz der Tiefe auch leicht anmutende Stimme stecken kann. Signe Heiberg rief mit ihrer sinnlichen wie kraftvollen Interpretation von „Si, mi chiamano Mimì“ aus Puccinis „La Bohème“ Erinnerungen in mir wach: Anfang der 90er Jahre war „La Bohème“ die erste Oper, die ich auf einer Bühne sehen durfte – natürlich hier in „meinem“ Stadttheater Bremerhaven. Andrew Irwin gestaltete mit Witz und Spielfreude „Schau der Herr mich an als König“ aus Webers Der Freischütz und schäkerte dabei verschmitzt mit den Damen vom Opernchor.

Apropos Opernchor: In meinen Berichten über Aufführungen am Stadttheater Bremerhaven fällt gerne eine Formulierung wie „…der von mir hin und wieder gescholtene Opernchor“. Das muss nun aufhören! Diese kleine verbale Spitze ist noch meinem Eindruck aus einer Zeit geschuldet, als ich den Opernchor am Stadttheater kennenlernte. Damals gewann ich den Eindruck, die Damen und Herren wären ausschließlich zum Singen auf der Bühne, und schauspielern, tanzen, sich allgemein auf der Bühne bewegen, dies alles stand wohl nicht in ihrer Stellenbeschreibung. Besonders prägend war da für mich eine Aufführung der Oper „Nabucco“ mit dem berühmten Gefangenenchor: Der Chor stand auf der Bühne, erhob die Stimme(n), und der Klang war großartig. Doch dummerweise hatte der Regisseur die Idee, dass die Sänger*innen nach und nach vortreten sollten, um auf der Vorderbühne aus einzelnen Fetzen eine Flagge zusammenzusetzen. In dem Moment, als Bewegung in den Chor kam, brach der Klang kläglich zusammen. Doch in der Zwischenzeit fand im Opernchor am Stadttheater Bremerhaven ein Wechsel statt: Ob es nun ein Generationswechsel, ein Paradigmenwechsel oder welcher Wechsle es auch immer war? Egal! Heute zeigt der Chor sich sehr flexibel und spielfreudig, und einzelne Mitglieder brillieren sogar in Nebenrollen. Und auch ihre Auftritte bei dieser Eröffnungsgala waren absolut charmant und amüsant. Darum: Ich gelobe hiermit feierlich, meine Stichelei zukünftig zu unterlassen!

Auch in diesem Jahr war der Höhepunkt der Gala die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr fiel das Urteil der Jury auf die Sopranistin Victoria Kunze, die sichtlich ahnungslos mit dieser Würdigung überrascht wurde. Für mich war es immer eine Freude, diese Künstlerin auf der Bühne erleben zu können, da sie eine enorme Spielfreude mit sängerischem Können und komödiantischem Talent paart. Den Beweis erbrachte sie mit der Arie „Zeffiretti lusinghieri“ aus „Idomeneo“ vom Groß-Meister Wolfgang Amadeus Mozart.

Nach der Rausschmeißer-Nummer „Trink nur zu“ aus Carl Millöckers Operette „Der Bettelstudent“, bei der sich die Gesangssolisten nebst Opernchor auf der Bühne versammelten, entließen wir alle beteiligten Künstler*innen erst nach Standing Ovation incl. einem frenetischen Applaus. Meine Hände sind noch heute taub…!


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2022/2023 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Musical] Alan Menken – DER KLEINE HORRORLADEN / Stadttheater Bremerhaven

Musik von Alan Menken / Buch und Gesangstexte von Howard Ashman / nach dem Film von Roger Corman und dem Drehbuch von Charles Griffith / Deutsch von Michael Kunze / in einer Textfassung von Peter Hilton Fliegel und Jörg Steinberg

Premiere: 25. Februar 2022/ besuchte Vorstellung: 22. April 2022

Stadttheater Bremerhaven/ Großes Haus


Musikalische Leitung: Jan-Hendrik Ehlers
Inszenierung: Jörg Steinberg
Bühne: Fred Pommerehn
Kostüme: Susanne Füller
Choreografie: Andrea Danae Kingston

Eine Inszenierung wurde zum Kult: Als sich am 23. Januar 1993 der Vorhang zum ersten Mal für „Der kleine Horrorladen“ im Stadttheater Bremerhaven hob, konnte wohl niemand ahnen, dass dieses Musical ein Publikumsmagnet über zwei Spielzeiten sein und dem Theater ständig ausverkaufte Vorstellungen bescheren würde. In der Regie von Manfred Repp tobten damals Dirk Böhling als Seymour, Harriet Kracht als Audrey sowie die Musical-Ladies Angela Lachnit (auch Choreografie), Bettina Meske und Lynne Williams als Gossen-Supremes über die Bühne. Puppenspieler Friedo Stuck erweckte Audrey II zum Leben, der Jazz-Sänger Emo Phillips seine soulige Stimme lieh. Kay Krause (nach wie vor im Ensemble des Hauses) demonstrierte seine Wandelbarkeit in div. Nebenrollen, und der noch junge und unbekannte Christoph Maria Herbst zeigte als Orin, das schon damals eine Menge Comedy in ihm steckte. Insgesamt 6 Mal pilgerte ich nach Bremerhaven, und es war immer wieder ein Fest…!

Mushniks Blumenladen in der heruntergekommenen Skid-Row läuft schlecht – kaum Kundschaft und dazu noch unfähiges Personal. Handlanger Semour sorgt mit seiner Tapsigkeit für eine Schneise der Verwüstung, und Verkäuferin Audrey versucht erfolglos ihre Blessuren zu verdecken, die ihr ihr sadistischer Zahnarzt-Freund Orin Scivello zufügt. Als dann die drei Straßen-Gören Crystal, Chiffon und Ronette penetrant vor dem Laden herumlungern und auch noch die letzten Kunden verscheuchen, sieht Mr. Mushnik sich gezwungen, den Laden zu schließen. Auf Drängen von Audrey zeigt Seymour ihm eine seltsame Pflanze, die er vor einiger Zeit auf dem Blumengroßmarkt einem alten Chinesen abgekauft hat. Dieses Gewächs wirkt so bizarr abartig, dass Mushnik nicht glaubt, dass sie irgendjemanden in den Laden locken könnte. Doch kaum steht die Pflanze, die Seymor aus Verehrung zu seiner Kollegin „Audrey II“ genannt hat, im Schaufenster, klingelt die Ladenglocke unaufhörlich, und Aufträge über Aufträge trudeln ein. Dummerweise benötigt Audrey II zum Wachsen und Gedeihen einen ganz besonderen Dünger: Blut! Seymour fühlt sich darum nicht nur seit Tagen etwas schwindelig sondern auch reichlich blutleer. Doch je mehr die Pflanze wächst, umso größer wird sein Hunger, bis ihr die paar kläglichen Tropfen aus den Fingern ihres Pflegers nicht mehr genügen. Sie will mehr, viel mehr! Seymour, dem einerseits der Erfolg zu Kopf gestiegen ist und andererseits das Leiden seiner angebeteten Audrey durch den brutalen Orin nicht länger ertragen kann, lässt sich durch die Schmeicheleien der Pflanze zu einer Gräueltat animieren. Nachdem Orin aufgrund eines Defekts seiner Lachgasmaske jämmerlich erstickt ist, zerteilt Seymour ihn in mundgerechte Häppchen für sein unersättliches Gewächs. Doch der Appetit von Audrey II wird dadurch nur kurzfristig gestillt: Sie will nicht nur mehr! Sie will alles…!!!


Diese Diashow benötigt JavaScript.


„Der kleine Horrorladen“ war diesmal in der Schauspiel-Sparte verortet, und so waren alle Rollen mit Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, die durch 4 Tänzer*innen unterstützt wurden. So gab es rein vom Darstellerischen her auch wenig zu bemängeln: Richard Feist gab einen quirligen Seymour mit enormen Bewegungstalent.  Marsha Zimmermann legte ihre Audrey deutlich weniger als dummes Blondchen an und verzichtete wohltuend auf das Lispeln. Frank Auersbachs Mr. Mushnik strotze vor rustikalem Charme. Marlene Jubelius, Sabine Barthelmeß und Juschka Spitzer boten als die drei Gossen-Gören eine solide Leistung. Abräumer des Abends waren allerdings Dominik Lindhorst-Apfelthaler, der sowohl als Orin als auch in div. Nebenrollen komödiantische Kabinett-Stückchen kredenzte, sowie Henning Bäcker, der als personifizierte „Audrey II“, mit diabolischem Blick und im blutroten Anzug gewandet, die Befriedigung seiner perversen Gelüste genüsslich ausspielte.

Dumm nur, dass in einem Musical zwangsläufig gesungen wird – gesungen werden muss, da es sonst die Bezeichnung „Musical“ nicht verdiente. Und hier liegt eine der großen Schwachstellen dieser Produktion: Schauspieler*innen sind nicht zwangsläufig gute Sänger*innen, und eine Sprechpassage wird anders aufgebaut als ein Song. So klangen die Gesangseinlagen nicht nur disharmonisch, weil sie wenig aufeinander abgestimmt waren bzw. ich den Eindruck hatte, dass wenig aufeinander gehört wurde, sondern taten mir manchmal sogar in den Ohren weh. Einzig Henning Bäcker konnte hier auch gesanglich überzeugen. Erschwerend kam hinzu, dass die Songtexte im englischen Original vorgetragen wurden – für mich unverständlich, da es eine wunderbare Übersetzung von Michael Kunze gibt.

Zudem wirkte die Regie von Jörg Steinberg auf mich merkwürdig hektisch: Die Schauspieler*innen agierten wie aufgezogen, mussten manchmal in einem ordentlichen Tempo die Szenen spielen, dass dabei zwangsläufig die Emotionen auf der Strecke blieben, und es mir als Zuschauer schwer fiel, mich mit den Figuren zu identifizieren und mit ihnen mitzufühlen. Leider erschloss sich mir auch nicht, warum der Regisseur gemeinsam mit Dramaturg Peter Hilton Fliegel die vorhandene Textfassung überarbeitete und dieses kurzweilige Trash-Musical mit Passagen aus Shakespears „Macbeth“ bzw. Goethes „Faust“ „anreicherte“. Steinberg hebt die Figuren so auf eine elitäre Ebene. Beinah wirkt es, als wollte er es vermeiden, dass die Rollen sich entwickeln können. Vieles erscheint oberflächlich, plakativ und beinah zu clean für mich: die adretten (optisch durchaus ansprechenden) 60er Jahre-Kostüme incl. Frisuren, der ordentlich verteilte Müll auf der Vorderbühne, die glänzenden Mülltonnen ohne Patina. Einige Szenen wirken verwirrend uninsziniert, so als hätte der Regisseur seinen Darsteller*innen zugerufen „Improvisiert mal…!“, so z.Bsp. beim Song „Mushnik and Son“, bei dem die beiden Darsteller hinter den Tänzern und somit aus dem Fokus des Publikums verschwinden.

Apropos Tanz: Andrea Danae Kingston hat an diesem Hause in der Vergangenheit schon einige exzellente Choreografien erstellt, (u.a. in der letzten Spielzeit für das Musical Chicago). Doch hier wirkten ihre Tanzszenen oft recht uninspiriert (…oder durfte sie nicht mehr zeigen?), die die grandiosen Tänzer eher unterforderten. Auch hier hatte ich häufig den Eindruck von „Improvisiert mal…!“. Dabei gab es durchaus zwei, drei ganz und gar wunderbare Beispiel, wo eine Nummer durchchoreografiert war und Musical-Zauber verbreitete, u.a. bei „Somewhere That’s Green“, wenn Audrey vom kleinen Glück im Grünen träumt und parallel zwei Paare (Alicia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Renan Carvalho und Tanaka Lionel Roki) dies im Tanz umsetzen. Und warum der Regisseur eine Rausschmeißer-Nummer wie „Mean Green Mother From Outer Space“ nicht zum fulminanten Dance-Act kürt, sondern das gesamte Ensemble nur über die Bühne spazieren lässt, um überall kleine Audrey II-Ableger zu verteilen, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Apropos Audrey II: Hm! Ach, ich mag auch nicht mehr meckern! Nur so viel: In der alten Fassung war Audrey II deutlich eindrucksvoller.

Last but not least: Die Band unter der Leitung von Jan-Hendrik Ehlers war der absolute Hammer und spielte ebenso perfekt die rockigen Songs mit entsprechendem Druck wie die zarten Töne der Balladen. Toll!!!

Das Publikum fühlte sich durch die Show hör- und sichtbar gut unterhalten und geizte zum Schluss nicht mit reichlichem Applaus. Auch für mich bot diese Inszenierung durchaus unterhaltsame Momente. Doch Kultstatus, an dem ich mich auch noch in 30 Jahren erinnere, wird sie leider für mich nicht erreichen.


Audrey II wird nun auch in Bremerhaven ihrer Kundschaft das Gruseln lehren:  DER KLEINE HORRORLADEN ist noch bis Mitte Juni 2022 geöffnet!

[Tragikomödie] Tom Stoppard – ROSENKRANZ UND GÜLDENSTERN SIND TOT / Stadttheater Bremerhaven

Tragikomödie von Tom Stoppard / deutsch von Hanno Lunin

Premiere: 2. Oktober 2021 / besuchte Vorstellung: 21. November 2021

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Inszenierung: Tobias Rott
Bühne & Kostüme: Susanne Füller

William Shakespeare – der weltbekannte Barde aus Stratford-upon-Avon – war, ist und bleibt immer ein Garant für packende Geschichten. Aber selbst er hätte sich nicht träumen lassen, dass 350 Jahre nach seinem Tod ein aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien emigrierter Schreiberling sich seine berühmt-berüchtigte Tragödie „Hamlet“ annimmt, daraus zwei Randfiguren herauspickt, diese in den Mittelpunkt stellt und alle anderen Personen zu schmückendem Beiwerk degradiert.

Tom Stoppard rückt in seiner Tragikomödie die beiden unglückseligen Freunde Hamlets, deren Schicksal schon zu Anfang der Tragödie besiegelt schien, in den Fokus und lässt die bekannte Geschichte eben „wie bekannt“ im Hintergrund ablaufen. Der edle Prinz Hamlet, der im Laufe des Stücks zunehmend verwirrter wird; der heimtückische Brudermord an seinem Vater durch die Hand des Onkels und die übereilte Vermählung seiner Mutter, der Königin, mit ebendiesen; Hamlets Werben und Sehnen nach der schönen Ophelia, die im Laufe des Stücks dem Wahnsinn verfällt; die bösartige Intrige des Onkels, um Hamlet endgültig loszuwerden…

…all dies gerät in Stoppards Stück zur Farce, in der all die hehren Gefühle, die schändlichen Taten und das aufopferungsvolle Leiden der Protagonist*innen im hellen Licht von Rosenkranz und Güldensterns Naivität als bloße Staffage enttarnt werden. Regisseur Tobias Rott unterstützt diese Aspekte des Stücks, indem er die Nebenpartien weniger wie in „Shakespeare in Love“ (Für den gleichnamigen Kino-Film lieferte Stoppard das Drehbuch.) sondern vielmehr als „Shakespeare in Drag“ agieren lässt: Alles ist ein wenig „zu viel“, „zu heftig“, „zu drüber“, um realistisch zu erscheinen. Vielmehr wirkt es eher wie ein billiges Schmierentheater, für das ursprünglich der auftretende Schauspieler mit seiner Tragöden-Truppe zuständig wäre.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Hier wird famos-unterhaltsam „Theater im Theater“ zelebriert, wobei offen und ehrlich zugegeben wird, dass „alles nur gespielt“ und somit Fiktion ist. Die Nebenfiguren halten an „ihrer“ Realität fest und wirken darum umso verlogener. Mittendrin in diesem Chaos lernen wir unsere beiden Helden kennen, die anscheinend dem Hamlet-Zitat „Der Rest ist Schweigen“ wenig abgewinnen können. Leon Häder als Rosenkranz und Dominik Lindhorst-Apfeltaler als Güldenstern liefern einen fulminanten Dialog-Marathon ab, spielen sich die Stichworte einem Ping-Pong-Spiel gleich in einem enormen Tempo zu und gönnen sich und dem Publikum keine Verschnaufpause. Vielmehr wird dem Publikum ein hohes Maß an Konzentration abverlangt, da sonst intelligente Pointen und humorvolle Wortspielereien überhört werden könnten.

Einzig dem Schauspieler erlaubt Stoppard ebenfalls in den Mittelpunkt zu treten und unseren beiden Helden die Aufmerksamkeit des Publikums streitig zu machen. Henning Bäcker verkörpert diesen Schmierenkomödianten mal diabolisch-verführerisch, mal kraftvoll-bedrohlich und darf sich mit einer Auswahl markanter Typen seiner Tragöden-Truppe umgeben.

So bleiben die restlichen Rollen nur wenig mehr als Randerscheinungen (wie es im Shakespeare’schen Original Rosenkranz und Güldenstern sind) und werden von Marsha Zimmermann, Frank Auerbach, Isabel Zeumer und Marc Vinzing souverän ausgefüllt.

Die Kostüme und das Bühnenbild von Susanne Füller unterstreichen den Eindruck vom „Theater im Theater“: Auf der schwarzen Guckkastenbühne deuten wenige kasten-artige Bühnenelemente die unterschiedlichen Spiel-Ebenen an. Bei den Kostümen nimmt sie ebenso Anleihe an der Epoche Shakespeares wie an der Optik alter Slapstick-Filme.

Am Ende sind (titelgebend) Rosenkranz und Güldenstern tot, und somit erübrigt sich die Frage nach „Sein oder Nichtsein“. Hier wird herausragendes Sprech-Theater im wahrsten Sinne des Wortes geboten: …nix für Zwischendurch, dafür intelligente Unterhaltung vom Feinsten!


Tragisch: ROSENKRANZ UND GÜLDENSTERN SIND TOT und doch wünsche ich ihnen am Stadttheater Bremerhaven noch viele Male eine Wiederauferstehung.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2021/2022 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Ouvertüre für Orchester von Grażyna Bacewicz und Arien von Johann Strauß, Charles Gounod, Jacques Offenbach, Albert Lortzing, Édouard Lalo und Eduard Künneke

mit Ausschnitten aus „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“ von Tom Stoppard, „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmidt“ von Fin-Ole Heinrich & Dita Zipfl und dem Ballett „Faust“ von Sergei Vanaev

Premiere: 11. September 2021 / besuchte Vorstellung: 11. September 2021

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig, Sergei Vanaev
Szenische Einrichtung: Edison Vigil

Musiktheater: Ulrich Burdack, Patrizia Häusermann, Signe Heiberg,
Marcin Hutek, Andrew Irwin
Ballett: Alícia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Tanaka Lionel Roki, Stefano Neri
Schauspiel: Henning Bäcker, Leon Häder, Dominik Lindhorst-Apfelthaler
JUB: Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer, Severine Schabon
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


Wie Ihr sicherlich schon bemerkt habt, berichte ich hier unter „Kulturelles Kunterbunt…“ gerne und oft von Aufführungen, die ich am Stadttheater Bremerhaven besucht habe. Nun könntet Ihr mir eine gewisse Einseitigkeit in der Berichterstattung vorwerfen bzw. mir unterstellen, ich wäre parteiisch. Dazu möchte ich folgendes erwidern: JA! STIMMT! 

Ich fühle mich der Stadt Bremerhaven und auch dem Stadttheater schon seit Jahrzehnten verbunden. Vielleicht wurde mir diese Verbundenheit schon in die Wiege gelegt: Mein Vater war in den 70er Jahren in der dortigen Fischerei tätig und fuhr mit den großen Fangschiffen „auf hohe See“. Als kleiner Pöks brachte ich ihn gemeinsam mit meiner Mutter zum Anleger und holte ihn dort – einige Monate später – auch wieder ab. Auch als mein Vater längst abgemustert hatte, drängte es ihn immer wieder zum Hafen. Jahre später entdeckte ich das Stadttheater Bremerhaven für mich und saß dort am 22. September 1991 zur Premiere des Musicals „Evita“ zum ersten Mal im Zuschauerraum. Viele weitere Vorstellungen sollten folgen, auch wenn es durchaus auch eine Zeit gab, in der ich die Programmauswahl wie auch einige Inszenierungen etwas bieder empfand und untreu wurde. Doch auch während dieser Periode richtete ich meinen Blick immer zum Stadttheater, und besonders die Intendanz von Ulrich Mokrusch empfand ich als wohltuenden Frische-Kick. Mir gefiel das Gesamtpaket aus Klassikern des Repertoires und aufregenden Neu- bzw. Wiederentdeckungen, aus interessanten Künstlerpersönlichkeiten, deren Weiterentwicklung ich mit verfolgen durfte, aus der spürbaren Nähe zum Publikum, die sich durch vielfältige Aktionen und in persönlichen Begegnungen widerspiegelt. Darum haben wir uns vor einigen Jahren für ein Abonnement entschieden.

Doch die Mokrusch-Ära ist nun vorbei, und der neue Intendant Lars Tietje stellte sich vor. So saßen wir im Zuschauerraum und warteten gespannt auf den Beginn der Eröffnungsgala, die uns einen kleinen Einblick in die kommende Spielzeit geben und gleichzeitig neue Gesichter im Ensemble vorstellen sollte. Ein Blick ins Spielzeitheft 2021/2022 schürte bei uns schon die Vorfreude und versprach, dass es eine spannende und abwechslungsreiche Saison werden würde.

Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann eröffnete die Gala mit „Ouvertüre für Orchester“ von der polnischen Komponistin Grażyna Bacewicz. Sie wirkte auf mich beinah wie der Soundtrack eines alten Hollywood-Klassikers. So ging beim Klang dieses voluminösen Stücks meine Phantasie auf Reisen: Bei den dramatischen Passagen sah ich Cary Grant in einem Sportwagen über unwegsame Serpentinen rasen, in der Hoffnung seine Verfolger abschütteln zu können. Dieser Auftakt war klug gewählt: In der kommenden Konzert-Saison des Philharmonische Orchesters werden die Komponistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, die leider allzu häufig ein Schattendasein gegenüber ihrer männlichen Kollegen führen, im Mittelpunkt stehen.

Intendant Lars Tietje führte souverän durch das Programm und holte sich zu den einzelnen Programmpunkten mit Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Sergei Vanaev gerne die Leitung der jeweiligen Sparte auf die Bühne.

Henning Bäcker, Leon Häder und Dominik Lindhorst-Apfelthaler vom Schauspiel-Ensemble überzeugten mit einem Ausschnitt aus der Tragigkomödie „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“ von Tom Stoppard. Dieses Stück verspricht mit seinen pointierten Dialogen für eine intelligente Unterhaltung.

Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer und Severine Schabon vom JUB (Junges Theater Bremerhaven) sorgten in ihren Szenen aus „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmidt“ von Fin-Ole Heinrich & Dita Zipfl für frischen Wind auf der Bühne und amüsierten mit ihrer gerappten Darbietung eines Pfannkuchen-Rezepts.

Andächtige Stille herrschte im Publikum als die Tänzer*innen Alícia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Tanaka Lionel Roki und Stefano Neri die getanzte Version des Faust-Mythos ihres Ballettmeisters Sergei Vanaev virtuos präsentierten. Selbst in den Pausen zwischen den einzelnen Bildern wagte niemand, diese Atmosphäre durch Applaus zu zerstören. Dafür brandete am Ende der Darbietung der Beifall umso enthusiastischer auf.

Bei den musikalischen Programmpunkten gab Marc Niemann den Taktstock einem Staffelstab gleich an seine Kollegen Davide Perniceni und Hartmut Brüsch weiter, die das Orchester und die Solisten ebenso überzeugend durch die Arien leiteten. Das Musiktheater-Ensemble wartete mit einigen vielversprechenden Neu-Zugängen auf: Signe Heiberg sang mit natürlichem Sopran und sympathischer Ausstrahlung die Arie „Grüß dich Gott“ aus der Johann Strauß Operette „Wiener Blut“. Andrew Irwins lyrischer Tenor schmiegte sich durch die Partitur „Vainement ma bien aimée“ von Édouard Lalos „Le Roi d’Ys“. Der variable Bass von Ulrich Burdack gefiel in der Arie „Fünftausend Taler“ aus der Oper „Der Wildschütz“ von Albert Lortzing. 5.000 – diese Zahl scheint bei ihm Programm zu sein: So hat er doch Anfang August bei der beliebten TV-Rate-Show „Gefragt-gejagt“ genau diesen Betrag (natürlich in Euro) erspielt, indem er im Alleingang gegen den Jäger das Finale gewann.

Aber auch die/der „alte“ Häsin/Hase aus dem Musiktheater konnten überzeugen: Bariton Marcin Hutek gehört schon seit der vergangenen Spielzeit zum Ensemble, konnte allerdings Pandemie-bedingt leider nur wenig von seinem Talent zeigen. Hier gab er nun mit der Arie „Avant de quitter ces lieux“ aus Charles Gounods Oper „Faust“ den gelungenen Einstieg zum gleichnamigen Ballett. Höhepunkt der jährlichen Eröffnungsgala ist immer die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr nahm eine sichtlich gerührte Patrizia Häusermann diesen Preis in Empfang. Die Mezzosopranistin Patrizia Häusermann gehört schon seit einigen Spielzeiten zum Ensemble und konnte mich immer mit ihrer Musikalität, ihrem Talent und ihrer Wandlungsfähigkeit überzeugen. Dass die Verleihung dieses Preises völlig zu Recht erfolgte, bewies sie mit der gefühlvoll interpretierten Arie „Vois sous…“ aus der Jacques Offenbach-Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen beendete sie die Gala mit dem schmissigen „Batavia-Fox“ aus der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ von Eduard Künneke, zu dessen Gelingen Edison Vigil mit einer humorvollen szenischen Einrichtung beitrug.

Das Stadttheater Bremerhaven kredenzte uns wieder ein schmackhaftes Buffet mit vielen kleinen, feinen Leckereien: So verlies ich kulturell reichlich gesättigt und mit einem wohligen Hochgefühl das Theater!


Mit dieser Eröffnungsgala wurde die SAISON 2021/2022 am Stadttheater Bremerhaven feierlich eingeläutet.

[Komödie] Jacobs & Netenjakob – EXTRAWURST / Stadttheater Bremerhaven

Komödie von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob

Premiere: 20. Dezember 2019 / besuchte Vorstellung: 28. Dezember 2019

Stadttheater Bremerhaven / Kleines Haus


Inszenierung & Bühne: Andreas Rehschuh

Kostüme: Juliane Götz


Eine Vereinsversammlung in der Provinz. Dr. Heribert Bräsemann (Kay Krause), Präsident des Tennisclubs TC Lengenheide, ist gerade mit 100 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden. Als letzter Punkt der Tagesordnung muss noch über den Kauf eines neuen Grills für das alljährliche Sommerfest entschieden werden, und dann geht der gemütliche Teil des Abends mit Bier und kaltem Nudelsalat los. Aber da schlägt Melanie (Julia Lindhorst-Apfelthaler), Doppelpartnerin von Erol, vor, dass man doch einen zweiten Grill anschaffen sollte, weil Erol und seine Frau ihr Grillgut nicht zum Schweinefleisch der anderen Mitglieder auf den Grill legen dürfen. Erol (Henning Bäcker) will diese «Extrawurst» gar nicht, aber Melanie lässt nicht locker, zum Missfallen des stellvertretenden Vorsitzenden Matthias (Max Roenneberg). Und ihr Mann Torsten (Richard Lingscheidt) unterstützt ihr Anliegen zwar prinzipiell, beobachtet Melanies Fürsorge für Erol aber mit wachsender Eifersucht. Und mir nichts dir nichts ist der schönste Streit im Gange, es ist von «Türkenwurst» und «Schweinedampf» die Rede und Heriberts Vorschlag, seinen unbenutzten Elektro-Grill zu benutzen, lehnt Erol mit dem Argument ab, das fühle sich an wie «Türken-Charity».

Im vertrauten Setting einer Jahresversammlung gelingt den beiden Autoren das Kunststück, in einer pointierten Komödie die entscheidende Frage zu stellen: Gibt es auch am Grill eine deutsche Leitkultur? Die Zuschauer sind als Vereinsmitglieder Teil des Geschehens und erleben hautnah mit, wie sich eine Gesellschaft nachhaltig zerlegen kann, wenn Atheisten und Gläubige, Deutsche und Türken, «Gutmenschen» und Hardliner frontal aufeinanderprallen. (Text von Peter Hilton Fliegel für das Programmheft zu „Extrawurst“)

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Der Deutsche und seine Vereinskultur: Das Patriarchat agiert in der Verkleidung der Demokratie. Der Verein als Profilierungsbühne des kleinen Mannes.

Regisseur Andreas Rehschuh lässt im steril-sauberen, tennis-weißen Bühnenbild ein Abbild der Gesellschaft vor den Blicken der Zuschauer entstehen. Überspitzt comic-haft haben die Gegenstände markante schwarze Konturen, ebenso wie die Kostüme von Juliane Götz, die mit wenigen prägnanten Strichen, die Charaktere der Handlungspersonen beschreibt bzw. die Klischees, die sich dahinter verbergen (die strenge Bügelfalte vom spießigen Präsidenten, der betonte Hosenschlitz vom potenten Türken etc.). Geschickt verteilt Rehschuh die Schauspieler im Zuschauerraum: Ihr verbaler Schlagabtausch zwingt die Zuschauer – wie bei einem Tennisturnier der Blick dem Ball folgt – den Kopf nach links und rechts zu wenden, um die Reaktionen der Protagonisten zu beobachten.

„Links“ und „Rechts“: Wo steht wer? Unterdrückte Ressentiments spülen an die Oberfläche einer scheinbaren Toleranz. Gerne wäre jeder von uns ein Gutmensch, doch leider kämpfen wir alle mit unseren persönlichen Vorurteilen. Diese Komödie deckt bloß aber liefert nicht aus. Sie erlaubt ein befreiendes Auflachen aber sorgt auch dafür, dass das Lachen in der Kehle stecken bleibt.

Regisseur Andreas Rehschuh greift am Stadttheater Bremerhaven auf ein talentiertes Ensembles zurück, dass frei von übertriebenen Attitüden die Motivation der jeweiligen Person für das Publikum glaubwürdig sichtbar macht – ohne an Sympathie zu verlieren. Sie sind eben auch nur Menschen…!


Die EXTRAWURST wird noch bis April 2020 im Stadttheater Bremerhaven auf dem Rost liegen und auf komödiantische Abnehmer warten.

[Schauspiel] Günter Grass – DIE BLECHTROMMEL / Stadttheater Bremerhaven

Schauspiel nach Günter Grass / für die Bühne bearbeitet von Peter Schanz

Premiere: 9. November 2019 / besuchte Vorstellung: 17. November 2019

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Inszenierung: Mark Zurmühle
Bühne: Eleonore Bircher
Kostüme: Ilka Kobs
Video: Aaron Bircher
Musikalische Einstudierung: Hartmut Brüsch

„Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus den Augen.“

…dies ist nicht nur der erste Satz des Romans „Die Blechtrommel“, so beginnt auch das Schauspiel. Oskar Matzerath blickt zurück sowohl auf 50 Jahre Familiengeschichte als auch auf 50 Jahre deutscher Geschichte. Der Junge, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr weiterzuwachsen, ist Unschuld und Verkommenheit zugleich. Scheinbar harmlos wirkend beobachtet er mit einem beinah sezierenden Blick die Entwicklungen in der Familie und der Gesellschaft und zieht an den Schicksalsfäden ganz nach seinem Gusto. Mit dem Klang seiner Trommel und der Fähigkeit, Glas mit seiner Stimme zum Zerspringen zu bringen, manipuliert er erbarmungslos seine Umwelt.

Dem Regisseur Mark Zurmühle ist mit seinem 7-köpfigen Ensemble eine stringente, aufwühlende Inszenierung gelungen, in der – außer Max Roenneberg als Oskar Matzerath – alle übrigen Schauspieler*innen mehrere Rollen verkörpern. Das Schauspiel beginnt in der besagten Heil- und Pflegeanstalt: Beinah steril wirkt das Bühnenbild mit seinem runden Pavillon und den weißen Stühlen. Oskar liegt angeschnallt auf einer Behandlungsliege und wird von Ärzten, Pflegern und Schwestern in weißer, uniformierter Kluft beobachtet. Und während Oskar mit dem Erzählen beginnt, verwandelt sich das Personal der Heil- und Pflegeanstalt mit wenigen Requisiten und Kostümteilen in die Protagonisten seiner Geschichte…!

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Ein aufwendiges Bühnenbild wird nicht benötigt: Das Können der Schauspieler*innen fesselt das Publikum. Die Kraft ihrer Darstellung macht Hilfsmittel wie ein üppiges Bühnenbild überflüssig.

Max Roenneberg gibt einen wendigen Oskar, der jungenhaft naiv und diabolisch abstoßend zugleich ist, und bildet mit seinen Kolleg*innen ein eingespieltes Ensemble, das wie Perlen auf einer Schnur die Geschehnisse vor den Augen des Publikums aufreiht. Sascha Maria Icks, Richard Lingscheidt, Julia Lindhorst-Apfelthaler, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Kay Krause und Henning Bäcker bilden ein so homogenes Ensembles, dass es mir schwerfällt, einzelne Künstler hervorzuheben: Jede*r zeigte eine immense Wandlungsfähigkeit und hatte große, bewegende Momente. Mark Zurmühle verzichtet wohltuend auf plakative Gesten und greller Symbolik: Der Freitod mit dem Strick wird mit Hilfe einer Krawatte und einer Kartoffel dargestellt, und auch das Hakenkreuz wird nicht benötigt, um die Atmosphäre dieser Zeit zu repräsentieren.

Wer ein 60 Jahre altes Werk modern und eindrucksvoll auf der Bühne sehen möchte, sollte den Weg nach Bremerhaven nicht scheuen!


Oskar Matzerath wird DIE BLECHTROMMEL weiterhin für einige Vorstellungen am Stadttheater Bremerhaven schlagen…!