[Schauspiel] Monika Helfer – DIE BAGAGE / Stadttheater Bremerhaven

von Monika Helfer / Erstaufführung der Fassung von Coco Plümer

Premiere: 12. September 2025 / besuchte Vorstellung: 27. September 2025

Stadttheater Bremerhaven / Kleines Haus


IINSZENIERUNG Ingrid Gündisch
BÜHNE & KOSTÜME
Ilka Meier
DRAMATURGIE
Peter Hilton Fliegel
LICHT 
Frauke Richter
REGIEASSISTENZ & ABENDSPIELLEITUNG & INSPIZIENZ Florian Thiel
SOUFFLAGE Melia Holl (FSJ Kultur)
EINSTUDIERUNG ENSEMBLE Hartmut Brüsch
EINSTUDIERUNG KINDER Katharina Diegritz, Edward Mauritius Münch

Literaturverfilmungen gibt es zuhauf – mal mehr, mal weniger gelungen. Doch manchmal schafft es auch ein Roman auf die Sprechbühne, und vor den eigenen Augen hauchen Schauspieler*innen den Figuren Leben ein. Jede Aufführung ist einzigartig, und mit jeder Aufführung entwickeln sich die Figuren weiter. Ob Coco Plümer mit ihrer Bühnenadaption von DIE BAGAGE der Roman-Vorlage von Monika Helfer treu geblieben ist und diese gut umgesetzt hat, kann ich leider nicht beurteilen, da ich den Roman bisher noch nicht gelesen habe. Ich kann aber durchaus beurteilen, ob aus einem Stapel beschriebenem Papier unter Bündelung der Talente aller Beteiligten auf der Bühne eine fesselnde Inszenierung geworden ist.

Die Bühne, ohne Vorhang, schwarz und leer, nichts lenkte das Auge ab. Ein Kind setzte sich in den Lichterkegel des Scheinwerfers, malte mit einem Stück Kreide ein Bild auf den Boden und summte leise die Melodie „Maria durch ein Dornwald ging“. Eine junge Frau erschien mit einer Wanne unter dem Arm und begann die strahlend weiße, frisch gewaschene Wäsche aufzuhängen. Aus dem Hintergrund des Zuschauersaals ertönte die Stimme der Erzählerin…


HINWEIS: DIE OBIGE AUFNAHME STAMMTE NICHT AUS DER BESPROCHENEN INSZENIERUNG.

Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin.

(Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

Regisseurin Ingrid Gündisch hatte sich von Ausstatterin Ilka Meier eine Black-Box auf die Bühne stellen lassen, die in ihrer dunklen Kargheit automatisch den Fokus auf die Figuren lenkte und diese animierte, auf die inneren wie auch äußeren Reize zu reagieren. Gundisch ließ ihre Figuren einerseits zwischen Wahrnehmung und Reaktion agieren, doch ihre Beweggründe blieben oftmals im Verborgenen. Weiße Blusen und Hemde sowie die weißen Laken, die im Laufe der Vorstellung auf die Leinen gehangen wurden und so unterschiedliche Spielräume bildeten, ließen dagegen einen scharfen Kontrast entstehen. Teilweise schmerzte mir das Strahlen des Weißes in den Augen und ließ die Personen vor ihm wie von einer Aura umrahmt erscheinen. Weiße Wäsche ist unserer Heldin so wichtig: „Wir sind zwar arm, aber wir müssen nicht so aussehen.“ Zwischen all dem vielen Weiß und Schwarz wirkte das hellblaue Kleid, das Maria kurzzeitig trug, wie ein Störfaktor. Und genau dies sollte es wohl auch sein: Maria in ihrem blauen Kleid ist ein Störfaktor in der schwarz-weißen Welt der spießigen Bewohner des Bergdorfes. Die Regisseurin führte ihr Ensemble behutsam durch die Handlung, lässt ihm aber auch genügend Raum, um zu atmen und Gefühl(sausbrüch)e zuzulassen. Die Textfassung von Coco Plümer überzeugte durch ihre glaubwürdigen Dialoge, die stets natürlich zur jeweiligen Person passten. So ermöglichte sie den Schauspieler*innen, aus papierene Figuren Menschen aus Fleisch und Blut zu kreieren.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Ein Kind setzte sich in den Lichterkegel des Scheinwerfers: Carla Lou Schreuder stand stellvertretend für alle Kinder der Moosbrugger, um sich schlussendlich in der Figur der Grete zu manifestieren. Dabei wirkte sie in ihrer Zartheit so unschuldig und darum so verletzlich.

Angelika Hofstetter gab die Erzählerin – sozusagen die Stimme der Autorin Monika Helfer – energetisch zwischen Sanftheit und Wut und verstand es großartig, die Vielzahl an Erklärungen abwechslungsreich zu gestalten. Zudem schlüpfte sie spielerisch in die Rolle des Sohnes Lorenz und verdeutlichte als Dorfpfarrer dessen verlogene Bigotterie.

Leon Häder gelang es mit nur wenigen Änderungen der Garderobe, dafür vielmehr durch Haltung und Stimmfärbung die unterschiedlichen Männerrollen darzustellen: Scheinbar mühelos wechselte er vom schleimig-anbiedernden Bürgermeister Fink zum offenen, lebensfrohen Georg, um uns dann in die seelischen Tiefen von Josef Moosbrugger, diesem äußerlich stillen, doch durchaus leidenschaftlichen Mann, blicken zu lassen.

Wie Planeten um die Sonne kreisten diese drei Menschen um Anna Caterina Fadda, die Maria Moosbrugger mir einer beeindruckenden wie auch beängstigenden Intensität verkörperte. Sensibel kreierte sie ein kraftvolles Frauenbild, modern zu ihrer Zeit, kämpferisch und mit unverbrüchlicher Haltung. Dabei warf sie sich so schonungslos in die Rolle, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen. Und selbst im Stadium der größten Emotionalität war ihre Darstellung reich an Nuancen. Chapeau!!!

Es dauerte einen Moment, bis das Publikum am Ende der Vorstellung in frenetischem Applaus ausbrach: Anscheinend brauchten wir alle einige Sekunden des Innehaltens, bevor wir in einem begeisterten Jubel ausbrechen konnten. Im kleinen Haus des Stadttheaters wurden wir Zeuge, wie große Literatur dank Talent und Respekt auf die Bühnenbretter gezaubert wurde, die uns dann gänzlich verzauberte. Der geheimnisvolle Theaterzauber: Hin und wieder gibt es ihn tatsächlich!

Auf dem Heimweg saßen mein Mann und ich schweigsam sinnierend nebeneinander im Auto. Wir waren vom Erlebten so sehr ergriffen, da wäre jedes Wort zu viel gewesen. In Gedanken wanderte ich zurück in meine Kindheit und erinnerte mich an Begebenheiten, da das Verhalten von Mitgliedern meiner Bagage durchaus Einfluss auf mein Werden nahm. Und ich fragte mich…

„Wie lange haften die Taten meiner eigenen Bagage noch an mir?“
und
Wann bin ich endlich von der Familienschuld befreit, da das kollektive Gedächtnis
die Verfehlungen meiner Vorfahren vergessen hat?“


Noch bis Anfang Januar 2026 verspricht das Stadttheaters Bremerhaven mit DIE BAGAGE einen intensiven Theaterabend.

Der Roman ist erschienen bei Carl Hanser / ISBN: 978-3446265622

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2025/2026 / Stadttheater Bremerhaven

mit dem Marsch Nr. 1 aus der SUITE FÜR JAZZORCHESTER NR. 2 von Dimitri Schostakowitsch sowie Arien, Songs und Musiken von Emmerich Kálmán, Sergei Prokofjew, Guiseppe Verdi, Antonio Vivaldi, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Vincenco Bellini, Stephen Sondheim und Erich Wolfgang Korngold

mit Ausschnitten aus SEIN ODER NICHTSEIN von Nick Whitby, DIE BAGAGE von Coco Plümer (nach Monika Helfer), 20.000 MEILEN UNTER DEM MEER von Justine Wiechmann (nach Jules Verne), TROJA! BLINDE PASSAGIERE IM TROJANISCHEN PFERD von Henner Kallmeyer, FÜNFTER SEIN von Inda Buschmann und JUB-Ensemble

sowie aus den Balletten DIE VIER JAHRESZEITEN und DER NUSSKNACKER von Alfonso Palencia

Premiere: 30. August 2025 / besuchte Vorstellung: 30. August 2025

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
CHOR Edward Mauritius Münch
SZENISCHE EINRICHTUNG Annika Ellen Flindt
MODERATION Lars Tietje, Marc Niemann, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Alfonso Palencia, Markus Tatzig

Musiktheater: Timothy Edlin, Meredith Hoffmann-Thomson, Marcin Hutec, Andrew Irwin, Victoria Kunze, Boshana Milkov, Weilian Wang
Ballett: Marco Maronglu, Dawon Yang und Ballettkompagnie
Schauspiel: Frank Auerbach, Anna Caterina Fadda, Leon Häder, Angelika Hofstetter, Julia Lindhorst-Apfelthaler, Alexander Smirzitz und Marc Vinzing
JUB: Ümran Algün, Sander Lybeer, Coco Plümer und Tobias Sill
Opernchor am Stadttheater Bremerhaven
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


Wie schön, dass diese furchtbare theaterlose Zeit nun (vorerst) vorbei ist!

Hatte ich mich zwar – wie auch schon in den vergangenen Jahren – mit der entsprechenden Lektüre versucht zu trösten und bin so zwischen zwei Buchdeckeln auf kultureller Wanderschaft gegangen, so war dies doch eher ein schwacher Ersatz für einen Besuch in einem echten Theater. Und so fieberte ich dem vergangenen Wochenende, an dem mein Stammtheater zwei Tage lang den Saison-Beginn zelebrieren sollte, voller Freude und Neugier entgegen.

Äußerst schwungvoll eröffnete GMD Marc Niemann und das Philharmonische Orchester Bremerhaven mit dem Marsch Nr. 1 aus der SUITE FÜR JAZZORCHESTER NR. 2 von Dimitri Schostakowitsch die Gala. Beinah schien es, als hätte der Komponist versucht, alles Militärische in diesem Marsch spielerisch zu ironisieren. Es wird die letzte Spielzeit von Marc Niemann am Hause sein: So kann BRÜCKEN, der Titel der kommenden Konzert-Saison wohl programmatisch interpretiert werden. Doch er hat in den vergangenen Jahren „das Feld“ (aka das Orchester) gut bestellt und mit Davide Perniceni und Hartmut Brüsch zwei feste Stützen am Haus, die auch an diesem Abend zeigten, dass sie das Philharmonische Orchesters souverän zu leiten verstanden.

Auch in diesem Jahr ließ es sich Intendant Lars Tietjen nicht nehmen, die Gala eloquent zu moderieren und uns somit durch den Abend zu geleiten. „Schützenhilfe“ erbat er sich von den jeweiligen Sparten-Leitungen Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia, die das Programm gemeinsam mit den Künstler*innen zusammengestellt hatten und so noch viele zusätzliche Informationen zu den entsprechenden Programmpunkten beisteuern konnten.

„So viele Komödien wie in dieser Spielzeit, spielen wir sonst nie“ meinte Peter Hilton Fliegel beinah entschuldigend und fügt hinzu, dass genau diese Art von Komödien so wichtig sei, da sie diejenigen verspottet, die unsere Freiheit bedrohen. Eingedeckt mit diesem Hintergrundwissen erhielt die Szene aus Nick Whitbys SEIN ODER NICHTSEIN, mit der das Schauspiel die Saison im großen Haus einläutet, eine zusätzliche Würze. Julia Lindhorst-Apfeltahler und Marc Vinzing boten einen pointiert-ironischen wie auch amüsanten Ausschnitt aus dieser wohl herrlich doppelbödigen Komödie.

Mit ihrer aparten Erscheinung und der Arie „Heia, in den Bergen ist mein Heimatland“ aus DIE CSÁRDÁSFÜRSTIN von Emerich Kálmán stellte sich Sopranistin Meredith Hoffmann-Thomson dem Bremerhavener Publikum vor. Gemeinsam mit dem bestens aufgelegten Opernchor unter der Leitung von Edward Mauritius Münch bot sie reichlich Operetten-Seligkeit.

Dann betrat ein schlanker Jüngling die Bühne und überraschte mit seiner vollen Stimme: Bassbariton Timothy Edlin überzeugte gemeinsam mit Andrew Irwin in einer drolligen Szene aus der Oper DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN von Sergei Prokofjew, die Lust auf mehr machte.

Auch der letzte Neu-Zugang im Opern-Ensemble überzeugte auf ganzer Linie: Weilian Wang präsentierte bei „Lunge da lei … O mio rimorso!“ aus LA TRAVIATA, all das, was ich mir von einer tragfähigen, schön timbrierten Tenor-Stimme erhoffe.

Einer der Höhepunkt der jährlichen Gala ist stets die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. Die Namensgeberin, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts selbst im Ensemble des Stadttheaters Bremerhaven war, hätte in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert. Zudem vergab die Stiftung bereits seit 20 Jahren diesen nach ihr benannten Preis. Anlass genug, ihr Leben in Wort und Bild durch die/den frühere*n Preisträger*in Julia Lindhorst-Apfelthaler, Victoria Kunze und Mark Vinzing Revue passieren zu lassen.

In den vergangenen Jahren habe ich im Vorfeld immer gerätselt, wer den Preis erhalten könnte. Längst habe ich dies aufgegeben und lasse mich an dem Abend gerne überraschen. Wobei Insider, die einen wissenden Blick auf das Programm werfen, natürlich klar im Vorteil sind: Die Wahrscheinlichkeit ist recht hoch, dass der Programmpunkt, der nach der Verleihung an der Reihe ist, im direkten Zusammenhang mit dieser steht. Auch in diesem Jahr traf es zu: Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia, Assistent Bobby Briscoe und die Tänzer*innen der Ballettcompagnie durften diesen Preis für ihre herausragende künstlerische wie tänzerische Leistung in der vergangenen Spielzeit entgegen nehmen. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

Direkt im Anschluss zeigte die Compagnie ihre Kunst in einem Ausschnitt aus dem Ballett zu DIE VIER JAHRESZEITEN aus der Saison 2023/2024. Mit dem „Pas de deux“ aus DER NUSSKNACKER begeisterten Dawon Yang und Marco Maronglu voller Grazie, Kraft und Anmut und machten Lust auf Tschaikowskis Märchenballett, dass im Oktober im Großen Haus zur Premiere kommt.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Im JUB – Junges Theater Bremerhaven steht mit TROJA! BLINDE PASSAGIERE IM TROJANISCHEN PFERD von Henner Kallmeyer anscheinend eine sehr vergnügliche „Geschichtsstunde“ auf dem Programm, wie uns Coco Plümer, Tobias Sill und Sander Lybeer nachdrücklich bewiesen. Zu dem danach folgenden Auszug aus FÜNFTER SEIN gesellte sich zusätzlich Ümran Algün mit einem charmanten Auftritt zu ihren Kolleg*innen vom JUB.

Im kleinen Haus feiert bald DIE BAGAGE nach dem Roman von Monika Helfers seine Premiere. Diese Bühnenfassung wurde von JUB-Schauspielerin Coco Plümer erstellt und kommt somit als Erstaufführung auf die Bühne. Anna Caterina Fadda, Leon Häder und Angelika Hofstetter gaben einen sehr intensiven Einblick von der ersten Szene des Stücks.

„Romeo & Julia III.“: Nachdem in den vergangenen Jahre sowohl der Klassiker von Shakespeare als auch das Ballett mit der Musik von Prokofjew auf einer der Bühnen des Stadttheaters zu sehen war, scheint der Weg zur Opern als logische Folge unausweichlich. Als konzertante Fassung wird I CAPULETI E I MONTECCHI von Vincenzo Bellini den Spielplan bereichern. Sopranistin Victoria Kunze kleidete bei der Romanze „Oh! Quante volte“ Julias Sehnsucht nach ihrem Liebsten in feinen lyrischen Gesangslinien voller sanfter Melancholie.

Mit SWEENEY TODD von Stephen Sondheim steht in dieser Saison ein grandioses Werk aus dem Musical-Kanon auf der Agenda des Stadttheaters Bremerhaven. Wie feinsinnig, subtil und gleichzeitig lustig Musical sein kann, das beweist nicht nur dieses Werk sondern auch die Interpretin bzw. der Interpret. Nuanciert, mit schlichter Zurückhaltung und zartem Schmelz besang Tenor Andrew Irwin als Anthony seine große Liebe „Johanna“. Voller Spielfreude schlüpfte Mezzosopranistin Boshana Milkow in die Rolle der Mrs. Lovett und versuchte schlitzohrig und mit deftigen Charme „Londons schlimmste Pasteten“ unter das Volk zu bringen (Oder doch eher das Volk unter die Pasteten?). Beide meisterten sie grandios die Tücken der anspruchsvollen Partitur.

Apropos „schlichte Zurückhaltung“: Für die Arie „Mein Sehnen, mein Wehnen“ aus DIE TOTE STADT von Erich Wolfgang Korngold schien die lyrische Stimme des Baritons Marcin Hutek geradezu prädestiniert zu sein. Hier bewahrheitete sich abermals das Motto „weniger ist mehr“, denn nicht jedes Musikstück gewinnt durch eine auftrumpfende Stimme.

Doch dank LA TRAVIATA muss auf die große Oper in dieser Saison nicht verzichtet werden: Bevor Victoria Kunze und Weilian Wang mit „Libiamo, ne´lieti calici“ das ganz große Opern-Besteck auspackten, glänzte der Opernchor bei „Cori di Zingarelle/Mattadori“ in schönster stimmlicher Pracht.

Wie ein prall gefüllter Korb mit vielfältigen Leckereien präsentierte das Stadttheater Bremerhaven sein Programm zur Spielzeit 2025/2026 und lockte so verführerisch, dass ich mit Sicherheit das eine oder andere kulturelle Häppchen davon naschen werde.


THEATERFEST 2025 Nur wenige Stunden später lud das Stadttheater Bremerhaven zum Theaterfest ein, öffnete alle seine Türen und präsentierte ein buntes Programm vor, auf, hinter und neben der Bühne, u.a. mit Führungen, Mini-Konzerte, Besuch der Werkstätten, Einblicke in Proben, Kostümverkauf und vielen Mitmach-Aktionen. Da fiel es mir wahrlich schwer, eine Auswahl zu treffen, und ich musste aufpassen, dass es nicht zu einem Theater-Marathon ausartete. Glücklicherweise ist bei mir ein „Programmpunkt“ zwecks Regeneration jedes Jahr fest gesetzt: Der Besuch des Kuchenbüfetts der Landfrauen! 😉

Diese Diashow benötigt JavaScript.


Mit der Eröffnungsgala und dem Theaterfest beginnt offiziell die SAISON 2025/2026 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit einem vielfältigen Programm begeistert.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2024/2025 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Ouvertüre zu RUSLAN UND LUDMILLA von Michail Glinka sowie Arien, Songs und Musiken von Alan Jay Lerner & Frederick Loewe, Sergei Prokofjew, Wolfgang Amadeus Mozart und Giacomo Puccini

mit Ausschnitten aus DER DIENER ZWEIER HERREN von Carlo Goldoni/ Kay Neumann, TARTÜFF ODER DER GEISTIGE von John von Düffel, WOLF von Saša Stanišić, DIE WELT ZWISCHEN DEN NACHRICHTEN von Judith Kuckart & Ensemble sowie dem Ballett ROMEO UND JULIA von Alfonso Palencia

Premiere: 31. August 2024 / besuchte Vorstellung: 31. August 2024

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


MUSIKALISCHE LEITUNG Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
CHOR Edward Mauritius Münch
SZENISCHE EINRICHTUNG Annika Ellen Flindt
MODERATION Lars Tietje, Marc Niemann, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Alfonso Palencia, Markus Tatzig

Musiktheater: Ulrich Burdack, Marcin Hutec, Andrew Irwin, Victoria Kunze, Boshana Milkov, Agnes Selma Weiland (als Gast), Thomas Paul (als Gast)
Ballett: Melissa Festa, Arturo Lamolda Mir
Schauspiel: Frank Auerbach, Henning Z Bäcker, Anna Caterina Fadda, Leon Häder, Angelika Hofstetter, Kay Krause, Julia Lindhorst-Apfelthaler, Alexander Smirzitz, Marc Vinzing, Marsha B Zimmermann, Aom Flury (als Gast)
JUB: Janek Biedermann, Ulrich Fassnacht, Meike Hoßbach, Coco Plümer
Opernchor am Stadttheater Bremerhaven
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


Die Tür der Tiefgarage öffnete sich und schlagartig war die Musik vom nahen Weinfest auf dem Theodor-Heuss-Platz zu hören. Auf dem Theatervorplatz standen einsam die Bühne sowie einige Pavillons und wartete auf ihren Einsatz beim morgigen Theaterfest. Aus den Fenstern des Theater erstrahlte warmes Licht und lockte mich ins Innere. Die neue Spielzeit konnte (durfte endlich) beginnen.

Eröffnet wurde die Gala mit der Ouvertüre zu RUSLAN UND LUDMILLA von Michail Glinka, die das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann energiegeladen vortrug und so die Gala voller Schwung eröffnete. Marc Niemann versprach ein Wiederhören mit diesem musikalischen Werk beim NEUJAHRSKONZERT, das zudem mit einer wunderbaren Besonderheit aufwarten wird. Doch auch unter dem Dirigat von Hartmut Brüsch und Davide Perniceni, die den Taktstock bei den Programmpunkten zu den ihnen anvertrauten Produktionen übernahmen, zeigten die Musiker*innen des Philharmonischen Orchesters ihr Können.

„Never change a winnig team!“: Warum sollte etwas verändert werden, was sich nur allzu gut bewährt hat? Und somit führte abermals Intendant Lars Tietje hauptverantwortlich durch das Programm und bat bei passender Gelegenheit – sozusagen als „Sidekick“ – die jeweilige Sparten-Leitung in den Personen von Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia auf die Bühne.

Im Schauspiel beginnt die Spielzeit mit DER DIENER ZWEIER HERREN, einem Komödien-Klassiker von Carlo Goldoni, der durch Kay Neumann einen Bremerhaven-typischen Touch erhielt. Frank Auerbach, Henning Z Bäcker, Anna Caterina Fadda, Kay Krause, Alexander Smirzitz, Marsha B Zimmermann und Aom Flury zeigten in der dargebotenen Szene, wie viel Esprit in diesem Stück steckt.

Statt einer klassischen Operette gibt es in diesem Jahr ein Musical, das allerdings sehr in der europäischen Musik-Tradition verankert ist und seit der deutschen Erstaufführung zu den beliebtesten Werken seiner Gattung zählt: MY FAIR LADY. Mit sonorem Bass wünschte sich Ulrich Burdack charmant „Bringt mich pünktlich zum Altar“. Andrew Irwin bot bei „Weil ich weiß, in der Straße wohnst du“ mit fein-akzentuierter Stimme und schelmischen Spiel eine der besten Interpretationen dieses Songs, denen ich bisher – sowohl live wie auch auf CD – lauschen durfte. Gäbe es eine bessere Wahl für die Partie der Eliza Doolittle: Bei „Ich hätt’ getanzt heut’ Nacht“ brillierte Victoria Kunze mit ihrem wunderschönen Sopran wieder bis in die höchsten Töne. Flankiert wurden die Sänger*innen durch den bestens disponierten Opernchor, bei dem der neue Chordirektor Edward Mauritius Münch für die Einstudierung verantwortlich zeichnete.

Einer der Höhepunkt der jährlichen Gala ist stets die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. Gerne rätsele ich im Vorfeld mit, wer es werden könnte. In diesem Jahr tat ich es nicht, und so wurde ich von der Entscheidung ebenso überrascht wie die Preisträgerin selbst: Eine sprach- wie fassungslose Julia Lindhorst-Apfelthaler stand – schon mit den Requisiten für die nachfolgende Szene in der Hand – auf der Bühne und wurde für ihre herausragenden darstellerischen Leistungen geehrte. Absolut verdient: HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

Apropos Requisiten: Diese kamen direkt im Anschluss der Preisverleihung zum Einsatz bei einer Szene aus TARTÜFF ODER DER GEISTIGE, eine Wiederaufnahme aus der vergangenen Saison. Gemeinsam mit Marc Vinzing bot Julia Lindhorst-Apfelthaler einen pointierten wie witzigen verbalen Schlagabtausch.

In dieser Saison schenkt uns Ballettdirektor und Chefchoreograf Alfonso Palencia mit ROMEO UND JULIA wieder ein Handlungsballett. Konnte bis vor wenigen Wochen die wohl bekannteste Liebesgeschichte der Welt noch auf der Sommerbühne als Schauspiel erlebt werden, wird sie nun mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Tanzes erzählt. Melissa Festa und Arturo Lamolda Mir tanzten in der berühmten Balkon-Szene voller Leidenschaft, Ästhetik und Sinnlichkeit zur Musik von Sergei Prokofjew.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


Das JUB (Junges Theater Bremerhaven) ist immer für eine Überraschung gut: Diesmal haben sie vom mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis geadelten Kinderbuch WOLF von Saša Stanišić eine eigene Fassung für die Bühne erarbeitet. In der gezeigten Szene mimten Janek Biedermann, Ulrich Fassnacht, Meike Hoßbach und Coco Plümer eine Gruppe Jugendlicher, deren Geduld während einer Waldwanderung zunehmend auf eine harte Probe gestellt wird.

Ich konnte mir ein „Das wird aber auch Zeit!“ nicht verkneifen, als ich erfuhr, dass Marcin Hutek in LE NOZZE DI FIGARO von Wolfgang Amadeus Mozart die Partie des Grafen Almaviva übernehmen wird. Hutek ist schon seit einigen Jahren Mitglied des Musiktheater-Ensembles, doch durfte bisher sein Talent „nur“ (!) in kleineren Rollen zeigen. Ich bin der Meinung, dass da eine große Partie längst überfällig war. Dass er fähig ist, diese mit seinem warmen Bariton zu gestalten, zeigte er mit dem Rezitativ „Hai già vinta la causa!“ und der anschließenden Arie „Vedrò, mentr’io sospiro“. Boshana Milkov überzeugte abermals mit ihrem tragfähigen, schön fließenden Mezzo in der Arie des Cherubino „Non so più“. Und auch bei diesem Medley würzte der Opernchor mit „Giovani liete fiori spargete“ die Szenerie mit seinem Gesang.

Die kommende Spielzeit hält etwas Besonderes bereit: Erstmals gibt es mit DIE WELT ZWISCHEN DEN NACHRICHTEN eine Kooperation des Stadttheaters Bremerhaven mit der bremer shakespeare company, wo das Stück abwechselnd auf dem Spielplan stehen wird. Eine „Night Radio Show“ bildet den Rahmen für Shakespeares Sonette und somit für die Geschichten der Menschen, die beim Moderator anrufen und aus ihrem Leben erzählen. Leon Häder und Angelika Hofstätter machten mit ihrem Auftritt neugierig auf diese ungewöhnliche Inszenierung.

Im Musiktheater wird die Saison mit TURANDOT von Giacomo Puccini eröffnet: In der Partie der Titelfigur machte Agnes Selma Weiland mit hochdramatischen Sopran mit der Arie „In questa reggia“ nachdrücklich auf sich aufmerksam. Mit der Tenor-Arie des Opern-Repertoires „Nessun dorma“ empfahl sich Thomas Paul sehr effektvoll für die Rolle des Calàf. Bei der emotionalen Arie „Diecimile anni al nostro Imperatore“ stand Agnes Selma Weiland der Opernchor an Dramatik in nichts nach.

Mit einem frenetischen Applaus, Standing Ovation, Bravo-Rufe und Begeisterungs-Pfiffe wurden nicht nur die Künstlerinnen und Künstler verabschiedet – vielmehr galt der Dank ebenso den vielen Menschen vor, hinter, neben und über der Bühne. Denn nur in der Gemeinschaft eines Teams ist es möglich, den Theaterzauber immer wieder erneut aufleben zu lassen. 💖


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2024/2025 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Kinder- und Jugendtheater] Erich Kästner – DAS DOPPELTE LOTTCHEN / Stadttheater Bremerhaven

Familienstück zur Vorweihnachtszeit / nach dem Kinderbuchklassiker von Erich Kästner / für die Bühne bearbeitet von Henning Bock und Jürgen Popig // ab 6 Jahren

Premiere: 17. November 2023 / besuchte Vorstellung: 10. Dezember 2023
Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


INSZENIERUNG Jens Kerbel
BÜHNE & KOSTÜME Toto
DRAMATURGIE Bianca Sue Henne
REGIEASSISTENZ Sydney Mikosch
INSPIZIENZ Regina Wittmar
THEATERPÄDAGOGIK Katharina Dürr


Die Schwingtür hinter mir pendelte sich langsam aus, als ich an diesem frühen Nachmittag den Kassenraum verließ und weiter zur Garderobe schlenderte. Die Dame an der Garderobe und ich sahen uns an, beinah zeitgleich öffneten wir die Münder zum Gruß, dann zögerten wir beide. „Jetzt hätte ich ihnen beinah einen guten Abend gewünscht!“ stammelte ich. Die Dame an der Garderobe lachte und sagte „Ich hatte es auch auf der Zunge. Es ist nicht ihre Zeit!“. Stimmt, es war nicht meine übliche Zeit, an der ich sonst dieses Theater betrete. Doch was blieb mir anderes übrig: Für Erich Kästner erscheine ich auch gerne zur unüblichen Zeit! 😄

Sie sind wahrscheinlich das bekannteste Zwillingspaar in der Literaturgeschichte: Luise Palfy aus Wien und Lotte Körner aus München. Schon in den 40er Jahren konzipierte Kästner ein Filmtreatment zu diesem Stoff, dass er dem Filmregisseur Josef von Báky vorstellte. Doch ein von den Nationalsozialisten verhängtes Arbeitsverbot durchkreuzte seine Filmpläne. So arbeitete Kästner nach Kriegsende die Geschichte zunächst zu einem Roman aus, dem wenige Jahre später der Film unter von Bákys Regie folgen sollte.

Kästner sprach im biederen Nachkriegsdeutschland Themen an, die damals zu Diskussionen führten. Das Thema Scheidung war wohl vormals noch nie in einem Kinderbuch zur Sprache gekommen. Auch die Figur der selbstständigen, alleinerziehenden und berufstätigen Mutter entsprach ebenso wenig dem gängigen Klischee, wie die Charakterisierung der beiden Mädchen, die eigenständig agieren und jede für sich eine entscheidende Entwicklung durchmachen.

Nachdem die Verfilmung von 1950 ein großer Erfolg wurde und sogar als erster Film den Bundesfilmpreis erhielt, sollten weitere, auch internationale Verfilmungen folgen. Kein Wunder, dass das doppelte Lottchen zwangsläufig ihren Weg auf die Bühne finden musste.

Endlich Sommerferien! Luise hat schnell alle Kinder im Ferienheim fest im Griff – bis Lotte vor ihr steht und sie die Welt nicht mehr versteht, denn dieses Mädchen gleicht ihr wie ein Ei dem anderen – jedoch nur von außen, denn im Temperament könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Da sie auch am selben Tag Geburtstag haben, kommt schnell heraus, was hier los ist: Ihre feinen Eltern haben sich kurz nach der Geburt der Mädchen getrennt – und die Kinder gleich mit. Doch da haben sie die Rechnung ohne ihre Zwillinge gemacht! Luise und Lotte tauschen nach den Ferien die Rollen, um die Familie wieder zusammen zu bringen. Ein großer Spaß, denn hier geht so einiges schief auf dem Weg zum Happy End!

(Inhaltsangabe dem Programmzettel zu dieser Produktion entnommen.)

Die in Bremerhaven gespielte Fassung von Henning Bock und Jürgen Popig kam 2002 im Staatstheater Stuttgart zur Uraufführung und besticht mit seiner deutlichen Nähe zum Ur-Text. Die Dialoge scheinen eins zu eins dem Roman entnommen zu sein. Dafür vermisste ich die leisen Töne, die Kästner dem Erzähler des Romans bzw. sich selbst bei der Verfilmung in den Mund legte.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


In Bremerhaven setzte Regisseur Jens Kerbel auf Tempo. Dabei schrammte er manchmal nah an der Hektik vorbei. Vielleicht war dies auch der ursprünglich geplanten Aufführungsdichte geschuldet: Bei einer Spiellänge von ca. 75 Minuten ohne Pause und Vorstellungen um 9.00 und 11.00 Uhr bleibt nicht viel Zeit für interpretatorischem Schnickschnack. Dafür passierte ständig etwas auf der Bühne, das die Aufmerksamkeit der kleinen wie großen Zuschauer*innen fesselte. Zusammen mit den Schauspieler*innen kreierte Kerbel so manch herrlich ulkige Szene, verstand es aber auch sowohl die unterschiedlichen Charaktere der Zwillinge als auch deren zögerliche Annäherung und spätere Verbundenheit sichtbar und somit nachvollziehbar zu gestalten. Auch gefiel mir sehr der „offene“ Schluss, der nicht mit der obligatorischen Wieder-Heirat der Eltern endet, sondern aufmerkt, dass es verschiedene Möglichkeiten des familiären Zusammenlebens gibt.

Aussatter Toto (aka Torsten Mittelstädt) stapelte große Bauklötze auf der Drehbühne, die je nach Winkel die unterschiedlichen Handlungsorte darstellten, und ermöglichte so einen flüssigen „Umbau“. Dabei wurde auch die Seitenbühne klug in das Konzept involviert. Gemeinsam mit den markanten Details, die vom Schnürboden schwebten, und den gefälligen Hintergrundprojektionen schuf er eine stimmungsvolle Atmosphäre. Maske und Kostüm verorteten die Handlung in die 50er Jahre und gefielen in ihrem charmanten Retro-Chic.

Diese Verortung empfand ich als äußerst angenehm, da es der Geschichte einen märchenhaften Anstrich gab, aber gleichzeitig zeigte, dass die „gute alte“ Zeit eben genau dies nicht war. Zudem war Kästner (wie so oft) so weitsichtig, dass er in seinen Kinderbüchern solch universelle Themen ansprach, die auch heute noch ihre Gültigkeit besitzen. Würde die Handlung im Hier und Jetzt spielen, wäre es zudem völlig unglaubwürdig, dass das Geheimnis der Zwillinge „dank“ Whatsapp, Tik Tok & Co. geheim bleiben könnte.

Sieben Schauspieler*innen stehen auf der Bühne, erwecken die Kästner’schen Figuren zum Leben und schlüpfen – außer im Falle unserer Titelheldinnen – in die verschiedensten Rollen. Janek Biedermann eröffnet die Szenerie: Sein Erzähler ist eine Mischung aus Zirkusdirektor und Clown. Zudem gibt er – neben Lottes Lehrer in München – noch den Dr. Strobel nebens Hund Pepperl in Wien und amüsiert als Metzger Huber mit seiner Hüften schwingenden Elvis-Imitation. Allein der enorme Größenunterschied zwischen ihm als verhuschter Herr Ulrich und Isabel Zeumer als resolute Frau Muthesius sorgte schon für viele Lacher im Publikum. Isabel Zeumer gefiel zudem als verängstigte Kellnerin und lieferte sich als tolpatschige Resi ein komisches Duell mit dem Telefonkabel oder kämpfte verzweifelt widerwillig mit dem Hund Pepperl auf ihrem Arm.

Carina Sönksen, Ulrich Fassnacht und Marsha Zimmermann standen vor der herausfordernden Aufgabe sowohl in die Rollen von Kindern wie auch Erwachsenen zu schlüpfen und meisterten diese Wandlung souverän. Konnte Carina Sönksen als Trude zwangsläufig weniger Eindruck hinterlassen, gelang ihr dies als rustikale Anni Habersetzer, die kleinere Kinder trietzt, durchaus besser. Als kapriziöse, eitle und verwöhnte Irene Gerlach, die mit allen Mitteln bekommt, was sie begehrt, sicherte sie sich die Antipathie des Publikums. Ulrich Fassnacht polterte überzeugend als ewig hungriger Rabauke Chris über die Bühne, um dann in den Smoking des schöngeistigen Dirigenten und Komponisten Ludwig Palfy zu schlüpfen, dessen ach so gemütliche Welt plötzlich durcheinander gerät. Marsha Zimmermann sorgte als Scheidungskind Steffie für einen berührenden Moment. Als sympathische Luiselotte Körner war sie von einem handfesten Pragmatismus in ihrem Versuch, ihre Doppelrolle als alleinerziehende Mutter und berufstätige Frau zu meistern.

Das Titel gebende Duo teilten sich Coco Plümer als Lotte Körner und Gästin Fenja Abel als Luise Palfy. Sehr schön harmonierten sie in ihrem gemeinsamen Zusammenspiel und formten – trotz optischer Ähnlichkeit – zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Persönlichkeiten. Fenja Abels Luise war der quirligere, spontanere Zwillinge mit einem großen Sinn für Gerechtigkeit. Coco Plümer porträtierte Lotte dagegen ernster, patenter und beinah (zu) erwachsen. Luise handelt erst und überlegt dann; Lotte überlegt, bevor sie handelt: Beide Schauspielerinnen schafften es so, die bisherige Prägung der Figuren aus dem jeweils halben Elternhaus in die Entwicklung ihrer Rollen einfließen zu lassen.

Fun Fact: Ratet mal, welche Oper Ludwig Palfy dirigiert, während seine Tochter Luise alias Lotte ihm von der Loge aus zusieht? Diese Märchenoper spielt im Roman und somit auch in dieser Bühnenfassung eine nicht unerhebliche Rolle und kann als Allegorie für die Situation der Zwillinge gedeutet werden. So wird sie einerseits in der (Alp-)Traum-Sequenz zitiert, aber auch während der Vorstellung erklingen immer wieder ihre Melodien. Diese Märchenoper steht zurzeit auf dem Spielplan des Stadttheaters Bremerhaven. Kann das wirklich ein Zufall sein?!

Das Stadttheater Bremerhaven schenkte mir 75 höchst kurzweilige und amüsante Minuten mit einer Inszenierung, bei der nicht nur „Kästner“ drauf stand, sondern auch erfreulich viel „Kästner“ drin war!


Radio Bremen hat seine gnadenlosesten Kritiker*innen in die Premiere geschickt:

https://www.butenunbinnen.de/videos/weihnachtsmaerchen-das-doppelte-lottchen-stadttheater-bremerhaven-100.html


Noch bis zum 2. Weihnachtsfeiertag tollen die berühmten Zwillinge als DAS DOPPELTE LOTTCHEN über die Bühne des Stadttheaters Bremerhaven.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2023/2024 / Stadttheater Bremerhaven

mit dem Main-Theme aus „The Sea Hawk“ von Erich Wolfgang Korngold sowie Arien und Musiken von Jerry Bock, John Du Prez & Eric Idle, Antonín Dvořák, Franz Lehár und Giacomo Puccini

mit Ausschnitten aus „Der zerbrochne Krug“ von Heinrich von Kleist, „Glanz“ von Christina Kettering, „Der Untergang des Hauses Usher“ von Justine Wiechmann und Elisabeth Kirschbaumer (nach Edgar Allan Poe) und dem Ballett „Seelen“ von Alfonso Palencia

Premiere: 2. September 2023 / besuchte Vorstellung: 2. September 2023

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch, Tonio Shiga
Chor: Mario Orlando El Fakih Hernández
Szenische Einrichtung: Annika Ellen Flindt
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Alfonso Palencia,
Markus Tatzig

Musiktheater: Ulrich Burdack, Signe Heiberg, Marcin Hutec, Andrew Irwin,
Konstantinos Klironomos, Victoria Kunze, Boshana Milkov
Ballett: Helena Bröker, Melissa Festa, Volodymyr Fomenko, Lucia Giarratana,
Arturo Lamolda Mir, Marco Marongiu, Alícia Navas Otero, Zoe Irina Sauer Llano,
Melissa Panetta, Clara Silva Gomes, Ming-Hung Weng, Dawon Yang
Schauspiel: Frank Auerbach, Richard Feist, Justus Henke, Kay Krause, Marc Vinzing,
Marsha Zimmermann
JUB: Janek Biedermann, Ulrich Fassnacht, Coco Plümer
Opernchor am Stadttheater Bremerhaven
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


„The same procedure as every year!“

…könnte man ausrufen, denn – Ja! – der Ablauf einer Eröffnungsgala am Stadttheater Bremerhaven ist Jahr für Jahr recht identisch – nur die Inhalte variieren natürlich. Und gerade dieses Festhalten am Gewohnten schafft für mich als Zuschauer eine wohlbekannte und kuschelige Sicherheit und steigert meine Vorfreude, dass ich nach den enthaltsamen Sommermonaten endlich wieder Theaterluft schnuppern darf.

Gleich zu Beginn der Gala kredenzte uns das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann ein Highlight (von vielen, die noch folgen sollten): Das musikalische Hauptthema einer filmischen Piraten-Schmonzette mit Errol Flynn aus dem Jahre 1940, zu der niemand geringerer als Erich Wolfgang Korngold die Musik beisteuerte und so ganz nebenbei die Filmmusik revolutionierte. Das Motto der diesjährigen Konzert-Saison lautet Fremde Heimat: Korngold war vor den Nazis nach Amerika geflohen und musste sich dort eine neue Existenz aufbauen. War der Film „The Sea Hawk“ auch ein Leichtgewicht, so war es die Musik von Korngold ganz und gar nicht, die Niemann mit dem Philharmonische Orchester symphonisch-voluminös und mit einer enormen Klangfülle zu Gehör brachten. Doch auch Davide Perniceni, Hartmut Brüsch und Tonio Shiga ließen es sich nicht nehmen, bei den Programmpunkten zu den ihnen anvertrauten Produktionen hier bei der Eröffnungsgala den Taktstock zu schwingen.

Intendant Lars Tietje gab auch in diesem Jahr einen launig-entspannten Conférencier und holte sich bei passender Gelegenheit die jeweilige Sparten-Leitung in den Personen von Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia an seine Seite.

Frank Auerbach, Richard Feist, Justus Henke und Marsha Zimmermann sorgten mit einem Ausschnitt aus Heinrich von Kleists Lustspiel-Klassiker DER ZERBROCHNE KRUG, der in einem moderneren Gewand präsentiert wird, für die ersten Lacher im Publikum. Der zum Einsatz kommende Kühlschrank mit „Special Effect“ könnte sich durchaus zum Running-Gag entwickeln.

Die Weihnachtspremiere der Oper RUSALKA von Antonín Dvořák verspricht ein ungewöhnliches Hörerlebnis, da sie in tschechischer Sprache aufgeführt wird. Dies ist bestimmt auch für die Sänger*innen eine Herausforderung, die aber hervorragend gemeistert wird, wie Boshana Milkov sowie Ulrich Burdack gemeinsam mit dem Opernchor, der wieder bestens durch Mario Orlando El Fakih Hernández vorbereitet wurde, nachdrücklich unter Beweis stellten.

Auch in diesem Jahr kam es zur Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr wartete die Jury mit einer Überraschung auf: Nicht eine Person oder Sparte wurde geehrt, diesmal erhielten Toni Burkhardt (Regie), Adriana Mortelliti (Kostüme) und Wolfgang kurima Rauschning (Bühnenbild) gemeinsam diese Auszeichnung für ihre grandiose Umsetzung der Oper BREAKING THE WAVES. Völlig verdient: Auch mich hatte diese Inszenierung nachhaltig beeindruckt.

Die letztjährige Preisträgerin Victoria Kunze behauptete gegenüber ihrem „Partner in Crime“ Andrew Irwin (😉) „Ich bin eine anständ’ge Frau“. Na, ob das wirklich stimmt, da können wir uns in DIE LUSTIGE WITWE, dem Operetten-Klassiker von Franz Lehár überzeugen. Mit einem schmissigen „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“ spülten uns Signe Heiberg, Ulrich Burdack und Konstantinos Klironomos mit Unterstützung des Operchores aus dem Saal hinaus in die Pause.

Erst seit einer Spielzeit ist Alfonso Palencia als Ballettdirektor am Haus, und schon hat er deutliche künstlerische Spuren hinterlassen. So überzeugen seine Choreografien durch Emotionalität und Ästhetik. Dies galt auch für die gezeigten Ausschnitte aus dem drei-geteilten Ballettabend SEELEN, die von der Company grandios umgesetzt wurden. Am Ende erhielten die Tänzer*innen einen frenetischen Applaus als Lohn. Tanz scheint mir die Kunstform zu sein, die dem Künstler am Meisten abverlangt und das höchste Maß an Disziplin fordert.


Diese Diashow benötigt JavaScript.


In dieser Spielzeit steht mit GLANZ von Christina Kettering eine Uraufführung auf dem Spielplan vom JUB (Junges Theater Bremerhaven). In diesem Stück erfindet sich eine junge Frau via Social Media neu und verstrickt sich immer weiter in Lügen: Coco Plümer, Janek Biedermann und Ulrich Fassnacht zeigten mit einem Ausschnitt, wie nah dieses Thema an der Gefühlswert der heutigen Jugend ist.

Doch nicht nur aktuelle Themen werden in den Spielplänen der einzelnen Sparen aufgegriffen, auch die Freunde der klassischen Grusel- und Schauerliteratur kommen weiterhin auf ihre Kosten: Schon in der vergangenen Spielzeit hatte DER UNTERGANG DES HAUSES USHER von Justine Wiechmann und Elisabeth Kirschbaumer (nach der gleichnamigen Erzählung von Edgar Allan Poe) Premiere. Diese beim Publikum sehr beliebte Inszenierung wird auch in dieser Saison weiterhin als Wiederaufnahme zu sehen sein, aus der Marc Vinzing den großen Eröffnungs-Monolog im beinah dunklem Saal gekonnt-unheilschwanger zum Besten gab.

Mit TOSCA von Giacomo Puccini eröffnet das Musiktheater die neue Saison und bietet nicht nur einen Klassiker und Publikumsliebling des Genres, sondern hier am Stadttheater Bremerhaven mit Signe Heiberg und Konstantinos Klironomos zudem ein fulminantes Leading-Paar. Schon mit „Meno male! Egliè la“, der ersten Szene des Tosca-Blocks, in der Marcin Hutec, Andrew Irwin und Konstantinos Klironomos vor dem Orchester standen und sangen, während stückbedingt Signe Heiberg gemeinsam mit dem Opernchor und dem Extrachor von der Seitenbühne zu hören waren, zeigte eindringlich die hohe sängerische Qualität des Hauses. Cavaradossis Arie „E lucevan le stelle“ gestaltete Konstantinos Klironomos voller Wehmut und Trauer, während Toscas „Vissi d’arte“ bei Signe Heiberg sich vom anfänglichen Klagelied beinah bis zur kämpferischen Hymne steigerte. Grandios!!!

Auch wenn das „große“ Musical in dieser Spielzeit beim Schauspiel zu finden ist, so hat das Musiktheater mit THE APPLE TREE von Jerry Bock und Sheldon Harnick zumindest eine deutschsprachige Erstaufführung am Start. Dem Team Bock/Harnick verdanken wir u.a. das wunderbare Musical „Anatevka (Fiddler on the Roof)“. THE APPLE TREE verspricht, ein musical-isches Schmankerl in bester Broadway-Sound-Tradition (Die Ouvertüre wusste schon zu gefallen!) zu werden. Das Musical beschäftigt sich in drei in sich abgeschlossenen Geschichten um das Thema „Verführung“: So dürfen sich Adam und Eva mit der Schlange kabbeln, oder eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen träumt vom Glitzer der Show-Welt. Apropos: Marcin Hutek war in den vergangenen Spielzeiten ja schon so einiges, u.a. Chef des Olymps. Jetzt durfte er als Schlange den Sündenfall verschulden und versuchte musikalisch seine „Verbot’ne Frucht“ an die Frau zu bringen. Mit „Wahnsinn“ amüsierte Victoria Kunze keck als aufstrebendes aber sich selbst überschätzendes Show-Sternchen. Andrew Irwin gestaltete Adams Klagelied auf „Eva“ so fein akzentuiert, dass es die reine Freude war, ihm zu lauschen.

Das „große“ Musical ist – wie schon erwähnt – in dieser Spielzeit beim Schauspiel verankert: Bei der Musical-Parodie SPAMELOT von Eric Idle und John du Prez nach Monty Phytons „Die Ritter der Kokosnuss“ erwarte ich allerdings auch keinen Schön-Gesang sondern vielmehr ein Feuerwerk an Pointen, die – im wahrsten Sinne des Wortes – auf dem Punkt kommen. Trotzdem dürfen wir uns auf ein komplettes Orchester incl. Opernchor freuen. Bei „Such den Gral“ überzeugte Kay Krause mit gekonntem Sprechgesang als kauziger König Artus. Für die erkrankte Julia Lindhorst-Apfelthaler, die in dieser Inszenierung die Fee aus dem See geben wird, sprang bei der Eröffnungs-Gala kurzfristig Boshana Milkov ein und „soulte“ sich voller Wonne durch den Song.

Mit dem Ohrwurm „Always look on the bright side of life“ wurden wir in die laue Sommernacht Bremerhavens entlassen.


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2023/2024 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2022/2023 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen sowie Arien und Musiken von Bedrich Smetana, Gioachino Rossini, Wolfgang Amadeus Mozart, Antonio Vivaldi, Carl Maria von Weber, Giacomo Puccini, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky und Carl Millöcker

mit Ausschnitten aus „Viel Lärm um Nichts“ von William Shakespeare, „Outfit of the day“ von Inda Buschmann & JUB-Ensemble und den Balletten „Black Angels“ und „Dornröschen“ von Alfonso Palencia

Premiere: 3. September 2022 / besuchte Vorstellung: 3. September 2022

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig, Alfonso Palencia
Szenische Einrichtung: Annika Ellen Osenberg

Musiktheater: Ulrich Burdack, Signe Heiberg, Andrew Irwin, Konstantinos Klironomos,
Victoria Kunze, Boshana Milkov
Ballett: Renan Carvalho, Melissa Festa, Stefano Neri, Ting-Yu Tsai,
Schauspiel: Henning Bäcker, Marsha Zimmermann
JUB: Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer, Severine Schabon
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


2½ Monate musste ich schmerzlich darben! 2½ Monate musste ich auf Theater verzichten! Okay, okay, es ist „Leiden auf hohem Niveau!“: Schließlich hatten wir im letzten Jahr eine ganz andere Durststrecke zu bewältigen. Doch was ich mit diesen Worten zum Ausdruck bringen möchte, ist schlicht und ergreifend meine Freude, wieder ins Theater gehen zu dürfen.

Ja, ich darf, und es ist wahrlich nicht selbstverständlich!

Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann eröffnete die Gala mit der Helios-Ouvertüre von Carl Nielsen und verwies so gekonnt auf das Motto natürlich der diesjährigen Konzert-Saison.

Nach einer äußerst gelungenen Einstands-Saison kann Intendant Lars Tietje nun deutlich entspannter dieser Spielzeit entgegen blicken. In seiner Begrüßung brachte er seiner Freude zum Ausdruck, den Zuschauersaal – nach 2 Jahren der reduzierten Platzauslastung – wieder so üppig mit Publikum gefüllt zu sehen. Dabei gestaltete er launig seine Moderationen und ließ bei div. Programmpunkten auch Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Alfonso Palencia als jeweilige Sparten-Leitung zu Wort kommen.

Henning Bäcker und Marsha Zimmermann boten mit einem Ausschnitt aus William Shakespeares Viel Lärm um Nichts ein komödiantisches Schmankerl: Hier zanken sich die Geschlechter unterhaltsam mit so viel Wortwitz und Intelligenz, dass diese Szene meine Vorfreude auf die komplette Inszenierung schürte.

Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer und Severine Schabon vom JUB (Junges Theater Bremerhaven) präsentierten frech und amüsant eine Szene aus dem Stück Outfit of the day, das das Ensemble gemeinsam mit der Regisseurin Inda Buschmann entwickelt hatte, und zeigten damit nachdrücklich, dass in Bremerhaven modernes Kinder- und Jugend-Theater gemacht wird.

Ballettdirektor Alfonso Palencia gab gleich in zwei Programmpunkten einen Eindruck seines Choreografie-Stils: Bei „Black Angels“ vertanzten Renan Carvalho und Melissa Festa gekonnt athletisch die Musik aus Vivaldis „The Four Seasons“. Doch besonders der Ausschnitt aus dem Ballett Dornröschen mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky zeigte noch deutlicher die Handschrift des Chefchoreografen: Ting-Yu Tsai und Stefano Neri boten eine sinnlich-anmutige und doch auch dynamische Performance. Dieser verführerische Ausschnitte machte Lust auf ein Mehr.

Auch diesmal teilte sich Marc Niemann die musikalischen Programmpunkte mit seinen Kollegen Davide Perniceni und Hartmut Brüsch, die das Orchester und die Solisten ebenso überzeugend durch die Arien leiteten. Wie in jedem Jahr trauere ich einigen Künstler*innen nach, die Bremerhaven leider verlassen haben. Doch gleichzeitig bin ich äußerst neugierig auf die neuen Sänger*innen und kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Dabei ist das Bremerhavener Publikum durchaus zugeneigt, Vorschusslorbeeren in Form eines überschäumenden Applauses verteilen wir nicht. So wurden die „Neuen“ bei ihrem ersten Erscheinen auf der Bühne mit einem durchaus wohlwollenden aber nicht euphorischen Applaus bedacht. Boshana Milkov überzeugte mit ihrem vollen, warmen Mezzo in der Arie „Cruda sorte“ aus Rossinis „L’Italiana in Algeri“ und erhielt ihren verdienten Applaus. Tenor Konstantinos Klironomos betrat beinah respektvoll die Bühne: Nach der grandios gesungenen Arie „Recondita Armonia“ aus „Tosca“ von Giacomo Puccini, die mit einem euphorischen Applaus belohnt wurde, war ihm die Erleichterung sichtlich anzumerken.

Eröffnungsgala Stadttheater Bremerhaven 2022-23 - Foto Otto Oberstech

Doch auch das Wiedersehen bzw. –hören mit den „alten“ Häsinnen/Hasen aus dem Musiktheater bereitete mir wieder eine große Freude: Bass Ulrich Burdack bewies mit der Arie „Jeder, der verliebt“ aus der Oper „Die verkaufte Braut“ von Bedrich Smetana erneut, dass in einem stattlichen Körper eine flexible und trotz der Tiefe auch leicht anmutende Stimme stecken kann. Signe Heiberg rief mit ihrer sinnlichen wie kraftvollen Interpretation von „Si, mi chiamano Mimì“ aus Puccinis „La Bohème“ Erinnerungen in mir wach: Anfang der 90er Jahre war „La Bohème“ die erste Oper, die ich auf einer Bühne sehen durfte – natürlich hier in „meinem“ Stadttheater Bremerhaven. Andrew Irwin gestaltete mit Witz und Spielfreude „Schau der Herr mich an als König“ aus Webers Der Freischütz und schäkerte dabei verschmitzt mit den Damen vom Opernchor.

Apropos Opernchor: In meinen Berichten über Aufführungen am Stadttheater Bremerhaven fällt gerne eine Formulierung wie „…der von mir hin und wieder gescholtene Opernchor“. Das muss nun aufhören! Diese kleine verbale Spitze ist noch meinem Eindruck aus einer Zeit geschuldet, als ich den Opernchor am Stadttheater kennenlernte. Damals gewann ich den Eindruck, die Damen und Herren wären ausschließlich zum Singen auf der Bühne, und schauspielern, tanzen, sich allgemein auf der Bühne bewegen, dies alles stand wohl nicht in ihrer Stellenbeschreibung. Besonders prägend war da für mich eine Aufführung der Oper „Nabucco“ mit dem berühmten Gefangenenchor: Der Chor stand auf der Bühne, erhob die Stimme(n), und der Klang war großartig. Doch dummerweise hatte der Regisseur die Idee, dass die Sänger*innen nach und nach vortreten sollten, um auf der Vorderbühne aus einzelnen Fetzen eine Flagge zusammenzusetzen. In dem Moment, als Bewegung in den Chor kam, brach der Klang kläglich zusammen. Doch in der Zwischenzeit fand im Opernchor am Stadttheater Bremerhaven ein Wechsel statt: Ob es nun ein Generationswechsel, ein Paradigmenwechsel oder welcher Wechsle es auch immer war? Egal! Heute zeigt der Chor sich sehr flexibel und spielfreudig, und einzelne Mitglieder brillieren sogar in Nebenrollen. Und auch ihre Auftritte bei dieser Eröffnungsgala waren absolut charmant und amüsant. Darum: Ich gelobe hiermit feierlich, meine Stichelei zukünftig zu unterlassen!

Auch in diesem Jahr war der Höhepunkt der Gala die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr fiel das Urteil der Jury auf die Sopranistin Victoria Kunze, die sichtlich ahnungslos mit dieser Würdigung überrascht wurde. Für mich war es immer eine Freude, diese Künstlerin auf der Bühne erleben zu können, da sie eine enorme Spielfreude mit sängerischem Können und komödiantischem Talent paart. Den Beweis erbrachte sie mit der Arie „Zeffiretti lusinghieri“ aus „Idomeneo“ vom Groß-Meister Wolfgang Amadeus Mozart.

Nach der Rausschmeißer-Nummer „Trink nur zu“ aus Carl Millöckers Operette „Der Bettelstudent“, bei der sich die Gesangssolisten nebst Opernchor auf der Bühne versammelten, entließen wir alle beteiligten Künstler*innen erst nach Standing Ovation incl. einem frenetischen Applaus. Meine Hände sind noch heute taub…!


Mit dieser Eröffnungsgala beginnt die SAISON 2022/2023 am Stadttheater Bremerhaven, das mich wieder mit seinem vielfältigen Programm begeistert.

[Konzert] ERÖFFNUNGSGALA 2021/2022 / Stadttheater Bremerhaven

mit der Ouvertüre für Orchester von Grażyna Bacewicz und Arien von Johann Strauß, Charles Gounod, Jacques Offenbach, Albert Lortzing, Édouard Lalo und Eduard Künneke

mit Ausschnitten aus „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“ von Tom Stoppard, „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmidt“ von Fin-Ole Heinrich & Dita Zipfl und dem Ballett „Faust“ von Sergei Vanaev

Premiere: 11. September 2021 / besuchte Vorstellung: 11. September 2021

Stadttheater Bremerhaven / Großes Haus


Musikalische Leitung: Marc Niemann, Davide Perniceni, Hartmut Brüsch
Moderation: Lars Tietje, Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig, Sergei Vanaev
Szenische Einrichtung: Edison Vigil

Musiktheater: Ulrich Burdack, Patrizia Häusermann, Signe Heiberg,
Marcin Hutek, Andrew Irwin
Ballett: Alícia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Tanaka Lionel Roki, Stefano Neri
Schauspiel: Henning Bäcker, Leon Häder, Dominik Lindhorst-Apfelthaler
JUB: Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer, Severine Schabon
Philharmonisches Orchester Bremerhaven


Wie Ihr sicherlich schon bemerkt habt, berichte ich hier unter „Kulturelles Kunterbunt…“ gerne und oft von Aufführungen, die ich am Stadttheater Bremerhaven besucht habe. Nun könntet Ihr mir eine gewisse Einseitigkeit in der Berichterstattung vorwerfen bzw. mir unterstellen, ich wäre parteiisch. Dazu möchte ich folgendes erwidern: JA! STIMMT! 

Ich fühle mich der Stadt Bremerhaven und auch dem Stadttheater schon seit Jahrzehnten verbunden. Vielleicht wurde mir diese Verbundenheit schon in die Wiege gelegt: Mein Vater war in den 70er Jahren in der dortigen Fischerei tätig und fuhr mit den großen Fangschiffen „auf hohe See“. Als kleiner Pöks brachte ich ihn gemeinsam mit meiner Mutter zum Anleger und holte ihn dort – einige Monate später – auch wieder ab. Auch als mein Vater längst abgemustert hatte, drängte es ihn immer wieder zum Hafen. Jahre später entdeckte ich das Stadttheater Bremerhaven für mich und saß dort am 22. September 1991 zur Premiere des Musicals „Evita“ zum ersten Mal im Zuschauerraum. Viele weitere Vorstellungen sollten folgen, auch wenn es durchaus auch eine Zeit gab, in der ich die Programmauswahl wie auch einige Inszenierungen etwas bieder empfand und untreu wurde. Doch auch während dieser Periode richtete ich meinen Blick immer zum Stadttheater, und besonders die Intendanz von Ulrich Mokrusch empfand ich als wohltuenden Frische-Kick. Mir gefiel das Gesamtpaket aus Klassikern des Repertoires und aufregenden Neu- bzw. Wiederentdeckungen, aus interessanten Künstlerpersönlichkeiten, deren Weiterentwicklung ich mit verfolgen durfte, aus der spürbaren Nähe zum Publikum, die sich durch vielfältige Aktionen und in persönlichen Begegnungen widerspiegelt. Darum haben wir uns vor einigen Jahren für ein Abonnement entschieden.

Doch die Mokrusch-Ära ist nun vorbei, und der neue Intendant Lars Tietje stellte sich vor. So saßen wir im Zuschauerraum und warteten gespannt auf den Beginn der Eröffnungsgala, die uns einen kleinen Einblick in die kommende Spielzeit geben und gleichzeitig neue Gesichter im Ensemble vorstellen sollte. Ein Blick ins Spielzeitheft 2021/2022 schürte bei uns schon die Vorfreude und versprach, dass es eine spannende und abwechslungsreiche Saison werden würde.

Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Marc Niemann eröffnete die Gala mit „Ouvertüre für Orchester“ von der polnischen Komponistin Grażyna Bacewicz. Sie wirkte auf mich beinah wie der Soundtrack eines alten Hollywood-Klassikers. So ging beim Klang dieses voluminösen Stücks meine Phantasie auf Reisen: Bei den dramatischen Passagen sah ich Cary Grant in einem Sportwagen über unwegsame Serpentinen rasen, in der Hoffnung seine Verfolger abschütteln zu können. Dieser Auftakt war klug gewählt: In der kommenden Konzert-Saison des Philharmonische Orchesters werden die Komponistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, die leider allzu häufig ein Schattendasein gegenüber ihrer männlichen Kollegen führen, im Mittelpunkt stehen.

Intendant Lars Tietje führte souverän durch das Programm und holte sich zu den einzelnen Programmpunkten mit Peter Hilton Fliegel, Bianca Sue Henne, Markus Tatzig und Sergei Vanaev gerne die Leitung der jeweiligen Sparte auf die Bühne.

Henning Bäcker, Leon Häder und Dominik Lindhorst-Apfelthaler vom Schauspiel-Ensemble überzeugten mit einem Ausschnitt aus der Tragigkomödie „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“ von Tom Stoppard. Dieses Stück verspricht mit seinen pointierten Dialogen für eine intelligente Unterhaltung.

Philipp Haase, Luca Hämmerle, Coco Plümer und Severine Schabon vom JUB (Junges Theater Bremerhaven) sorgten in ihren Szenen aus „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmidt“ von Fin-Ole Heinrich & Dita Zipfl für frischen Wind auf der Bühne und amüsierten mit ihrer gerappten Darbietung eines Pfannkuchen-Rezepts.

Andächtige Stille herrschte im Publikum als die Tänzer*innen Alícia Navas Otero, Ting-Yu Tsai, Tanaka Lionel Roki und Stefano Neri die getanzte Version des Faust-Mythos ihres Ballettmeisters Sergei Vanaev virtuos präsentierten. Selbst in den Pausen zwischen den einzelnen Bildern wagte niemand, diese Atmosphäre durch Applaus zu zerstören. Dafür brandete am Ende der Darbietung der Beifall umso enthusiastischer auf.

Bei den musikalischen Programmpunkten gab Marc Niemann den Taktstock einem Staffelstab gleich an seine Kollegen Davide Perniceni und Hartmut Brüsch weiter, die das Orchester und die Solisten ebenso überzeugend durch die Arien leiteten. Das Musiktheater-Ensemble wartete mit einigen vielversprechenden Neu-Zugängen auf: Signe Heiberg sang mit natürlichem Sopran und sympathischer Ausstrahlung die Arie „Grüß dich Gott“ aus der Johann Strauß Operette „Wiener Blut“. Andrew Irwins lyrischer Tenor schmiegte sich durch die Partitur „Vainement ma bien aimée“ von Édouard Lalos „Le Roi d’Ys“. Der variable Bass von Ulrich Burdack gefiel in der Arie „Fünftausend Taler“ aus der Oper „Der Wildschütz“ von Albert Lortzing. 5.000 – diese Zahl scheint bei ihm Programm zu sein: So hat er doch Anfang August bei der beliebten TV-Rate-Show „Gefragt-gejagt“ genau diesen Betrag (natürlich in Euro) erspielt, indem er im Alleingang gegen den Jäger das Finale gewann.

Aber auch die/der „alte“ Häsin/Hase aus dem Musiktheater konnten überzeugen: Bariton Marcin Hutek gehört schon seit der vergangenen Spielzeit zum Ensemble, konnte allerdings Pandemie-bedingt leider nur wenig von seinem Talent zeigen. Hier gab er nun mit der Arie „Avant de quitter ces lieux“ aus Charles Gounods Oper „Faust“ den gelungenen Einstieg zum gleichnamigen Ballett. Höhepunkt der jährlichen Eröffnungsgala ist immer die Verleihung des Herzlieb-Kohut-Preises, mit dem besondere künstlerische Leistungen am Stadttheater Bremerhaven gewürdigt werden. In diesem Jahr nahm eine sichtlich gerührte Patrizia Häusermann diesen Preis in Empfang. Die Mezzosopranistin Patrizia Häusermann gehört schon seit einigen Spielzeiten zum Ensemble und konnte mich immer mit ihrer Musikalität, ihrem Talent und ihrer Wandlungsfähigkeit überzeugen. Dass die Verleihung dieses Preises völlig zu Recht erfolgte, bewies sie mit der gefühlvoll interpretierten Arie „Vois sous…“ aus der Jacques Offenbach-Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen beendete sie die Gala mit dem schmissigen „Batavia-Fox“ aus der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ von Eduard Künneke, zu dessen Gelingen Edison Vigil mit einer humorvollen szenischen Einrichtung beitrug.

Das Stadttheater Bremerhaven kredenzte uns wieder ein schmackhaftes Buffet mit vielen kleinen, feinen Leckereien: So verlies ich kulturell reichlich gesättigt und mit einem wohligen Hochgefühl das Theater!


Mit dieser Eröffnungsgala wurde die SAISON 2021/2022 am Stadttheater Bremerhaven feierlich eingeläutet.